Es gibt nur eine Lösung gegen unsoziale und sexistische Rentenreformen: Streik und Mobilisierung!

03.05.2023

Resolution verabschiedet an der Delegiertenversammlung der JUSO Schweiz vom 22. April 2023 in St. Gallen (SG)

Wörter welche kursiv geschrieben sind, werden am Ende dieser Resolution im Rentenglossar erläutert.


Seit der Ablehnung der Rentenreform 2020 durch das Schweizer Stimmvolk ist der Bundesrat mit Unterstützung des mehrheitlich bürgerlichen Parlaments regelmässig mit den gleichen sozialabbauenden Massnahmen wie in der Rentenreform 2020, aber in separaten Paketen, zurückgekehrt. Unterstützt von einer Mehrheit der Medien haben die Bürgerlichen im Bundeshaus ihre Anstrengungen, der Bevölkerung Angst um die Zukunft ihrer Renten zu machen, nochmals verstärkt. So wurde die Erhöhung des Frauenrentenalters im Oktober 2022 an der Urne angenommen, vor allem dank dem überwiegenden JA der wohlhabenden Männer und dem (nicht eingehaltenen) Versprechen, dass die Frauen von der laufenden Reform der 2. Säule (Altersvorsorgegesetz, BVG) profitieren würden.

Während die Arbeitnehmer*innenbeiträge an die Pensionskassen in den letzten zehn Jahren um 10 % gestiegen sind, sind die Umwandlungssätze1 stetig gesunken. Auch die realen Renten unter Berücksichtigung der Inflation sind gesunken: Beispielsweise waren die neuen Medianrenten, die Männer im Jahr 2021 bezogen, um 8,5 % niedriger (230 CHF/Monat) als 20152.

1) BVG21: Ein weiterer Affront gegen Arbeiter*innen, insbesondere Frauen

Die jüngste Reform des BVG, die im März 2023 vom Parlament verabschiedet wurde ist ein erneuter Angriff auf die Rechte von Personen mit mittleren und niedrigen Einkommen, insbesondere von Frauen. Die bürgerliche Rechte ignorierte den Kompromiss der Sozialpartner, welcher nach der Ablehnung der Reform geschlossen wurde und drückte eine Reform der 2. Säule durch, welche die Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge bei gleichzeitiger Senkung der BVG-Renten vorsieht.

a) Senkung des Umwandlungssatzes und damit der Renten

Der Umwandlungssatz des gesamten während des Arbeitslebens angesparten Geldes in BVG-Renten wird von 6,8 % auf 6 % gesenkt. Für die Übergangsgeneration, d. h. für Personen, die innerhalb von 15 Jahren nach Einführung der Reform in Rente gehen, sind Ausgleichsmassnahmen vorgesehen. Aufgrund der strengen Zugangsbedingungen werden jedoch nur ein Viertel der Männer und weniger als die Hälfte der Frauen dieser Generation Anspruch darauf haben. Zudem wird die Rente von Personen, die nicht zu dieser Generation gehören und ein Einkommen von mehr als 4500 Franken haben, um bis zu 15 % sinken. Klar ist auch, dass jüngere Menschen wie wir, die heute beginnen, in die 2. Säule einzuzahlen, schlechtere Leistungen erhalten werden als unsere älteren Mitbürger*innen.

Die Senkung des Umwandlungssatzes wird mit der steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung begründet. Dieses Argument ignoriert nicht nur die steigende Arbeitsproduktivität, die die Lohnsumme anwachsen lässt, sondern auch die unterschiedliche Lebenserwartung in den verschiedenen Branchen und bei den Löhnen. So lebt eine Person, die in der Baubranche oder im Gesundheitswesen arbeitet, nicht so lange wie ein*e Akademiker*in, da erstere grösseren Gefahren ausgesetzt sind und weniger komfortable Lebensbedingungen haben3 . Das bedeutet, dass Menschen, die in schlechter bezahlten Branchen arbeiten, insbesondere Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund4, nicht einmal ihr gesamtes angespartes Alterskapital ausbezahlt bekommen, das in den Kassen der Versicherungen verbleibt und deren Gewinne antreibt. Die Rente der Betroffenen sinkt währenddessen.

