Gegen autoritäre Klientelpolitik und neoliberale Zerstörung – Solidarität mit dem Widerstand in Serbien!

19.05.2025

Resolution verabschiedet an der Delegiertenversammlung der JUSO Schweiz vom 17.05.2024 in Sierre (VS)

In Serbien protestieren seit mehreren Monaten hunderttausende Menschen – geführt von Student*innen – für Gerechtigkeit, Aufklärung der Hintergründe und Wandel. In dem tragischen Einsturz am Bahnhof Novi Sad Ende 2024, bei dem 16 Menschen ums Leben kamen, sehen viele Menschen ein weiteres Versagen des korrupten politischen Systems.

Die Protestbewegung richtet sich mit ihren Forderungen gegen ein System, das auf Klientelismus, Neoliberalismus und Repression basiert. Die soziale und politische Situation in Serbien ist nämlich Ausdruck einer besonders perfiden Durchsetzung des Kapitalismus nach den 90ern Jahren und Zerstörung des Realsozialismus“: Weitgehende Privatisierungen und Schwächung des Sozialstaats auf Druck von EU, IWF und USAID, Kriege, Repression gegen Regimegegner*innen und eine fast vollständige Oligarchisierung der Medienlandschaft. All dies führte zu einem immer grösseren Verschwinden demokratischer Legitimität des politischen Systems in Serbien, Entfremdung der Bevölkerung und zum Aufkommen verschiedener Initiativen mit eigener Entscheidungsfindung gegen Projekte der Regierung. Zwei Beispiele dafür sind der Kampf gegen das Bailiff-Gesetz von 2011 sowie der Widerstand gegen den geplanten Lithiumabbau durch Rio Tinto.

Das „Gesetz über die Zwangsvollstreckung und Sicherung“ von 2011 öffnete die Tür für ein kommerzialisiertes Schuldenregime. Durch internationalen Druck – insbesondere von USAID – wurde das Gesetz im Rahmen neoliberaler „Justizreformen“ mit dem Versprechen verkauft, kleine Gläubiger*innen zu schützen, diente in der Praxis jedoch vor allem Grossgläubiger*innen Banken und Investor*innen. Als Folge verloren zahlreiche Menschen ihre eigenen Wohnungen, die sie in den 90er Jahren vom jugoslawischen Staat abkaufen konnten. Linke Gruppen, wie die Partei der Radikalen Linken (PRL) – mit der die JUSO im Austausch steht – unterstützten Schuldner*innenkollektive, Blockaden von Zwangsräumungen und klärten über die strukturellen Ursachen auf. In einem Artikel machten Aktivist*innen der PRL jüngst öffentlich, wie USAID durch legislative Einflussnahme aktiv zur Wohnungsnot und Verarmung beigetragen hat. [1]

Ein weiteres Beispiel ist der Widerstand gegen den geplanten Lithiumabbau in Westserbien. Das Vorhaben des multinationalen Konzerns Rio Tinto hätte ganze Landstriche verwüstet und Wasserressourcen kontaminiert. Die Protestbewegung einer breiten Allianz der Bevölkerung zwang die Regierung mit Blockaden, Grossdemonstrationen und zivilem Ungehorsam zur Rücknahme des Projekts. Mitte 2024 fing erneut eine Welle der Proteste an, deren Kampf weiterhin fortwährend ist, weil die Regierung, unter anderem auf Druck der Europäischen Union, erneut das Projekt entgegen ihren vergangenen Versprechen aufnehmen möchte.

Die erneute Aufnahme grösserer Proteste seit 2024 – sowohl gegen den Lithiumabbau als auch nun gegen das defekte politische System in Serbien – führte wiederum zu einer seit langer Zeit nicht gesehenen Schärfe des staatlichen Repressionsapparats, sei das z.B. durch Hackingangriffe von Handys zum Installieren von Spyware oder individuelle sowie kollektive Einschüchterung.[2]

In dieser Situation entwickelte sich seit dem Unfall von Novi Sad eine dezentrale, basisdemokratische Protestbewegung – getragen insbesondere von Studierenden und unabhängig von Parteien, NGOs oder ausländischer Finanzierung. Diese Distanz zu etablierten politischen Kräften sowie Strategien zum aktiven Verhindern einer Vereinnahmung der Protestbewegung durch oppositionelle bürgerliche Parteien (wie z.B. einem Verbot von Medienauftritten für Parteimitglieder oder einer Pflicht, von Gremien der Bewegung für solche medialen Auftritte, Erlaubnis zu erhalten) hilft der Bewegung mit Glaubwürdigkeit in einem stark von “der Politik” entfremdeten Land. Solidarität und Proteste gibt es somit nicht nur in urbanen Zentren, was für sonstige anti-Regierungsproteste in den letzten Jahren üblich war, sondern auch im ländlichen Raum, der sonst als “Bastion der Vucic-Herrschaft” wahrgenommen wird. Durch diese Strategie der Bewegung können auch die Versuche von Instrumentalisierung durch bürgerliche Oppositionsparteien bekämpft werden. Diese versuchen, sich als Akteur*innen der Proteste darstellen zu lassen und geben sich mit einer technokratischen Regierung zufrieden und versuchen, Student*innen davon zu überzeugen und somit die Bewegung zu schwächen. Die Unterstützung in der Bevölkerung versuchen ebenfalls nationalistische Gruppen zu ihrem Nutzen zu brauchen, um in der Gesellschaft weiterhin normalisiert zu werden, indem sie auf Demonstrationen erscheinen. Bisher hat die Bewegung auch leider wenig direkte Reaktionen gegen solche Geschehnisse gezeigt. Dies ist zwar mit der dezentralen Struktur dieser Bewegung auch schwieriger als bei zentralisierteren Protesten, jedoch sollte es auch bei dieser Form der Entscheidungsfindung thematisiert werden, wer bei den Protesten zugelassen wird, beziehungsweise was toleriert wird.[3]

