Parlamentswahlen in Frankreich: Die Grenzen der demokratischen Fata Morgana
Resolution verabschiedet an der Delegiertenversammlung der JUSO Schweiz vom 28. September 2024 in Giubiasco
Nach dem Sieg der Nouveau Front Populaire (NFP) bei den französischen Parlamentswahlen 2024 steht die institutionelle Politik Frankreichs an einem Wendepunkt. Die vermeintliche republikanische Einheitsfront, die die Front National im zweiten Wahlgang besiegt hatte, zerbrach schnell, und der neue Premierminister steht politisch weiter rechts als die vorherige Regierung. Diese Resolution befasst sich mit den Ergebnissen der französischen Parlamentswahlen 2024 und den Lehren, die daraus zu ziehen sind.
Seit den Wahlen im Jahr 2022 hatte die Partei des Präsidenten eine relative Mehrheit im Parlament und regierte, indem sie regelmässig auf den Artikel 49.3[1] der Verfassung zurückgriff. Am Abend der Europawahlen am 9. Juni 2024, bei denen die rechtsextremen Kräfte in Frankreich als stärkste Partei hervorgingen, kündigte Präsident Emmanuel Macron die Auflösung des Parlaments an, was zu Neuwahlen führte. Der erste Wahlgang der Parlamentswahlen fand am 30. Juni statt, also drei Wochen nach der Ankündigung der Parlamentsauflösung.
Für die Neuwahlen schloss sich schnell ein breites Linksbündnis unter dem Namen Nouveau Front Populaire (NFP) zusammen. Die NFP vereinte unter anderem Europe Écologie-Les Verts, La France Insoumise, die Kommunistische Partei Frankreichs und die Sozialistische Partei. Auch die Neue Antikapitalistische Partei, vertreten durch Philippe Poutou und Olivier Besancenot, schloss sich dem Linksbündnis an.
Die NFP trat mit einem Programm an, das als „Programm des Aufbruchs“[2] bezeichnet wurde. Dieses Programm war zwar nicht antikapitalistisch, enthielt jedoch fortschrittliche Massnahmen, wie die Anhebung des Mindestlohns auf 1.600 Euro und die Verkürzung der Arbeitszeit.
Die Kampagne der NFP wurde von einer breiten Mobilisierung der Gewerkschaften, Organisationen und der Bevölkerung, einschliesslich der Schweizer Linken, begleitet.[3]
Nach dem ersten Wahlgang der Parlamentswahlen rief die NFP zu einer „republikanischen Blockade“ auf, also dem Rückzug der NFP-Kandidat*innen, die hinter der extremen Rechte und eine andere rechte Kandidatur auf dem dritten Platz gelandet waren. Diese „republikanische Blockade“ wurde von der Linken jedoch deutlich stärker befolgt als von der Rechten.[4] Insbesondere weigerten sich mehrfach Macron-nahe ihre Kandidatur, zugunsten anderer Kandidat*innen zurückzuziehen, was der von Macron verfolgten Strategie der Dämonisierung der La France insoumise (kurz LFI) entspricht. Durch den Rückzug der NFP-Kandidat*innen konnten mehrere Macron-Anhänger*innen ihren Wahlkreise gewinnen und ins Parlament einziehen.[5]
Nach dem zweiten Wahlgang erzielte die NFP ein historisches Ergebnis und wurde zur Wähler*innenstärksten Partei Frankreichs, ohne jedoch die absolute Mehrheit zu erreichen. Diese Mehrheit führte jedoch nicht zu einem Umsturz der Macht. Emmanuel Macron ernannte am 5. September einen Premierminister der Républicains, einer Partei, die der extremen Rechten nahesteht und im Parlament eine extreme Minderheit darstellt.
Trotz der positiven Resonanz, die die NFP hervorgerufen hat, ist es ihr bislang nicht gelungen, die Lebensrealitäten der Arbeiter*innenklasse nachhaltig zu verändern. Dafür gibt es zwei Hauptgründe: die Unterwerfung zumindest eines Teils der NFP unter die Interessen der Bourgeoisie sowie die strukturellen Beschränkungen, die einer konsequent linken Politik innerhalb der bürgerlichen Institutionen auferlegt sind.
Das erste Hindernis für einen echten politischen Erfolg der NFP ist ihre Zusammensetzung. Während die France insoumise, die noch nie regiert hat, keine Gelegenheit hatte, die Arbeiter*innenklasse zu verraten, gilt dies nicht für ihre Verbündeten in der NFP. Die französische Sozialistische Partei hat, wann immer sie an der Macht war, zur Verschlechterung der Lebensrealitäten der Arbeiter*innenklasse beigetragen und dadurch das Erstarken der extremen Rechten gefördert. Die Präsidentschaft von François Hollande, der von der NFP als Kandidat im 1. Wahlkreis des Départements Corrèze aufgestellt wurde, war beispielsweise geprägt durch das Arbeitsgesetz, das den Schutz der Arbeitszeiten reduzierte.
Der Verrat an den Zielen des NFP-Programms durch den rechten Flügel des Bündnisses begann nicht erst mit einer möglichen Regierungsbeteiligung. So deutete der Vorsitzende der französischen PS, Olivier Faure, bereits an, dass er bereit sei, das Programm in Frage zu stellen.[6]
Um ohne absolute Mehrheit regieren zu können, wäre die NFP auf die Unterstützung der Partei des Präsidenten angewiesen gewesen. Diese Mehrheit, die der NFP durch den Rückzug ihrer Kandidat*innen ein gutes Wahlergebnis ermöglicht hatte, steht jedoch einer Zusammenarbeit mit einer kämpferischen Linken eindeutig ablehnend gegenüber. Innenminister Gérald Darmanin forderte die PS sogar auf, sich von der NFP zu distanzieren, um in eine Koalition mit der Partei des Präsidenten eingehen zu können.[7]
Die Bourgeoisie verteidigt die Demokratie nur so lange, wie ihre Institutionen ihr die Kontrolle über die Macht sichern. Das Abrutschen der sogenannten „republikanischen“ Rechten in Richtung Faschismus ist offensichtlich. Ein jüngstes Beispiel hierfür ist die Spaltung der Republikaner infolge von Eric Ciottis Annäherung an den Front National.
Als Revolutionär*innen müssen wir aus der französischen Situation Lehren ziehen. Kompromisse mit der bürgerlichen Politik, selbst wenn sie sich als links bezeichnen, führen nur zu Stillstand und letztlich zu schlechteren Lebensbedingungen für die Arbeiter*innenklasse und zum Aufstieg des Faschismus.
Aber sie kann uns auch Hoffnung geben: Der NFP ist es gelungen, durch ein „Programm des Aufbruchs“ und die breite Zusammenarbeit verschiedener linker Akteur*innen – darunter Gewerkschaften, Bürger*innen sowie feministischen, Klima- und LGBTI+-Communitys – eine breite Mobilisierung zu erreichen. Dies gelang sogar in Teilen der Arbeiter*innenklasse, die sich historisch gesehen nur wenig politisch engagiert haben. Das Vertrauen der Arbeiter*innenklasse ist jedoch zu kostbar, um missbraucht zu werden. Es ist nun an der Zeit, diese Mobilisierungskraft weiter zu nutzen, denn der Sozialismus lässt sich nicht mit den Werkzeugen der Bourgeoisie verwirklichen.
Deshalb kämpfen wir für:
- Ein Ende der „republikanischen“ Bündnisse, die bürgerlichen Politiker*innen den Zugang zur Macht und damit zum Sozialabbau ermöglichen.
- Keine Wahlbündnisse mit Kräften, die eine antisoziale Politik unterstützt oder umgesetzt haben.
- Ein starkes Bündnis der linken Kräfte auf der Grundlage eines „Programms des Aufbruchs“.
[1] Artikel 49 Absatz 3 der französischen Verfassung ermöglicht es der Regierung, einen Gesetzestext ohne Mehrheit im Parlament mit einer Vertrauensabstimmung zu verabschieden.
[2] Aus dem Französischen übersetzt, die Originalformulierung ist “Programme de rupture”
[3] https://www.rts.ch/info/suisse/2024/article/la-gauche-suisse-unie-dans-le-soutien-au-nouveau-front-populaire-francais-28551412.html (09.09.2024)
[4] https://www.lemonde.fr/les-decodeurs/article/2024/07/02/legislatives-2024-pour-faire-barrage-au-rn-195-candidats-et-candidates-se-sont-deja-desistes-suivez-le-decompte-en-temps-reel_6245837_4355771.html (09.09.2024)
[5] Zum Beispiel Elisabeth Borne, ehemalige Premierministerin von Macron und Verantwortliche für die Rentenreform.
[6] https://www.revolutionpermanente.fr/Risque-de-discours-maximaliste-Olivier-Faure-prepare-deja-la-liquidation-du-programme-du-NFP (09.09-2024)
[7] https://www.rtl.fr/actu/politique/invite-rtl-legislatives-nous-pourrions-travailler-avec-le-ps-en-cas-de-rupture-avec-lfi-assure-darmanin-7900402519 (09.09.2024)
Bildquelle: Foto von Anna Hunko auf Unsplash