Darüber hinaus werden Personen mit einem Einkommen von über 150’000 Franken nicht zur Finanzierung der Übergangsmassnahmen herangezogen, obwohl sie seit diesem Jahr nicht mehr dem Solidaritätsprozent in der Arbeitslosenversicherung unterliegen. Dies ist besonders skandalös, da dies genau die Bevölkerungsgruppe ist, die am wenigsten unter der Inflation leidet und das grösste Alterskapital hat.

b) Senkung der Mindestbeitragsgrenze und Erhöhung der Beiträge

Die Mindestbeitragshöhe (BVG-Eintrittsschwelle), die heute bei 22'050 Franken liegt, wird auf 19'845 Franken gesenkt. Das bedeutet, dass 70'000 Personen neu über das BVG versichert werden und 30'000 besser versichert werden. Die realen Renten dieser Personen, die Teilzeit arbeiten und sehr niedrige Löhne erhalten, werden sich aber bestenfalls erst in mehreren Jahrzehnten verbessern, und auch nur dann, wenn die Inflation niedrig bleibt. Denn die 2. Säule gleicht die Preissteigerung nicht aus. Das bedeutet, dass die realen Renten im Falle von Inflation nicht steigen, während die Zinswende seit 2022 das Guthaben der Reichsten wachsen lässt, das von den Pensionskassen oft in umweltschädliche Industrien wie in die Zement- oder Rüstungsindustrie investiert wird.

Der positive Effekt einer besseren Absicherung wird in der nächsten Zeit mehrheitlich durch die Senkung der Renten aufgehoben. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die Betroffenen auch nach der Pensionierung auf Ergänzungsleistungen angewiesen bleiben, um (über-)leben zu können. Die vergangenen Reformen der 2. Säule haben auch gezeigt, dass eine gleichzeitige Senkung des BVG-Umwandlungssatzes und der Zugangsschwelle dazu führt, dass das Gesamtnettoeinkommen für Menschen mit einem tiefen Einkommen über das gesamte Leben hinweg sinkt5: Ihre Löhne sinken aufgrund neuer Beiträge, ohne dass sich ihre Situation im Ruhestand verbessert.

​​​​​​​c) BVG heisst Verluste für Frauen

Im Rahmen der Kampagne zur AHV21-Reform hatte die bürgerliche Rechte versprochen, die Verluste für Frauen6 und Menschen mit tiefen Löhnen insgesamt im Rahmen der BVG-Reform auszugleichen. Doch wieder einmal hat sich gezeigt, dass man den Bürgerlichen nicht trauen kann. Obwohl die Hälfte der Frauen weniger als 4500.- Franken im Monat verdient, ein Gender Pay Gap von 18 % besteht, Frauen in Niedriglohnbereichen überrepräsentiert sind und 250'000 Frauen in der Schweiz von Unterbeschäftigung betroffen sind, hat das Parlament keine Sofortmassnahmen ergriffen, um die materiellen Bedingungen der Frauen im Ruhestand verbessern. Schlimmer noch: Da Personen mit niedrigem und mittlerem Einkommen am meisten unter dieser Reform leiden werden, bekommen sie die Erhöhung der BVG-Beiträge und die Senkung der Renten mit voller Wucht zu spüren.

Eine solch unsoziale Reform der 2. Säule, die auf dem Buckel der Frauen und Personen mit niedrigen und mittleren Einkommen lastet, wollen wir auf keinen Fall. Es gibt nur eine Lösung: die Unterstützung des Referendums gegen diese sexistische und unsoziale Reform und dementsprechend deren Ablehnung an der Urne – neben dem Kampf auf der Strasse.

