Noch sind wir nicht frei – für einen modernen Feminismus aus sozialistischer Perspektive

20.06.2015

Vorabschiedet an der Delegiertenversammlung der JUSO Schweiz vom 20.06.2015 in Genf.

Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Dies waren die Ideale der französischen Revolution. Endlich das Joch der Unterdrückung durch die Monarchie abwerfen, und alle Bürger vor dem Gesetz und vor einander gleichstellen. Aber nur die Bürger. Das neue Gesellschaftsbild galt nur für Männer, Frauen waren von den neuen bürgerlichen und politischen Rechten ausgeschlossen. Daran stiessen sich erste moderne Feministinnen wie Olympe de Gouges[1] - und es begann eine moderne Gleichstellungsbewegung, die heute über zwei Jahrhunderte umfasst.

Den Feminismus erklärt man heute historisch oft in drei Wellen. Zuerst kam die erste Welle, in welcher sich die Suffragetten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts für die ersten eigenen politischen Rechte einsetzten, ohne selber abstimmen zu dürfen. In der zweiten Welle, ab 1960, gewann die Gleichstellungsbewegung an Aufwind und konnte grosse Fortschritte verbuchen. Die neuen Themen waren Schwangerschaft, Abtreibung, Sexualität und Gewalt gegen Frauen. Rechte wurden gewonnen und Gleichstellungsartikel in den Gesetzen festgelegt. Als Resultat konnte sich der Glaube, dass der Feminismus seine Ziele erreicht hätte und obsolet sei, schnell verbreiten. Aus Widerstand dagegen zeichnete sich in den 1990er Jahren eine dritte Welle der Frauenbewegung ab, die sich gegen den Antifeminismus stellte und die Ideen der zweiten Welle auf moderne Umstände angepasst fortführen wollte. Punkiger, lauter und moderner kämpften die neuen Feminist_innen für eine Hinterfragung von Identitätskonzepten wie Geschlechtsidentität und Sexualität.

In der Schweiz ging alles etwas langsamer vonstatten als in anderen Teilen der Welt. Im frühen 20. Jahrhundert führte zuerst das klassenkämpferische Klima dazu, dass sich die bürgerliche Frauenbewegung loyal zum bestehenden Staat stellte und die Arbeiterinnenbewegung in den (männlich geprägten) Partei- und Gewerkschaftsstrukturen aufging. Danach förderten die Wirtschaftskrise und die wachsende Bedrohung durch den Faschismus einen gesellschaftlichen Konservativismus, in dem Frauenanliegen einen schweren Stand hatten. Erst Ende der 1960er Jahre hatte die Frauenbewegung genug vom geduldigen Abwarten, Bitten und Anpassen.[2] So wurde 1971 das Stimm- und Wahlrecht auf nationaler Ebene für Frauen gewonnen; der Mutterschaftsurlaub und der legale Schwangerschaftsabbruch liessen noch 30 Jahre länger auf sich warten.

Und doch war die Frauenbewegung in der Schweiz keineswegs untätig. 1991 organisierten Frauen in der ganzen Schweiz die grösste Demonstration seit dem Generalstreik von 1918: Den Frauenstreiktag vom 14. Juni. 500‘000 Frauen und zahlreiche unterstützende Männer gingen auf die Strasse, um für Forderungen wie die Lohngleichheit und Vereinbarkeit von Erwerbs- und Hausarbeit zu kämpfen. Die Opposition war stark, doch der Frauenstreik wurde zu einem grossen Zeichen des schweizerischen Feminismus.[3] Und doch sind seine Forderungen auch nach 20 Jahren nicht erfüllt.

Trotz seiner langen Geschichte ist also der Feminismus noch lange nicht obsolet. Im 21. Jahrhundert müssen wir als Sozialist_innen und Feminist_innen aber neue Themen diskutieren und Antworten auf neue Herausforderungen geben können.

