Resolution verabschiedet an der ao. Jahresversammlung der JUSO Schweiz vom 29. Juni 2024 in Solothurn
Ob auf der Flucht, im Asylprozess, mit oder ohne Aufenthaltsbewilligung, auf dem Arbeitsmarkt oder im Gesundheitswesen: Die Unterdrückung, welche geflüchtete und migrantisierte[1] FINTA-Personen[2] erfahren, ist von Mehrfachdiskriminierung geprägt. Rassismus, Misogynie und kapitalistische Ausbeutung überschneiden sich auf perfideste Weise und die Auswüchse des kapitalistischen Systems nehmen bei der Unterdrückung von migrantisierten FINTA-Personen ihre grausamste Gestalt an. Die Lebensrealitäten geflüchteter und migrantisierter FINTA-Personen werden unsichtbar gemacht und der Kampf um ihre Freiheit geht in der feministischen Bewegung oft vergessen. Diese Unsichtbarkeit gilt es als linke, konsequent feministische Bewegung zu bekämpfen und die Befreiung aller Unterdrückter dieses Systems anzustreben!
Lebensrealitäten migrantisierter FINTA-Personen in der Schweiz
Die Schweiz verzeichnet jährlich mehrere Tausend Asylanträge von Frauen, die in der Schweiz Schutz vor Verfolgung und Gewalt suchen. Die Fluchtursachen sind vielfältig und umfassen neben bewaffneten Konflikten und Verfolgung aufgrund von Glaube oder Ethnie auch geschlechtsspezifische Ursachen wie häusliche Gewalt, Zwangsheirat, Diskriminierung aufgund der Transgeschlechlichtkeit, Menschenhandel und sexualisierte Gewalt, die systematisch als Kriegswaffe benutzt wird. FINTA-Personen auf der Flucht sind besonders gefährdet und häufig Opfer von sexualisierter Gewalt und Überausbeutung. Während des Asylprozesses fehlt auf allen Ebenen eine Geschlechterperspektive, welche die besonders vulnerable Lage von geflüchteten und migrantisierten FINTA-Personen berücksichtigt. Das zeigt sich einerseits darin, dass geschlechtsspezifischen Fluchtgründen zu wenig Relevanz eingeräumt wird und andererseits bei der Unterbringung, Betreuung und Schutzgewährung von geflüchteten und migrantisierten FINTA-Personen.
Die Bedingungen in Asylunterkünften bieten oft nicht den nötigen Schutz; viele Frauen berichten von unzureichender Privatsphäre, mangelnden Sicherheitsvorkehrungen und vom Fehlen sensibilisierter Betreuung. Unsichere Aufenthaltsstatus führen zu prekären Lebenslagen, da geflüchtete FINTA-Personen somit nur eingeschränkten Zugang zu Arbeitsmärkten, Bildung und Gesundheitsdiensten haben. Diese Unsicherheit verstärkt ihre wirtschaftliche Abhängigkeit und macht sie anfälliger für Überausbeutung und Missbrauch.
Migrantisierte FINTA-Personen sind besonders stark von Armut betroffen. Studien zeigen, dass migrantisierte Frauen im Vergleich zu Schweizer Männern doppelt so häufig von Armut betroffen sind.[3] Diese Ungleichheit wird durch mehrere Faktoren verstärkt: mangelnde Anerkennung von beruflichen und universitären Abschlüssen aus anderen Staaten, Sprachbarrieren, eingeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt und diskriminierende Praktiken.
Ein wesentlicher Teil geflüchteter FINTA-Personen arbeitet in ungesicherten und schlecht bezahlten Jobs, oft im informellen Sektor.[4] Sie sind häufig in prekären Arbeitsverhältnissen tätig, die sich durch niedrige Löhne, fehlende soziale Absicherung und unzureichenden Arbeitsschutz auszeichnen. Solche Bedingungen führen oft zu Überausbeutung, überlangen Arbeitszeiten und schlechter Behandlung durch Vorgesetzte, bspw. in der Reinigungsbranche, häuslicher Sorgearbeit oder der Landwirtschaft. Gerade bei Sans-Papiers führt das zu totaler Abhängigkeit, da ihnen aufgrund der Illegalisierung keine Rechte zustehen. Dadurch haben sie keine Chance, sich gegen Ausbeutung zu wehren.