2) Solidarität mit den Streikenden in Frankreich

Auch in Frankreich organisiert sich die Bevölkerung aktuell gegen eine ungerechte Rentenreform. Diese Reform zielt vor allem darauf ab, das Rentenalter bis 2030 von 62 auf 64 Jahre zu erhöhen, würde aber auch - bis 2027 - dazu führen, dass man 43 Jahre (oder 43 Annuitäten) arbeiten muss, um eine Vollrente zu erhalten. Weiter würde sie den sogenannten "Sonderregelungen" ein Ende setzen, dabei handelt es eigentlich um bessere Rentenregelungen in bestimmten Branchen, die in Vergangenheit durch soziale Kämpfe erkämpft wurden. Diese Reform ist zutiefst ungerecht, insbesondere bei einer Inflationsrate von 7 % (für Lebensmittel sogar 12 %!), während die Löhne stagnieren. Sie würde insbesondere prekarisierte Personen, auch hier wieder insbesondere Frauen treffen. So erhalten Frauen in Frankreich bereits jetzt 40% tiefere Direktrenten als Männer, und eine Berücksichtigung der gesamten beruflichen Laufbahn und nicht mehr der «besten Jahre» bei der Bestimmung der Rentenhöhe würde sie stark belasten. Was prekarisierte Personen anbelangt: 25 % der ärmsten Männer sterben vor dem 62. Lebensjahr und erhalten bereits heute keine Rente. Eine Anhebung des Rentenalters auf 64 Jahre würde bedeuten, dass fast 30 % der ärmsten Männer nie eine Rente sehen würden.

Seit Januar fanden zahlreiche Streiks und Demonstrationen gegen diese Reform statt. Da es in der Nationalversammlung keine Mehrheit für den Entwurf gab, griff die Regierung auf Artikel 49.3 der französischen Verfassung zurück, der ermöglicht, ein Gesetz ohne Abstimmung in der Nationalversammlung zu verabschieden. Nach dieser grafierenden Entscheidung flammten die Demonstrationen und Streiks wieder auf. Wir solidarisieren uns mit den Streikenden in Frankreich! Nein zur französischen Rentenreform!

3) Unsere Vision für ein solidarisches Rentensystem lautet Volkspensionskasse!

Wir wollen ein Rentensystem, das die Reproduktion von sozioökonomischen Ungleichheiten im Alter bekämpft. Die Finanzierung der Renten muss durch Solidarität bestimmt werden und nicht durch Privilegien aufgrund von Klasse, Geschlecht oder Hautfarbe. So lehnen wir das Prinzip eines kapitalgedeckten Rentensystems ab, bei dem die Privilegiertesten für schlechte Tage sparen können und die andern einfach Pech haben. Es ist höchste Zeit, dass die Reichsten endlich einen, ihren Mitteln entsprechenden, Beitrag für das Wohlergehen der Gesamtgesellschaft leisten. Alle verdienen ein gutes Leben im Ruhestand, und es liegt in unserer Verantwortung, dafür zu kämpfen, dass dies gewährleistet ist. Deshalb fordert die JUSO Schweiz:

Kurzfristig:

  • Die Unterwerfung von Kapitaleinkommen unter die Sozialversicherungsbeiträge.
  • Die Einführung einer Mindestrente von 5'000 Franken für alle.
  • Die Einführung eines nationalen Mindestlohns von 5'000.-, um die Finanzierung der 1. und 2. Säulen zu stabilisieren.
  • Die Wiedereinführung des Solidaritätsprozentsatzes für hohe Einkommen in der Arbeitslosenversicherung, um den Anstieg der Arbeitslosigkeit unter älteren Menschen auszugleichen, der durch die Erhöhung des Rentenalters verursacht wird.

Mittelfristig:

  • Die Abschaffung der 2. Säule und die Einführung eines volkswirtschaftlichen Rentensystems nach dem Umlageverfahren (und nicht nach dem Kapitaldeckungsverfahren).
  • Die Senkung des Referenzrentenalters auf 60 Jahre, damit die Produktivitätsgewinne über die gesamte Arbeitszeit verteilt werden können.