Keine Befreiung der Frau ohne Sozialismus - kein Sozialismus ohne Befreiung der Frau

Die feministische Geschichte lässt sich nicht nur in Wellen, sondern auch in Strömungen unterteilen. Zwar kämpften bürgerliche Feminist_innen und sozialistische Feminist_innen früh beide für gleiche Rechte für alle Geschlechter - Bildungszugang, politische Reche, Selbstbestimmung -, doch in der Analyse versagte der bürgerliche Feminismus. Denn Sexismus, die systematische Andersbehandlung der Geschlechter, ist im Kapitalismus kein tragischer Nebeneffekt; er ist integraler Teil des Systems.

Erste patriarchale Strukturen entstanden schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte.[4] Aus sozialistischer Perspektive gibt es jedoch zwei bedeutende Momente. Erstens, die Entstehung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Die Werkzeuge und Gerätschaften für Fischfang, Jagd, Viehzucht, Ackerbau wurden Eigentum der Männer, und damit verfügten sie über die Macht, zu produzieren. Der Mann, der bei dieser Entwicklung im Vordergrund stand, wurde der eigentliche Herr dieser Reichtumsquellen.[5]

Zweitens, die Trennung von Reproduktions- und Produktionsarbeit. Im Aufkommen des Kapitalismus wurde die Produktion von Waren und damit die Mehrwert-produzierenden Tätigkeiten in weiten Teilen der Welt aus dem Haus ausgelagert – zum Beispiel in Büros und Fabriken. Dem Mann wurde nun die ausserhäusliche Produktionssphäre zugewiesen, der Frau die innerhäusliche Reproduktionssphäre. Gestützt und legitimiert wurde diese Teilung durch eine Neudefinition von „charakteristischen“ Eigenschaften und Geschlechterbildern. Frauen wurden emotional, weich und für harte Arbeit nicht geeignet; Männer wurden stark, hart und rational. Die Hierarchie war darin enthalten: Weiblichkeit ist zwar schön und nett, aber effektiv unnütz; Männlichkeit ist gewinnbringend und wichtiger für die Gesellschaft. Auch Biologie und Medizin arbeiteten ab diesem Punkt daran, die Andersartigkeit der Geschlechter zu untersuchen.[6]

Im Laufe der Zeit wurde aber auch die Wirtschaft auf die Frauen angewiesen. Als billiges, verfügbares Arbeitskräftereservoir wurden sie eingesogen und in vielen Bereichen gegen ihre männlichen Kollegen ausgespielt. Die unterschwellige Bewertung, dass sie weniger gut seien als Männer, blieb und zeichnet sich heute in Tatsachen wie der Lohnungleichheit ab. Gleichzeitig blieb die häusliche Sphäre grösstenteils bei den Frauen verankert. Sie leisten jährlich immer noch über 1.5 Mia. Arbeitsstunden an unbezahlter Care Arbeit, doppelt so viel wie die Männer in der Schweiz. Würde diese Arbeit mit marktüblichen Löhnen bezahlt, ergäbten sich daraus Arbeitskosten von über 53 Mia. Franken.[7] Frauen, die es sich leisten können, lagern diese Reproduktionsarbeit vermehrt an Putzpersonal und Kinderbetreuende aus. Dort arbeiten im Grossteil Frauen, häufig legal oder illegal migrierte, die nur einen sehr geringen Lohn beziehen. So weist der Haushaltsbereich neben dem Baugewerbe den grössten Anteil an missbräuchlichen Lohnzahlungen (Tiefstlöhnen) auf.[8]

Gleichzeitig wird Männern durch sozialen Druck und Unnachgiebigkeit ihrer Vorgesetzten allermeistens verwehrt, flexible Arbeitszeitregelungen zu finden oder Teilzeitstellen anzutreten, vor allem in traditionellen „Männerberufen“ und in höheren Positionen.[9]

Der bürgerliche Feminismus predigt uns hier, Frauen könnten doch alles haben und erreichen, wenn sie nur wollten. Er ignoriert also ganz bewusst, dass Sexismus im kapitalistischen System äusserst profitabel ist. Der Kapitalismus wird sich keine wahre Gleichstellung abringen lassen, da er an dieser zugrunde gehen müsste. Der sozialistische Feminismus ist der einzige, der sich konsequent für die Überwindung jeden Sexismus einsetzen kann.