Die strukturelle Mehrfachdiskriminierung, die migrantisierte FINTA-Personen erfahren, manifestiert sich auch im Gesundheitswesen. Sie haben häufig eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung, da ihnen Hürden in Form von sprachlichen und kulturellen Anforderungen in den Weg gelegt werden. Rassistische Abwertungen und Stereotypisierungen durch medizinisches Personal sind für migrantisierte FINTA-Personen alltäglich. Gemeinsam mit fehlender Aufklärung und mangelnder Sensibilität für traumatische Erfahrungen verschlechtert diese Diskriminierung die gesundheitliche Versorgung dieser FINTA-Personen erheblich.
Die psychischen und physischen Folgen dieser systemischen Unterdrückung sind gravierend. Untersuchungen zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass migrantisierte Frauen psychische und physische Erkrankungen entwickeln, im Vergleich zum Rest der Gesellschaft deutlich höher ist. Beispielsweise erkranken migrantisierte Frauen viel häufiger an Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) oder an chronische körperliche Beschwerden.[5] Die ständige Unsicherheit, Isolation, Gewalterfahrungen und Sorge um die Zukunft tragen zu einer hohen psychischen Belastung bei.
Die Verantwortung und Versäumnisse der Schweiz
Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Interessen als Staat im imperialen Kern dieser Welt und ihres Strebens nach stetigem Wachstum und Profit, trägt die Schweiz Mitverantwortung für viele Fluchtursachen. So schreckt die Schweiz bspw. nicht davor zurück, durch Waffenexporte Kriege mitzufinanzieren, die geschlechtsspezifische Gewalt massiv verschärfen. Die Schweiz muss sich international dafür einsetzen, Fluchtursachen im Generellen, aber auch speziell geschlechtsspezifische Fluchtursachen, zu bekämpfen und diese nicht weiterhin zu verstärken. Die Schweiz trägt durch ihre restriktive Grenzschutzpolitik, ihre Beteiligung am unmenschlichen europäischen Asylsystem, ihre profitorientierte und imperiale Wirtschafts- und Aussenpolitik, sowie durch ihre ungenügende humanitäre Hilfe Mitverantwortung für die unsicheren und gefährlichen Fluchtwege nach Europa. Diese äusserst gefährlichen Zustände verschlechtern die Lage von FINTA-Personen auf der Flucht massiv, welche aufgrund von geschlechtsspezifischer Gewalt ohnehin schon sehr vulnerabel ist.
Die Schweiz hat Massnahmen zum Schutz von geflüchteten Frauen im Zusammenhang mit der Istanbul-Konvention entwickelt, die auf die Vorbeugung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen abzielt. Diese Konvention fordert umfassende Massnahmen zum Schutz, zur Unterstützung und zur rechtlichen Absicherung von Frauen, die Gewalt erfahren haben. Erst wenige nötige Massnahmen wurden umgesetzt und es bestehen noch erhebliche Lücken. Die Schweiz hätte jegliche Massnahmen längstens umsetzen sollen, denn in vielen Bereichen besteht dringender Handlungsbedarf. Dem Personal in Asylunterkünften fehlt es an nötiger Schulung und die Bereitstellung von Dolmetschdiensten ist ungenügend. Insbesondere hat es auch nicht ausreichend sichere Schutzunterkünfte sowie spezialisierte psychologische und rechtliche Unterstützung für FINTA-Personen. Die Schweiz muss hier deutlich nachbessern, um den Anforderungen der Istanbul-Konvention gerecht zu werden.
