Resolution verabschiedet an der Jahresversammlung der JUSO Schweiz vom 15. Februar 2025 in Bern.
In den letzten Monaten haben sich die Krisen in den französischen Kolonien gehäuft. Einerseits zeigen die Revolte in Kanaky[1], die Kaufkraftkrise in Guadeloupe und Martinique[2] sowie die Klimakatastrophe in Mayotte die Grenzen der rassistischen kolonialen Praktiken des französischen Staates. Andererseits wird der Neokolonialismus in Afrika, der durch das militärische Joch der französischen Stützpunkte gesichert wird, durch die Vertreibung der Soldat*innen aus dem Tschad, dem Senegal und der Elfenbeinküste angezweifelt.[3] Die dominierende Position Frankreichs ist stark geschwächt, und zahlreiche strategische, militärische und wirtschaftliche Interessen der französischen Bourgeoisie sind betroffen. Angesichts der Proteste reagiert die Metropolregierung, radikalisiert durch die immer näher an die Macht rückende extreme Rechte, mit Verachtung.[4] Die Aussagen der Macron-Regierung sind keine simplen Ausrutscher, sondern ein erneuter Beweis für den kolonialen Charakter der französischen Macht.
Die von der nostalgischen Rechten, die sich nach dem goldenen Zeitalter des französischen Imperialismus sehnt, nicht akzeptierte Realität ist jedoch folgende: Das Zeitalter des Kolonialismus ist vorbei. Die Nachkriegszeit war die Ära mit der höchsten Dichte an nationalen Revolutionen in der Menschheitsgeschichte.[5] Dennoch folgte darauf keine echte Befreiung der ehemaligen Kolonien, sondern eine neue Form der Abhängigkeit, die der aktuellen Phase des Kapitalismus entspricht: finanzielle Abhängigkeit kombiniert mit neuen kolonialen Strukturen. Das Völkerrecht erkennt über UNO-Resolutionen[6] beispielsweise das Recht auf Unabhängigkeit für koloniale Länder und Völker an, insbesondere für Mayotte[7], das völkerrechtlich als illegale Kolonie gilt. Doch das Recht basiert auf einer liberalen Weltsicht und garantiert lediglich Pseudo-Unabhängigkeiten, während Militärstützpunkte oder die kapitalistische Dominanz des globalen Nordens bestehen bleiben. Dies wird unter anderem durch internationale Finanzinstitutionen wie die Weltbank und den IWF ermöglicht, die mit finanziellem Druck die Märkte für ausländische Kapitalinteressen öffnen und es Kapitalist*innen aus dem globalen Norden ermöglichen, maximale Kontrolle über Land und Produktionsmittel in den ehemaligen Kolonien zu gewinnen.
Die Bindung an die ehemaligen Kolonien eines Staates mit imperialen Logiken führt zu verschiedenen Krisen, insbesondere in den sogenannten "Überseedepartementen". Ihr Status ist widersprüchlich: Diese Regionen gelten offiziell als Teil des französischen Territoriums, doch in der Praxis gibt es eine klare Ungleichbehandlung zwischen den kolonisierten Bevölkerungen und der Bevölkerung der Metropolen. Als der neue französische Premierminister François Bayrou in der Assemblée Nationale einen Ausrutscher hatte und sagte, dass Mayotte nicht zum Staatsgebiet gehört[8], dann liegt das daran, dass für die französische Rechte die Kolonien, selbst wenn sie den Status eines Departements haben, dem Kolonialreich untergeordnet sind. Einerseits wird von ihnen verlangt, sich dem Kolonialreich anzupassen und ihre Kultur sowie ihren Wunsch nach Autonomie zu verleugnen. Andererseits wird ihnen die volle Staatsbürgerschaft verweigert. Dies führt zwangsläufig zu einer unterschiedlichen Behandlung der französischen Bürger*innen entsprechend ihrer Herkunft. In Kombination mit der intensiven Ausbeutung von Land und Menschen in den Kolonien geht es daher nicht nur um Emanzipation und Selbstbestimmung der Völker, sondern auch um die derzeit katastrophalen Lebensbedingungen in diesen Gebieten.