Wir fordern:

  • Ausbeutung beenden. Die Lohnabhängigkeit grosser Massen von Menschen muss durchbrochen werden. Sie zwingt sie, sich unfreiwillig der kapitalistischen Logik von Ausbeutung zu unterwerfen und ihre Arbeitskraft unter allen Umständen zu verkaufen. Die einzige Lösung dieses Problems ist der Kampf gegen den Kapitalismus selber.
  • Aufwertung und Annerkennung von Care-Arbeit. Die Vereinbarkeit von Care-Arbeit und Beruf muss durch Einführung eines Pflegezeitgesetzes gefördert werden. Mit der Sicherstellung eines flächendeckenden, erschwinglichen, flexiblen und guten Angebots an institutionellen Betreuungseinrichtungen mit fairen Arbeitsbedingungen und genug Personal muss die Care-Arbeit anerkannt und aufgewertet werden.
  • Durchbrechen antiquitierter Rollenverteilungen. Es braucht einen Elternschaftsurlaub nach skandinavischem Vorbild, in dem jedem Elternteil ein Monat bezahlte Absenz zusteht, sowie die Eltern gemeinsam eine darauffolgende Zeitspanne (10 Monate Absenz) frei untereinander aufteilen können. In dieser Zeit fordern wir den vollen Lohnersatz. Auch braucht es mehr Möglichkeiten für alle Geschlechter zu flexiblen Arbeitszeitregelungen und Teilzeitstellen, falls sie diese wünschen.

Konsequent: Queerfeminismus

Doch im 21. Jahrhundert ist es nicht mehr länger tragbar, sich im Feminismus nur mit der unterschiedlichen Behandlung von Cis-Frau und Cis-Mann[10] zu befassen. Die gesellschaftlichen Normen, die wir im Sexismus spüren, sind weitgreifend und vielfältig und schliessen alle Personen aus, die sich ihnen nicht unterordnen und anpassen wollen. Hier muss unser Weg der Queerfeminismus sein, die Erkenntnis von Intersektionalität[11] und der Kampf für die Befreiung aller (A-)Sexualitäten, Gender-Identitäten und Lebensformen, die heute unter dem cis-sexistischen, heteronormativen Patriarchat[12] leiden.

Die Lage der LGBT*QIA-Comunity[13] hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert; die gesellschaftliche Akzeptanz hat sich scheinbar ausgeweitet, viele politische Forderungen wurden aufgenommen und offensichtliche Diskriminierungen haben abgenommen. Doch verschwunden sind sie nicht. Nur ein Beispiel sind die Hindernisse, die nicht-heterosexuellen Menschen noch immer bei der Eheschliessung und auch bei der Reproduktion erleben. Auch die subtile, versteckte Diskriminierung ist noch immer stark: Zum Beispiel werden insbesondere lesbische Frauen nicht ernstgenommen und ihre Sexualität als Methode zur Aufmerksamkeitsgewinnung dargestellt. Asexualität und Bisexualität werden oft selbst innerhalb queerer Kreise nicht als Lebensweise anerkannt. Trans*menschen haben mit extremen Vorurteilen und starkem sozialem Druck – oft auch aus der eigenen Herkunftsfamilie – zu kämpfen. Intersexuelle werden oft kurz nach der Geburt verstümmelnden Operationen unterzogen, somit zwangsweise einem Geschlecht zugewiesen, und oft jahrelang nicht über ihren Zustand aufgeklärt. Dies sind alles Themen, die in einem modernen Feminismus nicht länger ignoriert werden können.