Strukturelle Mehrfachdiskriminierung und antikapitalistische Analyse
Eine antikapitalistische Perspektive ist notwendig, um die Lebensrealitäten migrantisierter FINTA-Personen in ihrer Gesamtheit zu begreifen. Der Kapitalismus und seine Profiteur*innen, vor allem im imperialen Kern, profitieren massiv von der Überausbeutung marginalisierter Gruppen, indem sie deren Arbeitskraft extrem billig ausnutzen und deren Rechte missachten. Migrantisierte FINTA-Personen werden in diesem System mehrfach unterdrückt: Die Überschneidung von Rassismus und Misogynie bildet eine strukturelle Mehrfachdiskriminierung, die zu verstärkter Unterdrückung und im Kapitalismus zur Überausbeutung migrantisierter Arbeiter*innen führt. Die kapitalistische Logik verstärkt zusätzlich ihre Prekarität, indem sie soziale Sicherungssysteme abbaut und Arbeitsrechte schwächt. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und Gleichberechtigung kann daher nicht ohne eine Kritik am kapitalistischen System gedacht werden, das Ungleichheiten vertieft und zementiert.
Um notwendige strukturelle Veränderungen zu schaffen, bedarf es eines systemischen Wandels, der antirassistische, feministische und klassenkämpferische Ansätze verbindet. Für reelle Verbesserung ist die Überwindung des Migrations- und Asylregimes, des Patriarchats und des Kapitalismus notwendig. Nur durch die Überwindung dieser Systeme und einer umfassenden gesellschaftlichen Transformation, die auf Solidarität und Gleichheit basiert, können die Lebenslagen migrantisierter FINTA-Personen nachhaltig verbessert und ihre Befreiung ermöglicht werden. Denn nur in einer Gesellschaft, die frei von kapitalistischer Ausbeutung, patriarchaler Unterdrückung und rassistischer Diskriminierung ist, kann wahre Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit herschen!
Kritik am weissen Feminismus und die Notwendigkeit eines intersektionalen Ansatzes
Weisser Feminismus, der die spezifischen Unterdrückungsmechanismen, die migrantisierte FINTA-Personen betreffen, nicht mitdenkt, ist unzureichend. Dieser Ansatz ignoriert die komplexen Überschneidungen von Rassismus, Misogynie und kapitalistischer Ausbeutung, die das Leben geflüchteter und migrantisierter FINTA-Personen prägen. Ein Feminismus, der sich nur auf die Belange weisser, westlicher Frauen konzentriert, verfehlt die Lebensrealitäten und Bedürfnisse einer grossen Anzahl von FINTA-Personen weltweit und schiesst an den Zielen der feministischen Bewegung völlig vorbei. Denn die Fesseln des Kapitalismus und des Patriarchats brechen nicht, wenn weisse, westliche Frauen ihre Karrieren verfolgen können!
Die feministische Bewegung - zu der auch die JUSO zählt - muss daher intersektional sein und alle Kämpfe gegen Unterdrückung mittragen. Dies bedeutet, dass feministische Aktivist*innen die spezifischen Herausforderungen anerkennen müssen, denen migrantisierte FINTA-Personen gegenüberstehen, und diese in ihren Aktivismus integrieren. Dafür muss bspw. die Zusammenarbeit mit Organisationen, deren Fokus auf den Kampf migrantisierter FINTA-Personen liegt, gestärkt werden. Wir müssen uns solidarisch organisieren und verbünden und den Kampf migrantisierter FINTA-Personen als essentiellen Bestandteil der feministischen Bewegung sehen und mittragen. Nur so kann eine wirklich gerechte und inklusive Bewegung entstehen, die alle FINTA-Personen einschliesst und eine echte Überwindung des Kapitalismus und aller Unterdrückungssysteme anstrebt. Wir sind erst frei, wenn alle von uns frei sind!
Forderungen
- Mehr und bessere Schutzunterkünfte bereitstellen: Es braucht mehr sichere, geschlechtsspezifische Unterkünfte mit ausreichendem Schutz und Privatsphäre.
- Personal schulen: Das Personal in Asylunterkünften sowie in anderen staatlichen Behörden muss für Themen wie geschlechtsspezifische Gewalt und Traumabewältigung geschult und sensibilisiert werden.
- Dolmetschdienste ausweiten: Die ausreichende Verfügbarkeit von Dolmetschdiensten in medizinischen und rechtlichen Kontexten muss sichergestellt werden.
- Rechtliche Unterstützung sichern: Geflüchtete FINTA-Personen müssen Zugang zu spezialisierter rechtlicher Beratung haben. Die entsprechenden Angebote müssen ausgebaut werden.
