Keine feministische Emanzipation auf Kosten migrantischer Frauen!

31.07.2024

Resolution verabschiedet an der ao. Jahresversammlung der JUSO Schweiz vom 29. Juni 2024 in Solothurn

Care Arbeit[1] ist absolut notwendig für den Erhalt unserer Gesellschaft. Doch die Schweiz befindet sich, wie viele andere Industriestaaten im globalen Norden, in einer Care-Krise. Die Nachfrage nach Sorge- und Pflegeleistungen kann nicht genügend gedeckt werden und gleichzeitig sind die Bedingungen, unter denen die bezahlte Sorgearbeit geleistet wird, so schlecht, dass sie zu enormen physischen und psychischen Belastungen führen, die gesundheitsschädigend und menschenunwürdig sind.

Die Care-Krise betrifft sowohl die bezahlte, als auch die unbezahlte Sorgearbeit und hat verschiedene Ursachen. Das kapitalistische System ist darauf angewiesen, dass FLINTA-Personen unbezahlte oder schlecht bezahlte Care-Arbeit leisten. Im bürgerlichen Modell der Kernfamilie geht der Mann arbeiten und kann so möglichst viel leisten, während seine Frau zu Hause die Care-Arbeit unbezahlt stemmt. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts verlangte die kapitalistische Wirtschaft mehr Arbeitskräfte, weshalb Frauen vermehrt einer Lohnarbeit nachgegangen sind. Gleichzeitig nahm mit dem Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung auch die Nachfrage nach Sorge und Pflegeleistungen zu. Durch diese Entwicklung entstand eine sogenannte „Sorgelücke“, weil gesellschaftlich zu wenig Care-Ressourcen zur Verfügung stehen. Als Folge wurde die Care-Arbeit in Haushalten mit den notwendigen finanziellen Mitteln zu Teilen auf schlecht bezahlte, meist migrantische, FLINTA-Personen verlagert. In Familien wiederum, die sich keine bezahlte Haushaltshilfe, Nanny oder Putzkraft leisten können, leiden FLINTA-Personen unter der doppelten Belastung der Lohnarbeit und der unbezahlten Care-Arbeit. Statt Care-Strukturen umzudenken und im Interesse aller aufzubauen, verlässt sich das System auf die Ausbeutung FLINTA-Personen, wobei migrantisierte FLINTAs am stärksten leiden.

Care-Migration

Aufgrund neoliberaler Sparmassnahmen und dem Kostendruck im öffentlichen Gesundheits- system, werden immer mehr Sorgeleistungen aus dem öffentlichen Sektor in die privaten Haushalte verlagert. Damit steigt die Nachfrage nach bezahlter Hausarbeit - also nach Putzkräften, Nannies und Altenbetreuer*innen - an. Entstanden ist dadurch ein Sonderarbeitsmarkt für Care-Migrant*innen. Viele davon sind Frauen aus (Süd-)Osteuropa oder Frauen aus Lateinamerika, letztere häufig ohne geregelten Aufenthaltsstatus. Die Anstellungsverhältnisse von Care-Migrant*innen sind weitgehend weder in Gesamtarbeitsverträgen noch mit genügenden gesetzlichen Vorgaben geregelt. Wegen diesem prekären Rechtsstatus und fehlendem sozialen Schutz, sind sie extremer Ausbeutung ausgesetzt. Die Arbeit in Privathaushalten ist auch einer der Arbeitssektoren in der Schweiz, in dem am häufigsten Menschenhandel vorkommt[2].

Care-Migrant*innen aus Osteuropa betreiben meist eine Art Pendelmigration: Sie arbeiten und leben einige Wochen bis Monate in der Schweiz im Haushalt einer pflegebedürftigen (oft demenzkranken) Person, kehren dann in ihr Herkunftsland zurück, um nach gewisser Zeit erneut in der Schweiz arbeiten zu kommen. Während ihrer Zeit in der Schweiz leisten sie eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung: Sie stehen auf Abruf bereit und erhalten im Gegenzug Kost und Logis. Ihr Einkommen ist meist sehr niedrig gehalten. Damit sind diese Frauen enorm abhängig von ihren Arbeitgeber*innen, denn ein Verlust der Arbeitsstelle würde automatisch auch einen Verlust der Wohnmöglichkeit bedeuten, einer der zentralen Gründe für die grosse Verbreitung von Menschenhandel in diesem Sektor. Hinzu kommt, dass viele dieser Frauen, abgesehen vom Kontakt zur Arbeitgeberfamilie, sozial isoliert sind und die Landessprache nicht gut beherrschen. In diesem starken Machtgefälle, durch die Isolation und fehlende finanzielle Mittel ist es für die Arbeiter*innen enorm schwierig ihre Rechte geltend zu machen oder Unterstützung in sozialen Netzwerken zu finden. Obwohl sich osteuropäische Care-Migrant*innen durch die EU-Personenfreizügigkeit legal in der Schweiz aufhalten, melden oft weder die Arbeitgebenden noch die Agenturen, die Beschäftigung dieser Frauen bei den Behörden. Dies führt dazu, dass sie keine sozialen Leistungen erhalten können und auch nicht kranken- oder unfallversichert sind. Doch auch Personen, die einen geregelten Aufenthaltsstatus und eine Arbeitsbewilligung haben, ist der Zugang zum Recht erschwert, einerseits durch die Kosten von eventuellen Verfahren, andererseits durch fehlendes Wissen über ihre Rechte im Arbeitsverhältnis. Zudem schützt auch ein geregelter Aufenthaltsstatus nicht vor Rückführungen - innerhalb der Personenfreizügigkeit ist eine Arbeitsstelle oder finanzielle Unabhängigkeit die Bedingung für das Aufenthaltsrecht in der Schweiz.