Gleichzeitig bringt die Stärkung der LGBT*QIA-Bewegung neue Fragen auf das politische Parkett, wie die Dekonstruktion der Vorstellung von „Mann“ und „Frau“. Die Binärität von biologischem und sozialem Geschlecht sind nicht naturgegeben, sondern Produkte eines gesellschaftlichen Prozesses. Eine Überwindung des zweigeschlechtlichen, heterosexuellen Dogmas würde zu einer Machtprobe des Kapitalismus, der von der Unterdrückung und Ausbeutung eines Geschlechtes profitiert. In dieser Ordnung sind Lebensgemeinschaften von Menschen, die weder Mann noch Frau sind, schon aus einer rein wirtschaftlichen Abhängigkeit unduldbar. Unser Ziel sollte es sein, statt zwei Geschlechtern ein riesiges Spektrum an Geschlechtern in den gesellschaftlichen Mittelpunkt zu rücken. Jeder Mensch soll die Freiheit haben, sich in jedem Geschlecht, jeden Geschlechtern oder auch in keinem Geschlecht zu definieren. Gleichzeitig müssen wir anerkennen, dass wir heute alle in gewissen Geschlechtern sozialisiert wurden und als solche unsere Rolle im patriarchalischen System leben. Wir alle reproduzieren heute auf eine Weise die Rollenbilder und die Diskriminierung, die uns der patriarchale Kapitalismus seit Kindesbeinen eingeprägt hat.

Das heisst nicht, dass wir dagegen nicht ankämpfen können. Für uns ist klar, unser Feminismus muss immer auch queer sein. Darum fordern wir:

  • Geschlechter öffnen. Mehr und neue Optionen beim Geschlechtseintrag in staatlich-rechtlichen Dokumenten, zum Beispiel das Geschlecht X. Genauso muss die Möglichkeit bestehen, den eigenen Geschlechtseintrag und den eigenen Namen schnell und mühelos amtlich ändern zu lassen.
  • Abschaffung der institutionalisierten Ehe. Die Ehe ist ein überholtes Konstrukt, das wir auf lange Frist ablehnen. Sofortige Schritte müssen jedoch sein, dass die Ehe geöffnet wird für alle Paare aller Geschlechter und Konstellationen, und dass auch unverheiratete den verheirateten Paaren absolut gleichgestellt sind. Es darf keine Diskriminierung mehr geben bezüglich Adoption, Steuern, Reproduktionsmedizin, Sozialversicherungen und binationalen Partnerschaften.
  • Ein Ende der Diskriminierung. Eine Antidiskriminierungsnorm für queere Menschen und eine strenge Ahndung von Verleugnung, Herabsetzung und Diskriminierung von Menschen wegen ihrer (a)sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität. Ab sofort müssen schwule und bisexuelle Männer zur Blutspende zugelassen werden.
  • Eine moderne Aufklärung. Homo‐, Bi‐, Inter- und Asexualität sowie Trans*identität müssen als gesellschaftliche Realität auch in der Schule und in der Freizeit thematisiert werden.
  • Schutz und Anlaufsstellen. Der Bund muss Kampagnen zur Prävention von Selbstmord und Depression bei LGBT*QIA-Menschen fördern und finanzieren. Ebenso muss er Anlaufstellen für LGBT*QIA-Anliegen schaffen. Intersexuelle müssen ab dem Moment ihrer Geburt geschützt sein und dürfen keinen unfreiwilligen „Anpassungsoperationen“ unterzogen werden.

Für eine emanzipierte Sexualität, gegen die Sexualisierung des weiblichen Körper

Die markante Diskriminierung zwischen den Geschlechtern zeigt sich vor allem auch im Ausleben der Sexualität. Wie in vielen anderen Bereichen der menschlichen Gesellschaft geschieht das heute vor allem durch Normierung. Was guter Sex ist, was eine hübsche Frau ist, was ein hässlicher Mann ist, ist durch alle Bevölkerungsschichten und Klassen hindurch normiert. Eng verknüpft mit den Geschlechteridentitäten wird in der Öffentlichkeit ein heterosexuelles, binäres, männerzentriertes Bild von Sex abgebildet. Pornos, als ein Beispiel, zeigen in ihrer kommerziellen Form ein eindimensionales Bild, der Sex als Jagd nach männlichen Orgasmen portiert, in welcher die Frau ein​zig und allein Objekt der Sexualität und der Akt durch ständige Stellungungswechsel zu einer Performance wird. Der Mann wird als lustversessenes Tier dargestellt, dessen Sexualität zumeist gefährlich ist. Doch Pornos sind nur ein Gebiet, in welchem diese Vorstellungen abgebildet werden. Der öffentliche Diskurs ist geprägt durch diese beklemmende und vor allem einseitige Art der Sexualität.

