50 Jahre nach dem Ende der «Kinder der Landstrasse»: Jenische Anliegen anerkennen und unterstützen!

21.02.2023

Resolution verabschiedet an der Jahresversammlung der JUSO Schweiz vom 18. und 19. Februar 2023 in Bern (BE)

Die Jenischen sind die grösste Volksgruppe mit in Teilen nomadischen Lebensstil in der Schweiz, weitere Gruppen sind die Sinti*zze und die Rom*nja. Das früher für alle drei Gruppen oft verwendete Z-Wort wird in der Community als diskriminierend abgelehnt und deshalb nicht mehr genutzt.

Heute leben rund 35'000 Menschen mit jenischer Herkunft in der Schweiz, weitere geschätzte 65‘000 leben anderswo in Westeuropa. Seit 1998 sind die Jenischen in der Schweiz als nationale Minderheit anerkannt. Dies ist bisher in keinem anderen Land der Fall.

Wir fordern, dass die Schweiz sich als Vorreiterin für die europaweite Anerkennung der jenischen Minderheitengruppe einsetzt.

Oft werden Jenische auch als Fahrende bezeichnet. Nur noch rund 10% führen aber tatsächlich eine nomadische Lebensweise, weswegen dieser Begriff von den Betroffenen abgelehnt und auch vom Bund nicht mehr verwendet wird. Die tatsächlich noch fahrenden Jenischen arbeiten meistens als Messerschleifer*innen oder Altwaren- und Korbhändler*innen. Sie sind von Frühling bis Herbst in Gruppen in Wohnwagen unterwegs und richten sich dabei auf Durchgangsplätzen ein, die von kommunalen und kantonalen Behörden betrieben werden und minimale Infrastruktur aufweisen. Im Winter wohnen sie meist in fest installierten einfachen Unterkünften oder ihrem Wohnwagen auf einem Standplatz. Die eigene Sprache, Jenisch, wird nur mündlich praktiziert.

Rassismus, spezifischer Antiziganismus, gehört dabei schon lange zum Alltag der Jenischen und Sinti*zze in der Schweiz. Gerade vor dem Ausbau der Verkehrswege waren sie wichtig für die Versorgung der ländlichen Gebiete mit Waren, Dienstleistungen und Kultur. Diese Abhängigkeit und der andere Lebensstil führten bei der sesshaften Bevölkerung zu grossem Misstrauen. Antiziganistische Stereotypen verbreiteten sich und sind bis heute in der Gesellschaft verankert.

Auch Repression durch den Staat ist schon lange ein Problem. Insbesondere mit dem Aufkommen des modernen bürgerlichen Staates war die fahrende Bevölkerung den dem Staat ein Dorn im Auge, denn sie entzogen sich mangels eines festen Wohnortes seiner Kontrolle.

Die Repression fand im 20. Jh. ihren Höhepunkt: Zwischen 1926 und 1973 wurde mit Umerziehungsversuchen und Fremdplatzierungen ein Genozid an der Jenischen Bevölkerung versucht. Die als Kinder-Hilfswerk getarnte Organisation „Kinder der Landstrasse“ wurde von der Stiftung „Pro Juventute“ gegründet und staatlich unterstützt. Das antiziganistische Ziel war es, die fahrende Lebensweise auszulöschen und „die fahrenden Familien nach und nach in sesshaften aufgehen zu lassen“.

Rund 800 Kinder wurden von ihren Eltern geraubt und in Heimen und Anstalten interniert oder in Fremdfamilien platziert. Die zum Teil sehr willkürlich definierten betroffenen Bevölkerungsgruppen wurden mit Hilfe der Behörden und mit politischer Erlaubnis konsequent verfolgt. Aus Angst vor Kindesentzug sahen sich Jenische und Sinti*zze gezwungen, bei der Geburt auf medizinische Versorgung zu verzichten und ihre Kinder zu verstecken. Rassistische Theorien zur Vererbung negativer Stereotypen führten sogar zu Zwangssterilisationen von Frauen.

Nur durch wehrhafte Jenische und einen standhaften Beobachter-Redaktor konnten die Behörden und Pro Juventute dazu gedrängt werden, die Genozidbemühungen zu beenden. Zu Jahresbeginn 1973, also vor genau 50 Jahren, wurde „Kinder der Landstrasse“ aufgelöst. Es dauerte noch bis in die 80er-Jahre, bis die Schweiz mit der Aufarbeitung begann und sich 1986 ein erstes Mal entschuldigte. Die Taten des Vereins “Kinder der Landstrasse” wurden bisher nicht offiziell als Genozidversuch anerkannt oder strafrechtlich verfolgt.