Sans Papier Care-Migrant*innen

Auch viele Sans-Papiers Care-Migrant*innen wohnen im selben Haushalt, wie die Person, die sie betreuen. Für sie ist die Abhängigkeit von ihren Arbeitgeber*innen nochmals verstärkt, denn ein Jobverlust bedeutet eine existenzielle Bedrohung. Sie können keinen staatlichen sozialen Schutz in Anspruch nehmen und sind auch bei der Suche nach einer neuen Arbeit und Wohnung enorm eingeschränkt. Die meisten Sans Papiers Care-Migrant*innen wohnen allerdings nicht an ihrem Arbeitsort und arbeiten in mehreren Haushalten gleichzeitig: im Schnitt bei rund 5, immer wieder aber auch bei 10 oder mehr. Für den Koordinationsaufwand der verschiedenen Arbeitsstellen und den weiten Arbeitsweg dazwischen, werden sie nicht bezahlt. Nicht selten kommt es außerdem vor, dass Aufträge kurzfristig abgesagt werden. Diese Tatsachen verlangen den Frauen nicht nur grosse Flexibilität ab, sondern führen insbesondere auch zu krasser ökonomischer Prekarität.

Die Arbeitssituation von Sans-Papiers Frauen in der Schweiz hat ausserdem erhebliche Folgen für ihre Gesundheit. Einerseits führt der harte Arbeitsalltag zu körperlichen Problemen, andererseits löst der Stress, verursacht durch die rechtliche Unsicherheit, in der sie sich befinden, nicht selten chronische Schmerzen oder psychische Gesundheitsprobleme aus.
Obwohl die Bedingungen unter denen sie arbeiten, sie krank machen, können sich Sans-Papiers Care-Migrant*innen krank sein nicht leisten. Wenn sie krank sind, fällt ihr Einkommen komplett weg, da sie nicht gegen Erwerbsausfall versichert sind. Weil sie ebensowenig sozial abgesichert sind und die wenigsten über Erspartes verfügen, bedeutet eine Krankheit eine existenzielle Bedrohung.

Globale Sorgeketten

Weltweit werden immer mehr Frauen zu Care-Migrant*innen, aufgrund von prekären Lebensumständen und fehlender Existenzsicherung in ihren Herkunftsländern. Dabei verlassen sie in den meisten Fällen ihre eigene Familie mit Kindern, für die wiederum auch gesorgt werden muss. Diese Arbeit übernehmen dann die Verwandten, Nachbar*innen oder Frauen aus noch ärmeren Verhältnissen in den Herkunftsländern. Das führt zu globalen Abhängigkeiten, welche man, analog zu globalen Produktionsketten, auch als “globale Sorgeketten” bezeichnen kann. Schlussendlich sind diese Abhängigkeiten ein koloniales Verhältnis: Anstelle von Rohstoffen wird ein soziales Gut, nämlich Sorgearbeit, von den westlichen Ländern des globalen Nordens angeeignet.

Die Care-Migrant*innen füllen die Sorgelücke, verursacht durch neoliberale Sparmassnahmen und den Sozialstaatsabbau, in den westlichen Ländern. Die Schweiz profitiert damit von der günstigen Arbeitskraft, während dessen soziale und kulturelle Reproduktion in den Herkunftsländern der Care-Migrant*innen geschieht. Nicht nur Erholung und Wiederherstellung der Arbeitskraft werden ausgelagert[3], sondern auch die Kosten der sozialen Sicherung[4]. Ebensowenig trägt die Schweiz Kosten für Ausbildungen, Erwerbsausfälle oder die Betreuung der Care-Migrant*innen im Alter. Die Care-Krise in der Schweiz wird somit, über den Mechanismus der globalen Sorgeketten, in andere Regionen ausgelagert.