In den Schulen wird die ausgewogene Sexualerziehung der nächsten Generation vernachlässigt, damit eine prüde Vorstellung von Bienchen-und–Blümchen-Sexualität und ein Ideal von Zweierbeziehungen vorgezeigt werden kann. Diese wird auch reproduziert in Mainstream-Literatur, -Film und -Musik. Im Kapitalismus wird auf diese Rollenverteilung gebaut. Denn nur bei monogamen Paaren in einer binären Konstellation kann die Reproduktionsarbeit an eine_n Partner_in ausgelagert und die zentralen Machtfragen dabei vermieden werden.

Unsere Vision von Sexualität in der Gesellschaft unterscheidet sich in allen Bereichen von derjenigen, die heute real vorhanden ist. Sexualität muss den Menschen weder vorgeschrieben, noch aufgezwungen werden. Jeder Mensch sollte seine eigene individuelle Sexualität ausleben dürfen, mit der einzigen Bedingung, dass darunter kein anderes Lebewesen zu Schaden kommen darf. Unter diesem Grundgedanken stützen wir auch Schutzmassnahmen wie das Schutzalter 16, solange sie verhältnismässig angewandt werden.
Doch nur mit dem Recht auf das Ausleben der Sexualität ist es nicht getan. Verschiedene sexuelle Orientierungen müssen in der Öffentlichkeit auch überall sichtbar, ausgewogen und breit vertreten sein. Sexualität oder auch Asexualität sind für viele Menschen ein Teil ihrer Identität und dürfen nicht länger als etwas Abnormales, Fremdartiges oder Gefährliches abgetan werden.

Sexualität und Zuneigung haben aber auch ihre Grenzen, nämlich dort, wo die Grenzen der Involvierten überschritten werden. Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe sind in unserer Gesellschaft noch immer schockierend normal und der Umgang mit ihren Opfern und Überlebenden ist oft stark von Sexismus geprägt. Die Grenzen der Menschen bezüglich gelebter Sexualität sind vielmals fliessend. Als Linke ist es für uns wichtig, klarzumachen, dass Sexualität immer freiwillig und willentlich geschehen muss. Nein sagen ist heute eine Aktion, die Mut braucht. Klarzustellen, dass etwas die eigenen Grenzen überschreitet oder überschritten hat, muss gesellschaftlich leichter gemacht und nicht durch Furcht vor Slut-Shaming[14] und Angst vor weiterer Aggression gehemmt werden. Sexualität muss immer in einem Miteinander geschehen.

Die strengen Normen bezüglich Sex betreffen besonders diejenigen, die damit alltäglich arbeiten. Sexarbeiter_innen werden in unserer Gesellschaft in die Verborgenheit gezwungen. Im politischen Umgang mit ihnen zeigt sich eine Entwicklung zur Prüderie. Die bürgerliche Politik tut so, als würde niemand Sexarbeit nutzen und als bräuchte sich niemand darum zu kümmern. Nach der Devise „Was wir nicht sehen, ist auch kein Problem“ zwingen sie Sexarbeitende mit Strichplänen in die Unsichtbarkeit. Sie müssen in Randzonen der Städte arbeiten, oft in Gebieten, wo eine hohe Kriminalität herrscht und sie einer grossen Gefahr ausgesetzt sind. Manche bürgerliche Politiker_innen, aber auch einige fehlgeleitete Vorstösse aus dem linken Lager, wollen die Sexarbeit sogar vollständig verbieten. Dieser Bewegung in Richtung Illegalität müssen wir entgegenhalten. Sexarbeiter_innen brauchen Schutz, regularisierte Arbeitsverhältnisse und Anlaufstellen, die sich konkret mit ihren Problemen auseinandersetzen.

Wir fordern:

  • Raum für alternative Sexualität. Eine zunehmende Darstellung von Sexualität, die nicht dem klassischen heterosexuellen Bild entspricht, musst gefördert werden. In der Schule muss über queere (A-)Sexualitäten und Geschlechteridentitäten aufgeklärt werden; nicht-heterosexuelle Sexualitäten brauchen zudem mehr Raum in den Medien. In der Pornoindustrie braucht es Reglemente zur fairen Produktion und ein neues Ziel für Ausgewogenheit aller Sexualitäten und Geschlechteridentitäten.
  • Ein Stopp der Diskriminierung und Reduktion der Frau. Insbesondere die Werbung darf nicht länger sexistische Rollenbilder oder die Sexualisierung von Frauen portieren, aber auch in der Schule müssen Sexismus thematisiert und Frauen als historische Figuren und Vorbilder im Unterricht behandelt werden.
  • Sexarbeit in den Mittelpunkt der Gesellschaft bringen. Sexarbeiter_innen verdienen regularisierte Arbeitsverhältnisse, Schutz und Absicherung. Sie sollen mit ihrer Arbeit nicht mehr länger an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, sondern sie und ihre Rechte müssen überall thematisiert werden. Ebenso braucht es effektive und konsequente Massnahmen gegen Menschenhandel und Menschen, die andere gegen deren Willen in die Sexarbeit bringen.

Moderner Sexismus: Offensichtliche und subtile Unterdrückung

Die grossen Medienkonzerne und bürgerlichen Politiker_innen predigen uns heute oft, dass alle Geschlechter schon längst gleichgestellt seien - Frauen könnten doch schon längst alles erreichen, wobei unter „alles“ primär Karriere und Familie gemeint sind. Als Beispiele dient dann eine Elite von einigen Frauen, die heute hohe Ämter in Wirtschaft und Politik innehaben. Tatsache ist, dass diese die Zwänge unserer kapitalistischen, patriarchalen Gesellschaft nicht durchbrochen haben, sondern lediglich deren Hürden an „niedrig gestellte“ Frauen ausgelagert haben. Die Nanny, die zu einem Hungerlohn für die scheinbar gleichgestellte, befreite Firmencheffin arbeitet, kann von der eigenen Freiheit nur träumen.

Die Grenzen der Gesellschaft bestehen aber nicht nur zwischen den Klassen; auch in ihrem Inneren existieren tiefe Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Es macht in unserer postmateriellen Gesellschaft einen Unterschied, ob wir nun als Frau oder Mann unterdrückt und ausgebeutet werden. Ein Beispiel bieten die Löhne: In der Schweiz verdienen Frauen 1‘800 Franken weniger im Monat als ihre Kollegen – davon sind 600 Franken direkt auf eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zurückzuführen.[15] Ein Zeichen von vielen dafür, dass Sexismus heute noch immer alltäglich ist. Auch bei der Berufswahl sind Geschlechterstereotypen spürbar; während Männer selten in Pflegeberufen arbeiten, gibt es kaum Frauen in technischen Berufen. Dies wiederum äussert sich durch eine ungleiche Verteilung von Geld und Status in unserer Gesellschaft. Während die traditionelle „Frauenarbeit“ stark unterbezahlt ist, kann in traditionellen „Männerberufen“ sehr viel mehr verdient werden. Zur neoliberalen Marginalisierung[16] des Körpers der Frau kommt also hinzu, dass Frauen öfters marginalisierte Arbeit ausführen, die unterbezahlt und übersehen wird. Schliesslich übernehmen Frauen einen Grossteil der Care-Arbeit.

Dieser Beispiele für Sexismus sind alle messbar. Doch die Erwartungen an die Geschlechter sind auch auf subtiler Ebene vorhanden. Sei es die Erwartung an den Mann, immer stark sein zu müssen und keine Schwäche zuzulassen, oder der Druck auf die Frau, immer schön sein zu müssen. Diese Vorstellung eines weiblichen respektive männlichen Lebens schränken uns in unserer Lebensgestaltung ein, beeinflussen uns in vielen Entscheidungen, die wir treffen, und lassen uns dabei die Abgrenzung untereinander auch leben und reproduzieren. Wer gegen Geschlechterrollen verstösst und sich aus dem binären Bild bewegt, gilt als fremdartig, anders und wird in dieser Gesellschaft an den Rand verdrängt.

Auch bei der Thematik der Gewalt gegen Frauen spüren wir den gesellschaftlichen Sexismus. Frauen sind oft von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen, darunter häusliche aber auch sexuelle Gewalt. Hier muss die Kriminalstatistik mit Vorsicht gelesen werden, da viele männliche Opfer durch sozialen Druck daran gehindert werden, Vorfälle zu melden. Doch auch mit diesem Vorbehalt sind die Zahlen erschreckend: Frauen werden heute 3.1 Mal häufiger Opfer von Gewalt in Paarbeziehungen,[17] dabei besteht eine doppelt so grosse Gefahr wie bei Männern, dass sie im Zuge der häuslichen Gewalt getötet werden.[18] 39,4%, also 2 von 5 Frauen, werden mindestens einmal in ihrem Erwachsenenleben Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt.[19] Solche Zustände hängen stark mit dem Machtgefälle in Beziehungen zusammen. Wenn ein Partner sein Leben lang auf Dominanz und Kontrolle ausgerichtet wird und die Partnerin sich sozio-ökonomisch fast immer in Abhängigkeit zu ihm bewegt, entstehen ungleiche Machtverhältnisse. Der Sexismus verschlimmert die Lage, indem er Gewalt banalisiert oder die Schuldzuweisung umkehrt. Gewalt ist eine immer implizite, immer mitgemeinte Drohung im Alltag vieler Frauen, die es ihnen erschwert, sich gegen das System zu wehren und ihm so gefährlich zu werden.

Die sexistische Normierung führt zu einer systematischen Verdrängung und Unsichtbarmachung von Personen, die ihre vorgegebenen Rollen nicht ausreichend erfüllen. Der unerträgliche und widersprüchliche Druck der Geschlechterrollen lastet besonders schwer auf Frauen und nicht-heterosexuellen und nicht-cis-geschlechtlichen Menschen. Jeden Tag wird diesen bewusst gemacht, dass sie hässlicher, wütender, schlampiger und weniger perfekt sind als sie sein sollten. Der Selbstwert, der sich direkt an den Ansprüchen der Gesellschaft orientiert und so herabgesetzt wird, führt dazu, dass die marginalisierten Personen keinen Raum einnehmen können. Doch genau das ist wichtig. Wir müssen helfen Raum einzunehmen für all die Menschen, die in dieser Gesellschaft anecken und nicht sichtbar sind.

  • Lohngleichheit und zwar sofort. Der Bund schafft eine unabhängige Kontrollbehörde für Lohngleichheit, die Lohnkontrollen durchführt und Unternehmen sanktioniert, die keine Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern gewähren. Der Art. 4 Abs. 2 der Bundesverfassung muss endlich umgesetzt werden.
  • Von Geschlechterstereotypen befreien. Berufsberatung und andere Laufbahngespräche sollen frei von den in unserer Gesellschaft herrschenden Stereotypisierungen sein. Sie sollen zu geschlechteruntypischen Karrierewegen ermutigen und auf die Stereotypen sensibilisieren. Wenn Vorbildspersonen eingesetzt werden, soll auf eine ausgewogene Vertretung aller Geschlechter in allen Branchen geachtet werden.
  • Ein Stopp des strukturellen Sexismus. Statt spezifische Geschlechter strukturell zur privaten Erledigung der Care-Arbeit zu drängen, müssen institutionelle Betreuungseinrichtungen geschaffen werden. Die Vereinbarkeit von Familie und Arbeit muss auch für wenigverdiende Personen möglich sein und es müssen Grundlagen (Elternurlaub, Teilzeitarbeit u.ä.) geschaffen werden, damit sich auch Männer vermehrt für die häusliche Sphäre entscheiden können.
  • Alternative Kulturräume für alternative Menschen. In unserer Gesellschaft muss Sichtbarkeit geschafft werden für nicht-hetero Sexualitäten und nicht-cis Geschlechtsidentitäten, auf dem Weg zu einer Welt, die keine Geschlechterrollen mehr kennt.