Wir fordern die Aufnahme eines Strafverfahrens wegen Völkermord.

2016 verabschiedete das Parlament endlich ein Bundesgesetz zur Aufarbeitung der Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. 300 Millionen Franken wurden darin als Entschädigung für Betroffene vorgesehen, diese erhalten ausserdem Akteneinsicht. Die Zwangsmassnahmen sollen umfassend wissenschaftlich aufgearbeitet werden.

Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, jedoch bleibt noch vieles zu tun. Die Genozidbemühungen haben die Sprachtradition des Jenischen und die Überlieferung alter Traditionen unterbrochen. So müssen diese nun neu erlernt werden.

Wir fordern den Schutz und die Erhaltung der Jenischen Sprache.

Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD) sieht Handlungsbedarf. In Bezug auf die Situation der Jenischen, Sinti*zze & Rom*nja forderte das CERD die Schweiz auf, die Anstrengungen betreffend Bildungszugang und Erhalt von Sprache und Lebensweise zu verstärken. Auf der gesetzlichen Ebene muss insbesondere im Bildungswesen und der Raumplanung ihren Anliegen Rechnung getragen werden.

Wir fordern verstärkte Unterstützung und rechtliche Absicherung für Jenische, Sinti*zze & Rom*nja.

Insgesamt gibt es heute 47 Stand- und Durchgangsplätze in der Schweiz. Gemäss einer Studie werden bis zu 90 weitere Plätze benötigt. Die bestehenden Plätze sind ausserdem oft mangelhaft ausgestattet, bieten zu wenig oder überteuerte Stellplätze, sind lieblos gestaltet und nicht immer das ganze Jahr geöffnet. Zunehmend wird ausserdem das kulturell bedeutende offene Feuer verboten.

Neben den mangelnden Einrichtungen haben die fahrenden Gruppen weiterhin mit staatlicher Repression zu kämpfen. Videoüberwachung auf den Plätzen, regelmässige Polizeikontrollen, sowie langwierige Anmeldeverfahren legen der fahrenden Lebensweise Hürden in den Weg.

Wir fordern ein Ende der Repression und Überwachung auf Stand- und Durchgangsplätzen.

Ein positives Beispiel ist der Standort Rania bei Zillis, der durch die «Radgenossenschaft der Landstrasse» in Eigenverantwortung geführt wird. Er vereint einen Stand- und Durchgangsplatz mit einem öffentlichen Camping. Mit regelmässigem Kulturprogramm wurde er zu einem Ort der Begegnung zwischen Fahrenden und Sesshaften.

Wir fordern mehr selbstverwaltete Plätze in der ganzen Schweiz.

Gesellschaftlich leiden Jenische, Sinti*zze und Rom*nja heute noch unter antiziganistischer Diskriminierung. Dies zeigt unter anderem die erkennbare Zunahme der abwertenden und rassistischen Verwendung des Z-Wortes. Insbesondere SVP-Politiker*innen hetzen regelmässig gegen Jenischen, Sinti*zze und Rom*nja, sowie gegen Standplätze. In mehreren Fällen ist es dabei auch schon zu Verurteilungen wegen Rassendiskriminierung gekommen.

In der allgemeinen Schulbildung werden fahrende Volksgruppen nicht erwähnt oder nur gestreift. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte würde zum Abbau antiziganistischer Stereotypen und mehr gesellschaftlicher Anerkennung führen.

Wir fordern schulische Aufklärungsarbeit zu Jenischen, Sinti*zze und Rom*nja, sowie dem versuchten Genozid.

Nicht zu vergessen ist die sesshafte jenische Mehrheit. Zu ihnen gibt es noch weniger Forschung als zu den fahrenden Bevölkerungsteilen und kaum Informationen. Aus den bestehenden Studien wird aber klar, dass die sesshaften Jenische, Sinti*zze und Rom*nja sozial und wirtschaftlich marginalisiert werden. Armut, Bildungs- und insgesamt Chancendefizite sind üblich.

Wir fordern eine Studie zur Lage sesshafter Jenischer, Sinti*zze und Rom*nja und verstärkte systemische Unterstützung für selbige.

Kämpfen wir gemeinsam und solidarisch mit allen Minderheiten gegen jegliche Diskriminierung!


Quellen: