Sozialversicherungen wie zu Gotthelfs Zeiten

02.06.2018

Positionspapier verabschiedet an der Delegiertenversammlung vom 02. Juni 2018, Neuchâtel.

Die Sozialversicherungen stehen unter Druck: Die AHV wird seit Jahrzehnten torpediert, IV-Bezüger*innen werden wie Schwerverbrecher*innen behandelt und die SKOS-Richtlinien[1] in den unterschiedlichen Kantonen werden zunehmend unterschritten[2]. Menschen, die auf den Sozialstaat angewiesen sind, werden stigmatisiert, ausgegrenzt und zunehmend prekarisiert. Diese Entwicklung ist das Resultat einer über 20-jährigen Kampagne der Rechtsbürgerlichen und speziell der SVP. Deren Narrativ lautet: Wer auf irgendeine Weise Staatsleistungen erhält, ist ein «Sozialschmarotzer» und gehört dafür abgestraft. Schuld an ihrer*/seiner* Situation ist sie* oder er* ganz alleine.

Dieses Narrativ ist nicht neu – ganz im Gegenteil, das Narrativ ist so alt wie die so genannte Armenhilfe selbst. Armenhilfe wurde das erste Mal in England zu Zeiten von Königin Elisabeth I. 1601 eingeführt und verbreitete sich dann rasch in ganz Europa. Die sogenannten Armengesetze garantierten den Menschen in Not das Minimum zum Überleben. Demütigende öffentliche Prozesse entschieden darüber, ob Menschen Anrecht auf die durch Armensteuer finanzierte Armenhilfe hatten. Wer sie erhielt, wurde mit einem P (Poor) gekennzeichnet, schikanösen Regeln unterworfen, in gefängnisähnliche Armenhäuser gesteckt[3] und durch «Anreize» animiert, möglichst schnell wieder selber für sein Überleben aufzukommen. Armut galt als Charakterschwäche. Wer arm wurde, obwohl arbeitsfähig, wurde (wird, sic!) stigmatisiert und ausgegrenzt.

Dieses unmenschliche System kam während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert an seine Grenzen. Die Anzahl Menschen in Europa wuchs rasant, viele zogen in die Städte, um Arbeit zu finden und es veränderte sich so nicht nur die Arbeitsweise, sondern auch die Struktur der Gesellschaft. Die Familie und die Dorfgemeinde, die vorher massgeblich für die soziale Absicherung ihrer Mitglieder zuständig waren, waren zunehmend nicht mehr in der Lage, diese Rolle als Auffangnetz wahrzunehmen. Auch neue Arten von Armutsgefährdung wie Alterung kamen auf, was zu einer zusätzlichen Überlastung des Armenwesens führten.

Der liberale Staat überliess diese Aufgabe zu Beginn privaten Institutionen wie Gewerkschaften und der Kirche, die die desaströsen Zustände, in der sich die Arbeiter*innenklasse grossteils befand, aber nicht zu bewältigen vermochten.

Diese Umstände – Armut, Elend, katastrophale hygienische Zustände, kurz Verelendung – sowie natürlich die Bildung einer neuen Interessengruppe durch die Industrialisierung selbst, bildeten dann auch der Nährboden für neue politische Bewegungen: Vor allem die sozialistische, aber auch die gewerkschaftliche Bewegung.

Unter dem politischen Druck dieser neuen Bewegungen wurden zuerst in Europa und dann ganz langsam auch in der Schweiz Sozialversicherungen (AHV, IV, Arbeitslosenversicherung, Mutterschaftsversicherung, etc.) eingeführt. Diese unterschieden sich von dem bisherigen Armenwesen insofern, dass es einen Wechsel gab vom Almosenmodell hin zu einer Daseinsvorsorge, die die Risiken des Erwerbslebens abdecken sollte und in den meisten Fällen auf einer (solidarischen) Versicherungslogik basierte, sowie auf einem individuellen und durchsetzbaren Rechtsanspruch.

Nun dreht sich der Wind aber wieder: Der zu Beginn angesprochene Diskurs aber auch die politische Praxis der Rechtsbürgerlichen in der Schweiz geht immer weiter in Richtung der sogenannten «Eigenverantwortung», weg von solidarischen Versicherungen zurück in die Almosenlogik. Dass Armut und Arbeitslosigkeit systembedingt sind, wird nicht wahrgenommen. Wer wirklich will, so der bürgerliche Mythos, der kann arbeiten und muss nicht der Gesellschaft auf der Tasche liegen.

Dieser Diskurs führt zu einer Ausgrenzung, Stigmatisierung und laufenden Entrechtung der Menschen, die Sozialversicherungen beziehen und stellt alle anderen unter Generalverdacht. Damit wird ein gesellschaftliches Klima der Angst und des Misstrauens geschaffen, welches wiederum neuen Nährboden für die Politik der Rechtsbürgerlichen bietet. Ganz wie zu Gotthelfs Zeiten.

Zu den Ursachen der «Arbeitsunfähigkeit»

Arbeitsunfähigkeit ist nicht selbstverschuldet – sondern Teil des Systems.

Das kapitalistische System fördert eine «Reservearmee», also Menschen, die arbeitslos sind, nicht nur, sondern – wie Karl Marx aufgezeigt hat – es ist sogar darauf angewiesen.[4] Denn dank dieser «Reservearmee», können Lohn und Arbeitsbedingungen gedrückt werden. Es besteht nämlich stets ein Konkurrenzkampf zwischen den Menschen, die eine Stelle (bei der sie ausgebeutet werden) haben und solche, die eine bräuchten, um über die Runden zu kommen. So haben Kapitalisten gar ein Interesse daran, die Anzahl Arbeitsstellen gesamthaft tief zu halten. Denn, ganz nach dem Motto «teile und herrsche» dient eine gespaltene Arbeiter*innenklasse denen, die die Macht haben.

Wer nicht genügend leistet, wird entlassen, zugunsten von anderen. Und Menschen, die im kapitalistischen Sinne nicht «genügend leisten» gibt es viele: Menschen, deren körperliche Verfassung es nicht zulässt wegen Krankheit oder körperlicher Beeinträchtigungen, Schwangerschaft oder Alter u.ä. Solche Menschen werden dann, zusätzlich zu denen, die aufgrund der Stellenknappheit nicht angestellt werden, vom Staat abhängig.

Das Abschieben dieser Menschen auf den Staat, ist die «Lösung», die man sich überlegt hat, um den so genannten Risiken des Erwerbs entgegen zu wirken, zusammen mit zahlreichen «Integrationsmassnahmen» und «Wiedereingliederungsmassnahmen», um Menschen wieder «arbeitsmarkttauglich» zu machen.

Der Trend in der Schweiz ist klar: Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht ins Arbeitssystem passen, werden rausgedrängt und auf den Staat abgewälzt. Gleichzeitig werden die Sozialleistungen gekürzt, die Bedingungen erschwert und die Menschen so abgeschreckt, von diesen Leistungen Gebrauch zu machen. Und wer diese Leistungen doch in Anspruch nimmt, muss einerseits zunehmend auf die eigenen Rechte verzichten. Sei dies nun das Recht auf Privatsphäre, aber auch das Recht auf Arbeitsschutz. Denn die Wiederintegrationsprogramme beinhalten nicht zuletzt die Annahme von Arbeit unter einem regulären Lohn. Andererseits müssen sie jedoch auch eine unter einer gesellschaftlichen Stigmatisierung und Ausgrenzung leiden, da nicht Erwerbstätige als “faul” gelten.

Es ist klar, dass unser Ziel darum eine Systemveränderung sein muss und nicht, die Menschen wieder systemkompatibel zu machen. Wir kämpfen für ein System, indem alle – nach ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten – ihren Anteil leisten können. Ein System, in dem nicht der Profit weniger, sondern die Interessen aller im Zentrum stehen.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich folgende langfristige Forderungen:

  1. Würdevolle Arbeit[5] für alle – jede*r nach ihren*/seinen* Bedürfnissen und Möglichkeiten.

Nicht die Menschen müssen sich den Arbeitsbedingungen anpassen, sondern die Arbeitsbedingungen den Menschen.