Feminismus, im Kampf für ein freies Leben

Wir möchten eine Welt, in der wir frei von Geschlechterrollen und Stereotypisierungen leben können – schlicht und einfach befreit von den Fesseln des Patriarchats. Diese Vision einer Gesellschaft ist sowohl feministisch als auch solidarisch; genauso muss auch unser Kampf sein. Dieser muss tagtäglich von allen Geschlechtern gemeinsam geführt werden. Denn nur unser sozialistischer Feminismus führt zu mehr Freiheit und der schlussendlichen Befreiung aller Menschen.


[1] Olympe de Gouges (1791): Les droits de la femme et la citoyenne. Paris.

[2] Eidg. Kommission für Frauenfragen EKF (2001): Frauen Macht Geschichte. Zur Geschichte der Gleichstellung in der Schweiz 1848 – 2000. Bern: EKF

[3] Eidg. Kommission für Frauenfragen EKF (2001): Frauen Macht Geschichte. Zur Geschichte der Gleichstellung in der Schweiz 1848 – 2000. Bern: EKF

[4] Der Begriff Patriarchat bezeichnet eine Form der Geschlechterhierarchie bzw. das System gesellschaftlicher Strukturen, in dem Frauen in vielfacher Weise benachteiligt, diskriminiert und ausgegrenzt werden.

[5] August Bebel (1879): Die Frau und der Sozialismus. Berlin: Verlag der Volksbuchhandlung

[6] Tanja Carstensen, Melanie Groß (2006): Feminismen: Strömungen, Widersprüche und Herausforderungen. In: FAU-MAT (Hrsg.): Gender und Arbeit. Geschlechterverhältnisse im Kapitalismus. 1. Aufl., S. 11-32.

[7] Eidgenössisches Departement des Innern, Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (2010): Anerkennung und Aufwertung der Care-Arbeit. Impulse aus Sicht der Gleichstellung. Bern: BBL. S. 7.

[8] Gleich oben, S. 14.

[9] Eidgenössisches Departement des Innern, Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (2010): Anerkennung und Aufwertung der Care-Arbeit. Impulse aus Sicht der Gleichstellung. Bern: BBL. S. 25.

[10] Als Cis-Menschen werden Menschen bezeichnet, denen bei der Geburt das Geschlecht zugeordnet wurde, in welchem sie später auch leben und in dem sie sich wohl fühlen. (Kontrast zur Trans*-Identität)

[11] Intersektionalität beschreibt die Überschneidung mehrerer Diskriminierungsformen (wie Homophobie und Sexismus), die eine Person gleichzeitig betreffen

[12] Ein Patriarchat, das Heterosexualität als Norm postuliert und auf einem binären Geschlechtersystem basiert (und Trans*menschen gegenüber Cis-Menschen strukturell benachteiligt)

[13] Lesbisch, Gay/Schwul, Bisexuell, Trans*, Queer/Questioning, Intersex, Asexuell

[14] Slut-Shaming bedeutet die soziale Zuschreibung von Schuld oder Scham, besonders gegenüber Frauen, dafür dass jemand seine Sexualität auf eine gewisse Art auslebt (zum Beispiel “zu viel” Sex hat, mit “zu vielen Leuten Sex hat etc.)

[15] Bundesamt für Statistik (2015): Arbeit- Lohnunterschied zwischen Frauen und Männer. Nachhaltige Entwicklung Monet, Neuchatel

[16] Marginalisierung: die Verdrängung aus dem öffentlichen Sichtfeld

[17] Bundesamt für Statistik (2012): Polizeilich registrierte häusliche Gewalt. Übersichtspublikation. Bern: BFS

[18] Bundesamt für Statistik, Isabel Zoder, Gabriela Maurer. 2006. Tötungsdelikte. Fokus häusliche Gewalt - Poli-zeilich registrierte Fälle 2000-2004. Neuchâtel.

[19] Killias Martin, Simonin Mathieu et.al. 2004. Violence experienced by women in Switzerland over their lifespan. Results of the International Violence against Women Survey. Lausanne.