Das kapitalistische System funktioniert nur dank der Ausbeutung weiblicher und migrantischer Arbeit

Die Reproduktion unserer Gesellschaft beruht vor allem auf weiblicher und migrantischer Arbeit, welche häufig unbezahlt oder unterbezahlt geleistet wird, denn der Kapitalismus ist darauf angewiesen. Solange die Frau im bürgerlichen Modell der Kernfamilie die Care-Arbeit unbezahlt stemmt, kann der Mann möglichst viel bezahlte Arbeit leisten, welche, im Gegensatz zur Care-Arbeit, einen hohen Profit abwerfen kann. Das bisherige Resultat der feministischen Bewegung in der Schweiz ist zwar, dass mehr weisse Frauen mit mittlerem oder hohem Einkommen einer Erwerbsarbeit nachgehen, dies aber auf Kosten migrantisierter Frauen. Anstatt dass die Schweiz und andere westliche Industriestaaten die gesellschaftliche Verantwortung für die benötigten Care-Dienstleistungen übernehmen, wird die Care-Arbeit auf migrantische Frauen abgeschoben. Das führt zu mehr Ungleichheiten zwischen Frauen und wertet Care-Arbeit weiter ab.

So darf es nicht weitergehen! Es braucht ein solidarisch aufgebautes und solidarisch finanziertes, flächendeckendes, qualitativ hochwertiges Netz an Care-Dienstleistungen. Care-Arbeit darf nicht weiter externalisiert werden, sondern muss re-internalisiert werden. Im Zentrum der Wirtschaft sollte das Wohlergehen der Menschen stehen, nicht der Profit für die Reichsten. Dazu müssen wir aus der Profitlogik des Kapitalismus ausbrechen und die produktive Arbeit auf den Umfang beschränken, der für die Aufrechterhaltung einer guten Lebensqualität der Gesellschaft notwendig ist. Indem wir die Arbeitswoche verkürzen, können wir die häusliche Care-Arbeit gleichermassen zwischen allen Geschlechtern verteilen. Wir brauchen ein System, in dem Care-Arbeit den nötigen Respekt und Platz bekommt und nicht darauf baut, dass migrantisierte FLINTA-Personen diese unter prekärsten Bedingungen leisten müssen.

Die JUSO Schweiz fordert daher:

  • Den solidarisch finanzierten Ausbau flächendeckender und qualitativ hochwertiger staatlicher Care-Dienstleistungen, dazu gehören Kitas, Tagesstrukturen und Pflegeangebote für betreuungsbedürftige Menschen.
  • Eine Arbeitszeitverkürzung auf 25 Stunden pro Woche bei gleichbleibendem Lohn.
  • Klare rechtliche Vorschriften für die Arbeitsbedingungen in privaten Haushalten und eine Stelle, die die Einhaltung dieser vonseiten Arbeitgeber und Agenturen konsequent kontrolliert.
  • Eine Beschwerdemöglichkeit, um fehlbare Arbeitgeber*innen zu melden, ohne den Aufenthaltsstatus zu riskieren.
  • Die Regularisierung aller in der Schweiz ansässigen Personen ohne Aufenthaltsbewilligung.
  • Bewegungsfreiheit und Niederlassungsrechte für alle Menschen und eine Entkopplung der Gewährung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Rechte vom Aufenthaltsstatus.
  • Transnationale soziale Sicherung (Gesundheit, Altersvorsorge, etc.) für Migrant*innen, die in mehreren Staaten und damit verschiedenen Sozialsystemen leben. Dafür braucht es u.a. eine Ausweitung der bestehenden Strukturen über die EU/EFTA-Staaten hinaus.

Quellen


[1] “Care-Arbeit oder Sorgearbeit beschreibt die Tätigkeiten des Sorgens und Sichkümmerns. Darunter fällt Kinderbetreuung oder Altenpflege, aber auch familiäre Unterstützung, häusliche Pflege oder Hilfe unter Freunden.” (https://www.bpb.de/themen/familie/care-arbeit/)

[2] Unter Menschenhandel versteht man die “Anwerbung, Beförderung, Transfer, Beherbergung oder Aufnahme von Personen, um sie unter Anwendung von Zwangsmitteln auszubeuten”. Betroffen sind meist migrantische Frauen. Viele entscheiden sich zwar “freiwillig” zur Migration, werden aber bezüglich Arbeitsmöglichkeiten oder Arbeitsbedingungen getäuscht. Einmal in der Schweiz angekommen, werden sie mit Drohungen, Gewalt oder wegen angeblicher Schulden gezwungen zu arbeiten und so ausgebeutet.

[3] Insbesondere bei Care-Migrant*innen aus Osteuropa, ist üblich, dass diese nach zwei bis drei Monaten Rund-um-die-Uhr Arbeitseinsatz in einem Schweizer Haushalt völlig “ausgepowert” sind und sich bei ihren Familien im Herkunftsland erholen müssen.

[4] Die Auslagerung der sozialen Sicherung findet sowohl auf die Frauen und ihre Familien statt als auch auf die Sozialsysteme ihrer Herkunftsländer.