Zwar hatten einige Bevölkerungen durch Unabhängigkeitsreferenden die Wahl, dem französischen Reich anzugehören oder nicht, doch diese Entscheidung war oft nur eine Fassade. Erstens sind Probleme mit der Wahlbeteiligung nicht zu vernachlässigen und haben zahlreiche Fragen und Empörung ausgelöst, wie etwa in Kanaky durch die Beschränkung des Wahlkörpers.[9] Zudem hat Frankreich zahlreiche Ressourcen aus seinen Kolonien geraubt und im Gegenzug nur minimal in Infrastruktur und soziale Auffangnetze investiert. Die Loslösung vom Kolonialreich würde für viele Kolonien und insbesondere für ihre politischen und wirtschaftlichen Eliten den Verlust der wenigen vorhandenen Vorteile bedeuten und sie möglicherweise einer noch grösseren Ausbeutung und Armut aussetzen, wie es im Fall eines Beitritts von Mayotte zu den Komoren ohne Entschädigung der Fall wäre.[10] Das System der Unabhängigkeitsreferenden ist daher, wenn es nicht durch eine Rückzahlung ersetzt wird, die der systematischen Ausbeutung der Ressourcen der Kolonien entspricht, nicht gerecht und dient nur der erzwungenen Aufrechterhaltung der imperialistischen Politik durch die Legitimation der Besetzung.
Daher betont die JUSO ihre uneingeschränkte Unterstützung und Solidarität mit allen Unterdrückten in ihrem Kampf gegen (neo)koloniale Unterdrücker*innen. Die JUSO fordert:
- Den Erlass aller kolonialen Schulden und die Rückzahlung einer finanziellen Summe, die dem durch ungleiche Handelsverhältnisse und imperialistische Ausbeutung geraubten Reichtum entspricht, um den betroffenen Bevölkerungen eine informierte Entscheidung über ihre Zukunft zu ermöglichen.
- Die Durchführung eines Selbstbestimmungsreferendums in allen französischen Kolonien, wobei das Wahlrecht allen, ausser den Kolonialist*innen, gewährt wird.
[1] https://www.humanite.fr/politique/colonialisme/letat-francais-na-rien-appris-de-lhistoire-en-kanaky-la-deportation-de-sept-independantistes-ravive-la-revolte
[2] https://www.liberation.fr/economie/social/en-martinique-les-manifestations-contre-la-vie-chere-et-les-blocages-de-supermarches-se-multiplient-20240912_FIDK37MPH5GXTCPZKGNKXFO3IY/
[3] https://www.monde-diplomatique.fr/telex/2024-12-France-Afrique-le-naufrage
[4] https://www.liberation.fr/politique/si-cetait-pas-la-france-vous-seriez-10-000-fois-plus-dans-la-merde-les-propos-de-macron-a-mayotte-ne-passent-pas-20241220_TFRN3C54CJA6VE36Q7BO6MG7II/
[5] Bantigny, L., Deluermoz, Q., Gobille, B., Jeanpierre, L. et Palieraki, E. (2023). Une histoire globale des révolutions. https://doi.org/10.3917/dec.banti.2023.02.
[6] https://www.axl.cefan.ulaval.ca/afrique/mayotte-1994-resolut-ONU.htm
[7] Anthony Goreau-Ponceaud, « Mayotte : État d’exception et colonialité du pouvoir », mshbordeaux.hypotheses, en ligne le 25/03/2024. https://mshbordeaux.hypotheses.org/8239
[8] https://www.liberation.fr/politique/outre-mer-quand-les-politiques-ont-un-peu-de-mal-avec-leur-geographie-20241220_EUWFTFMOYRFEDIP6GW3U6E4EPM/
[9] https://www.revolutionpermanente.fr/Pourquoi-le-vote-du-degel-du-corps-electoral-a-fait-exploser-la-colere-du-peuple-kanak
[10] https://www.mediapart.fr/journal/france/280423/mayotte-chronique-d-une-colonisation-consentie