  1. Runter mit der Arbeitszeit und rauf mit den Arbeitsplätzen!

Es kann nicht sein, dass einige Menschen wegen dem zunehmenden Druck am Arbeitsplatz ein Burn-out erleiden und andere keine Arbeit finden! Eine massive Verkürzung der Arbeitszeit führt zu einer Zunahme der Arbeitsplätze.

  1. Ein System für die Bedürfnisse der Menschen!

Es braucht ein anderes System als den Kapitalismus. Ein System, das sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert statt am Profit weniger, das keine Menschen ausschliesst und allen ein Leben in Würde ermöglicht.

Das Schweizer Sozialversicherungssystem – ein Überblick

Leider sind wir noch nicht soweit, dass wir in einem System sind, das sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, statt am Profit. In der Zwischenzeit ist es wichtig, sich für die Verbesserung der Sozialwerke einzusetzen.

Dabei ist festzuhalten, dass die Einführung von Versicherungen stets erst auf Druck der Bewegungen auf der Strasse erfolgte – von der AHV bis zur Mutterschaftsversicherung (die erst 2005 eingeführt wurde). Sie alle sind somit Zugeständnisse der Kapitalisten an die Arbeiter*innenklasse. Doch – und das muss hier klar und deutlich gesagt werden – es sind eben Zugeständnisse und keine grundlegenden Veränderungen. Denn die Sozialversicherungen basieren im besten Fall auf einer Rückverteilungslogik, wie bei der AHV und im schlechtesten auf individueller Versicherungsbasis, wie bei den Krankenkassenprämien, die auf der unsozialen Kopfprämie basieren und die Reichen massiv begünstigen. Sie alle aber stellen das System nicht grundlegend in Frage.

Was heisst das nun für uns als sozialistische Partei? Dass wir den Kampf für bessere Sozialversicherungen über Bord werfen sollen?

Das darf keine linke Antwort sein, denn es wäre nichts anderes als Verelendungstheorie. Wer sich vor Augen führt, wie es der Arbeiter*innenklasse vor der Einführung der Sozialversicherungen ging, dem ist klar, dass wir nicht dorthin zurück wollen und sich der Kampf für die Verbesserungen der Lebensbedingungen der Arbeiter*innen stets lohnt.

Die Devise muss Reform und Revolution sein. In jedem Kampf für Sozialversicherungen muss stets die Verteidigung der Arbeiter*innenklasse im Vordergrund stehen, ohne die Chancen, aufzuzeigen, dass dieses System überwunden werden muss, zu verpassen. Wir müssen die sozialen Errungenschaften der Arbeiter*innenbewegung verteidigen und jede Gelegenheit nutzen, sie auszubauen.

Und dieser Schutz und der Ausbau sind dringend nötig. Die zunehmende Auszahlung von Dividenden statt von Löhnen ist eine Herausforderung für die Sozialwerke, denen so eine Einnahmequelle fehlt, da Dividenden im Gegensatz zu Lohn nicht sozialversicherungspflichtig sind. Weiter reichen die Löhne nicht mehr zum Leben, die prekarisierten Arbeitsstellen nehmen markant zu. Dies führt dazu, dass viele Menschen trotz einer Erwerbstätigkeit, auf Hilfe aus der Staatskasse angewiesen sind.[6]

Das zu Beginn des Papiers erwähnte Narrativ und dessen zugrundeliegende Politik zeigen ihre Wirkung: An allen Ecken wird im Sozialwesen abgebaut und die Menschen in die Armut getrieben. Zum Beispiel werden Menschen systematisch aus der IV in die Sozialhilfe gedrängt, dies durch Kürzungen der Rente aber auch durch direkte Rauswürfe aus der Invalidenversicherung. Aber auch die AHV-Renten reichen schon lange nicht mehr für ein Leben in Würde. Ein grosser Teil der Rentner*innen ist auf Ergänzungsleistungen angewiesen, um über die Runden zu kommen.

Das kann nicht sein. Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle ein Leben in Würde führen können. Unabhängig von ihrer Kompatibilität im System.

Grundlegende, kurzfristige Forderungen

  1. Besteuerung von Kapitaleinkommen – und zwar gerecht

Alle Einkommen, die in der Schweiz erwirtschaftet werden, müssen gerecht besteuert werden, um so allen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Zu diesem Zweck sollte die 99%-Initiative umgesetzt werden.

  1. Mindestlohn

Löhne müssen zum Leben reichen – es kann nicht sein, dass Menschen trotz Arbeit nicht über die Runden kommen. Dazu braucht es einen Mindestlohn von minimal 70% des Medianlohnes.

  1. Keine Zwangsarbeit

Menschen, die von Staatsgelder abhängig sind, werden gezwungen, Arbeiten auszuführen, die ihnen weder gefallen noch liegen. Ihre persönliche Freiheit wird dadurch eingeschränkt. Niemand darf gezwungen werden, eine Arbeit anzunehmen, die sie*/er* nicht ausüben möchte!

Forderungen im Bereich der Sozialwerke:

Altersvorsorge

  1. Einführung einer Volkspension und Abschaffung der ruinösen 2. Säule

Die Leistung der 2. Säule lässt seit Jahren zu wünschen übrig. Die gewinnorientierten Kassen schreiben Verluste und verspekulieren die Renten von Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet und einbezahlt haben. Die Einführung einer Volkspension würde bedeuten, dass alle Gelder für die Altersrente in die AHV fliessen würden. Dies ergäbe Renten für alle von über 4'000 Franken pro Monat.

  1. Keine Rentenaltererhöhungen

In einer Gesellschaft, die immer produktiver wird, das Rentenalter zu erhöhen und somit die Arbeitszeit zu verlängern ist schlicht stupid. Besonders störend sind dabei auch die Versuche, das Rentenalter der Frauen* zu erhöhen: Sie leisten den grössten Teil der unbezahlten Care-Arbeit, die essentiell für das Funktionieren unserer Gesellschaft ist. Die JUSO wird sich gegen jegliche Rentenaltererhöhungen wehren – falls nötig mit einem Referendum.

  1. AHV-Engpass bis 2030 mit Kapitaleinkommen überbrücken

Geld gibt es genügend in der Schweiz – es muss nur richtig besteuert werden. Mit der Annahme der 99%-Initiative könnten bis zu 10 Milliarden Franken Einnahmen generiert werden. Diese könnten für den AHV-Engpass bis 2030 verwendet werden.

  1. Ausdehnung der Betreuungsgutschriften in der AHV

Auch die Betreuung von älteren oder kranken Familienangehörigen muss berücksichtigt werden.

Invalidenversicherungen:

  1. Sofortiger Stopp aller Überwachungsmassnahmen

Alle Menschen haben ein Anrecht auf Privatsphäre – auch wenn sie vom Staat Geld erhalten.

  1. Renten, die zum Leben reichen!

In den meisten Fällen kommen IV-Bezüger*innen kaum über die Runde und sind daher auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Das ist nicht sinnvoll.

  1. Keine systematische Abschiebung von IV-Bezüger*innen in die Sozialhilfe

Weil die IV sparen muss, werden psychisch und körperlich beeinträchtigte Menschen mit fadenscheinigen Gründen in die Sozialhilfe abgeschoben, wo sie kaum noch rauskommen, weniger Geld erhalten und stärker kontrolliert werden. Das muss aufhören.

Sozialhilfe

  1. Die Sozialhilfe muss reichen für ein Leben in Würde

Eine tiefe Sozialhilfe führt nicht zu weniger Bezüger*innen, sondern erschwert das Leben derer, die darauf angewiesen sind.

  1. Kinder raus aus der Sozialhilfe!

Ein grosser Teil der Sozialhilfebezüger*innen sind Kinder und Jugendliche – meist von alleinerziehenden Müttern. Ihre Chancen aus einer solchen Situation rauszukommen, sind gering. Hier müssen sinnvollen Massnahmen ergriffen werden, um Menschen aus solchen Situationen zu holen.

  1. Keine Sozialdetektive!

Sozialhilfe beziehen zu müssen ist weder lustig, noch ist es ein Verbrechen. Daher sollten die Menschen, die Sozialhilfe beziehen auch nicht wie Verbrecher*innen behandelt werden.

  1. Keine Unterscheidung zwischen Menschen mit und Menschen ohne Schweizer Pass

Alle Menschen haben ein Leben in Würde verdient. Egal welche Passfarbe sie haben.

Mutterschaftsversicherung

  1. 2 Jahre Elternurlaub

Eine Mutterschaftsversicherung reicht nicht. Wir wollen, dass Pflegearbeit von beiden Elternteilen übernommen wird und dass auch Väter* die Chance erhalten, sich um ihre Kinder zu kümmern.

  1. Einführung eines Adoptionsurlaubs

Nicht immer ist ein neues Kind mit den gesundheitlichen Strapazen einer Geburt verbunden. Dennoch ist es für jede Familie eine grosse Umstellung und gerade in den ersten Wochen ist gemeinsame Zeit sehr wichtig. Deshalb fordern wir auch für diese Form der Familienplanung einen bezahlten Urlaub für die frischgebackenen Eltern.

Ergänzungsleistungen (EL)

  1. Abschaffung der EL

Die EL wurden als befristete Notlösung eingeführt. Wenn anständige AHV/IV-Renten ausbezahlt werden, braucht es keine Ergänzungsleistungen.

Arbeitslosenversicherung

  1. AHV-Überbrückungsrente

Für ältere Arbeitslose braucht es eine AHV-Überbrückungsrente bis zum Erreichen des ordentlichen Rentenalters.

  1. Korrekte Arbeitslosenstatistik

Jene, die nicht beim RAV angemeldet sind, müssen in der Arbeitslosenstatistik vom Seco endlich abgebildet werden.

Krankenversicherung

  1. Einkommensabhängige Prämien

Damit die Reichen endlich für Gesundheitsleistungen entsprechend ihrer wirtschaftlichen Fähigkeit zahlen und die Pflästerli-Politik mit den Prämienverbilligungen aufhört, braucht es einkommensabhängige Prämien.

  1. Öffentliche Krankenkasse

Um dem Profitdenken der privaten Krankenkassen endlich ein Ende zu bereiten und die Kosten im Gesundheitswesen zu senken, braucht es eine öffentliche Krankenkasse.

  1. Einführung einer obligatorischen Krankentaggeldversicherung

Im Krankheitsfall verlieren Menschen, welche keine teure Zusatzversicherung abgeschlossen haben oder durch einen Gesamtarbeitsvertrag speziell geschützt sind, nach wenigen Tagen das Anrecht auf Arbeitslosentaggelder, weil dieser Mensch dann nicht mehr als vermittelbar gilt. Deshalb ist eine obligatorische Krankentaggeldversicherung dringend notwendig, weil sie auch bei Erwerbsausfall durch Krankheit eine Lebensgrundlage bietet.

Unfallversicherung

  1. Stressbedingte Krankheiten anerkennen

Stressbedingte Krankheiten müssen einen Platz finden in der Liste der beruflichen Krankheiten.

Erwerbsersatzordnung (EO)

  1. Einführung eines Pflegeurlaubs

Es braucht die Einführung eines Urlaubs für pflegende Angehörige (Stichwort Care-Arbeit, welche meistens von den Frauen übernommen wird).

Sozialversicherungen für alle statt für wenige!

Die meisten Versicherungen in der Schweiz sind Erwerbsausfallsentschädigungen. Doch was ist mit den Menschen, die keine Erwerbsentschädigung erhalten? Namentlich vor allem die Frauen*, die unbezahlte Care Arbeit leisten? Sie haben kein Anrecht auf Entschädigung – weil sie ja nicht bezahlt werden für die Arbeit, die sie leisten. Auch ihr Einkommen im Alter ist dann an ein*e Partner*in gebunden, sie sind nicht gegen Krankheit versichert.

Die Sozialversicherungen, die es heute gibt, waren gut für den durchschnittlichen Mann ohne Migrationshintergrund und mit einer durchgehenden Biografie aus den 80ern. Also für geschätzt 20% der Bevölkerung.