Renten-Glossar

Umwandlungssatz: Der BVG-Umwandlungssatz ist ein Prozentsatz, mit dem das während des Arbeitslebens angesparte Altersguthaben in eine jährliche Altersrente umgewandelt wird. Dieser Satz liegt derzeit bei 6,8 %. Wenn eine Person zum Beispiel 100'000.- für die 2. Säule gespart hat, dann bekommt sie 6800.- pro Jahr ausbezahlt. Dieser Satz ist ein gesetzlicher Mindestsatz und ändert sich im Laufe des Ruhestands nicht.

Koordinationsabzug: Der Koordinationsabzug dient der Bestimmung des Lohnbetrags, auf den die Beitragssätze der 2. Säule angewendet werden, oder anders gesagt, des koordinierten Lohns. Sein Ziel ist es, die AHV- und BVG-Beiträge zu koordinieren: Vom Bruttolohn werden zuerst die AHV-Beiträge und dann die BVG-Beiträge abgezogen. Der Koordinationsabzug beläuft sich derzeit auf 25'725 CHF. Es gibt einen minimalen koordinierten Lohn von 3'675.- CHF und einen maximalen von 62'475.- CHF. Wenn eine Person beispielsweise einen Jahreslohn von 30'000 CHF hat, werden die Arbeitnehmer*innenbeitragssätze auf den Betrag von 4275 CHF (=30'000- 25'725) angewendet.

BVG-Eintrittsschwelle: Um in die 2. Säule einzahlen zu können, muss man mindestens einen Lohn von Fr. 22'050 haben.

Reale Renten: Die Renten (AHV oder BVG), von denen der Einfluss der Inflation abgezogen wurde.

Lohnsumme: Summe der an die Arbeitnehmer*innen gezahlten Bruttolöhne und -gehälter ohne Arbeitgeber*innenbeiträge.

Pensionskassen: Vorsorgeeinrichtung, die sich mit der Verwaltung der zweiten Säule ihrer Versicherten befasst.

Ausgleichskassen: Ausführende Organe der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). Sie ziehen die Beiträge ein und zahlen die Versicherungsleistungen aus.

Annuitäten: Eine Annuität entspricht vier Quartalen der Altersversicherung. Dieses Mass wird in Frankreich von den Rentenkassen zur Berechnung der Rentenhöhe verwendet.

Kapitalgedeckte Rente: Ein individuelles System, bei dem eine Person während ihres gesamten Arbeitslebens Geld gespart hat, das sie am Ende ihres Lebens ausbezahlt bekommt.

Umlagefinanzierte Rente: Ein kollektives und solidarisches System, bei dem die Erwerbstätigen für die aktuellen Rentner*innen einzahlen, mit der Gewissheit, dass sie im Ruhestand vom selben System profitieren.

Arbeitsproduktivität: Das Verhältnis zwischen der Menge oder dem Mehrwert einer Produktion und der Anzahl der Stunden, die für ihre Herstellung benötigt werden. Die Arbeitsproduktivität ist in den letzten Jahrzehnten dank des technischen Fortschritts stark gestiegen: Das bedeutet, dass eine Person mehr und in kürzerer Zeit produzieren kann. Dies hat zur Folge, dass die Schwere der Arbeit zunimmt.

Inflation: Ein dauerhafter, allgemeiner und selbsttragender Anstieg der Preise für Waren und Dienstleistungen. Sie wird anhand des Verbraucherpreisindexes gemessen.


[1] https://finpension.ch/de/glossar/umwandlungssatz/

[2] https://www.uss.ch/fileadmin/user_upload/Dokumente/Medienkonferenzen/2018-06-04_Altersvorsorge/180604_MK_AV_SGB-TS_Lampart_F.pdf

[3] Caritas-Studie, "Arme sterben früher", 2002 (https://www.presseportal.ch/de/pm/100000088/100022028)

[4] https://www.swissinfo.ch/ger/wirtschaft/arbeit-und-zuwanderung_auslaender-sind-immer-weniger-in-tiefqualifizierten-berufen-taetig/43590696

[5] USS

[6] Wir sprechen hier strikt von Frauen, da alle existierenden Rentenstatistiken leider immer noch binär sind.