- Gesundheitsversorgung verbessern: Die gesundheitliche Versorgung, insbesondere der Zugang zu psychologischer Betreuung und spezialisierten Traumatherapien, muss ausgebaut werden.
Soziale und wirtschaftliche Absicherung
- Bildungsangebote bereitstellen: Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten für migrantisierte FINTA-Personen müssen umfassend bereitgestellt werden, um ihre beruflichen Chancen zu verbessern.
- Erwerbschancen erhöhen: Es braucht Programme für einen besseren Zugang in die Erwerbstätigkeit für geflüchtete FINTA-Personen, inklusive und kostenlose Sprachkurse und die Anerkennung ausländischer Qualifikationen.
- Ausbeutung bekämpfen: Die Arbeitsbedingungen migrantisierter FINTA-Personen müssen verbessert werden. Dazu gehören unter anderem die Einführung eines Mindestlohnes, die stärkere Kontrolle der Betriebe (insbesondere im informellen Sektor) und die Regularisierung von Sans-Papiers.
- Lohnabhängigkeit verringern: Die Sozialhilfe für nicht-Schweizer*innen muss auf das gleiche Niveau wie jene der Schweizer*innen angehoben werden. Die Höhe der Sozialhilfe muss eine würdevolle Existenz sichern.
- Politische Teilhabe ermöglichen: Alle in der Schweiz wohnhaften Menschen müssen das Stimmrecht erhalten (Einwohner*innenstimmrecht) und die politische Partizipation geflüchteter FINTA-Personen muss spezifisch gefördert werden, damit sie ihre Interessen besser vertreten können.
Perspektivischer und struktureller Wandel
- Fluchtursachen bekämpfen: Die Schweiz muss die Mitfinanzierung von Kriegen und Konflikten durch Waffenexporte stoppen, die geschlechtsspezifische Gewalt verschärfen. Sie sollte sich international dafür einsetzen, Fluchtursachen generell und insbesondere geschlechtsspezifische Fluchtursachen aktiv zu bekämpfen.
- Fluchtwege sichern: Die Schweiz muss ihre restriktive Asyl- und Grenzschutzpolitik umfassend verändern und sichere, legale Fluchtwege schaffen, um die gefährlichen Zustände für FINTA-Personen auf der Flucht zu bekämpfen.
- Asylrecht überarbeiten: Die Anerkennungsquote für FINTA-Personen muss erhöht und ihre geschlechtsspezifischen Schutzbedürfnisse besser berücksichtigt werden.
- Gesellschaft sensibilisieren: Förderung einer inklusiven und diskriminierungsfreien Gesellschaft durch Bildungsprogramme und Öffentlichkeitsarbeit.
- Kämpfe verbinden: Die feministische Bewegung muss durch die Einbeziehung der Perspektiven und Kämpfe aller FINTA-Personen, insbesondere migrantisierter FINTA-Personen, gestärkt werden.
- Systeme überwinden: Es braucht eine Überwindung des Migrations- und Asylregimes, des Patriarchat und des Kapitalismus um Diskriminierung zu beseitigen und die Rechte migrantisierter FINTA-Personen systematisch zu stärken. Siehe Positionspapier zu Rassismus.
[1] “migrantisiert” weist auf eine tatsächliche oder zugeschriebene Migrationserfahrung hin. Migrantisierung geht mit Prozessen der Rassifizierung einher und Praxen der Andersmachung, die Menschen zu Fremden machen.
[2] FINTA-Personen steht für Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen
[3]https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/nachhaltige-entwicklung/monet-2030/alle-nach-themen/10-ungleichheiten/armutsquote-migrationstatus.assetdetail.28325566.html
[4] Der informelle Sektor beschreibt wirtschaftliche Aktivitäten, die nicht registriert und kontrolliert werden, weshalb gesetzlicher oder gewerkschaftlicher Schutz fehlt.
[5]https://www.sem.admin.ch/dam/sem/de/data/publiservice/berichte/forschung/ber-gesundheitsmonitoring-d.pdf.download.pdf/ber-gesundheitsmonitoring-d.pdf