An verschiedenen Orten, wie in Quartieren, bilden sich, meistens auf Initiative der Studierenden, Bürger*innenplenen. Am Anfang der Proteste wurden viele Entscheidungen der Studierenden in ähnlichen Plenen an den Hochschulen getroffen und sollen nun ebenfalls in den Wohngebieten unter der Bevölkerung stattfinden. Dafür sollen auch “zborovi” genutzt werden, ein gesetzlich verankertes Instrument lokaler Selbstverwaltung, das aus dem sozialistischen Erbe Jugoslawiens stammt. Diese lokalen Bürger*innenplenen welche in der konkreten Unterstützung und Weiterführung der Proteste helfen und die kollektive Entscheidungsfindung in weiteren Phasen unterstützen sollen, um sowohl die Solidarität für die Protestierenden als auch die Selbstorganisierung der Bevölkerung von unten aufrechterhalten und erweitern zu können.[4] Zur Organisation der Studierenden und der lokalen Bevölkerung kommen ebenfalls verschiedene Kampfmittel aus der Bevölkerung zum Einsatz wie Blockaden oder auch Solidaritätsstreiks sowohl von manchen Gewerkschaften als auch von spontan organisierten Streikkomitees.

In Serbien formiert sich derzeit eine Bewegung, die das Potenzial hat, das politische System von unten heraus zu verändern, auch wenn sie nicht im Kern die Frage des serbischen Kapitalismus und somit des Wirtschaftssystems, der zugrunde dieses politischen Systems liegt, hinterfragt. Sie inspiriert jedoch ebenfalls Proteste in anderen Ländern in der Region[5] und kann für uns eine wichtige Lehre sein, wie Selbstorganisation und Unabhängigkeit einer Bewegung funktionieren kann. Sie verdient nicht nur unsere Aufmerksamkeit, sondern auch aktive Solidarität. Diese Kämpfe sind Teil eines internationalen Kampfes gegen autoritäre Systeme und neoliberale Zumutungen. Als JUSO Schweiz erklären wir unsere Solidarität mit der Bewegung, suchen Austausch mit der PRL sowie weiteren serbischen Organisationen und fordern:

  1. Den sofortigen Stopp aller Repressionsmassnahmen in Serbien gegen Aktivist*innen, Protestierende, Streikende und Versammlungen sowie internationale Aufklärung der Anwendung von besonders harten Repressionsmitteln durch den Staat.
  2. Die aufgestellten Forderungen der studentischen Bewegung in Serbien:
  • Veröffentlichung aller Dokumente im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau des Bahnhofs von Novi Sad
  • Bestätigung der Behörden über die Identität aller Personen, bei denen der begründete Verdacht besteht, dass sie Student*innen und Professor*innen tätlich angegriffen haben, sowie Einleitung von Strafverfahren gegen sie inklusive Entlassung, wenn es sich um Angestellte des öffentlichen Dienstes handelt
  • Die Einstellung von Strafanzeigen gegen bei Protesten festgenommene und inhaftierte Studierende sowie die Einstellung bereits eingeleiteter Strafverfahren
  • Aufstockung des Budgets für die Hochschulbildung um 20 Prozent
  1. Keine Zusammenarbeit der Schweiz mit serbischen Repressionsbehörden im Bereich Überwachung oder Sicherheitszusammenarbeit und keine Unterstützung serbischer Institutionen, die Menschenrechte verletzen.
  2. Transparenz über alle Formen der Zusammenarbeit der Schweiz mit Serbien im sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Bereich.

[1] https://www.counterpunch.org/2025/03/13/how-usaid-makes-people-homeless-in-serbia/

[2] https://sozialismus.ch/international/2025/serbien-protestbewegung-gegen-korruption-neoliberalismus-und-autoritarismus/

[3] https://www.instagram.com/p/DHQ2tIkMbTE

[4] https://www.akweb.de/bewegung/im-plenum-fuer-den-rechtsstaat-proteste-in-serbien-wachsen-weiter-und-bringen-regierung-vucic-in-bedraengnis/

[5] https://www.woz.ch/2516/proteste-auf-dem-balkan/jetzt-uebernimmt-das-plenum/!B66CVD9KXWSR