Daher fordert die JUSO:

  1. Unbezahlte Care Arbeit mitdenken!

Hier müssen Lösungen erarbeitet werden, denn gerade Frauen*, die Zuhause gearbeitet haben, sind häufig Opfer von Armut. In den kommenden Reformen muss dieser Aspekt zwingend mehr Beachtung erhalten.

  1. Sozialversicherungen der Lebensrealität der Menschen anpassen!

Die Sozialversicherungen müssen sich den Biographien den Menschen anpassen und daher flexibel sein für unterschiedliche Lebensrealitäten.

Sozialversicherungen: eine Zukunftsperspektive

Die hier geforderten Massnahmen sind die nötigsten Schritte in den nächsten Jahren um ein existenzsicherndes Leben für alle zu garantieren.

Mittelfristig aber muss eine bessere Lösung für das Sozialsystem in der Schweiz hin. Wie der linke ThinkTank Denknetz schreibt: «Die sozialen Sicherheitssysteme der Schweiz gleichen einem ziemlich wirren Netz, an dem seit Jahrzehnten ohne Gesamtschau geknüpft wird. Es weist erhebliche Lücken auf. Unter anderem fehlen die obligatorische Abdeckung im Krankheitsfall und die Absicherung gegen das Armutsrisiko bei Pflichten in der Kinderbetreuung. [...] Die Veränderung in der Arbeitswelt – etwa die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse – verstärkt nun aber zusätzlich die Systemmängel, die bis vor kurzem eher wenig Relevanz hatten. Seit einigen Jahren werden zudem die Sozialwerke aus politischem Kalkül gegeneinander in Stellung gebracht.»[7]

Es braucht folglich eine umfassende Reform, die Lücken schliesst und zeitgemäss ist. Die JUSO fordert daher:

  1. Die Einführung einer Allgemeinen Erwerbsversicherung (AEV)

Die vor einigen Jahren vom ThinkThank Denknetz präsentierte Idee sollte unbedingt weiterverfolgt werden. Die AEV ist eine obligatorische Versicherung, die alle bisherigen Versicherungen in sich vereint. Sie ist für alle Menschen im erwerbsfähigen Alter, wird in Taggeldern ausbezahlt und wird zeitlich unbeschränkt ausgeschüttet. Zusätzlich zu heute sollten eine obligatorische Krankentaggeldversicherung sowie Familienergänzungsleistungen eingeführt werden.

Es solches System würde den administrativen Aufwand massiv senken. Zudem würde das Hin- und Herschieben von Menschen von einer Kasse zur anderen, aber auch das Ausspielen der einzelnen Kassen untereinander, endlich ein Ende nehmen.

  1. Die Einführung einer bedingungslosen Grundsicherung

Die Grundsicherung kommt dann zum Zuge, wenn das «Gesamt der anrechenbaren Einkommen eines Haushaltes die anerkannten Ausgaben nicht deckt». Und zwar unabhängig des Grundes, wieso dieses Einkommen nicht gedeckt ist.


[1] Die SKOS-Richtlinien definieren, wie die Sozialhilfe berechnet wird und mit welchen Massnahmen die soziale und die berufliche Integration der Betroffenen unterstützt werden kann. (Quelle: www.skos.ch/skos-richtlinien)

[2] https://www.basellandschaftlichezeitung.ch/basel/baselbiet/kuerzungen-der-sozialhilfe-sorgen-fuer-nationale-irritation-sogar-bundesrat-berset-kritisiert-baselland-132489810

[3] Wie Friedrich Engels in «Die Lage der arbeitenden Klasse in England» beschreibt.

[4] Arbeitslosigkeit entsteht: „aus der Konkurrenz der Maschinerie, Wechsel in der Qualität der angewandten Arbeiter, partiellen und allgemeinen Krisen.“ K. Marx, Kapital I, 568

[5] “Decent work”, wie das die International Labour Organization (ILO) nennt.

[6] 140’000 Working Poors gibt es momentan in der Schweiz, Tendenz steigend. (Quelle: BFS - Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC) 2016)

[7] Das Modell der Allgemeinen Erwerbsversicherung AEV und die Grundsicherung, November 2015