Gastkommentar: Weshalb die Gegenargumente zur 99%- Initiative nicht standhalten
Michael Graff, Professor für Ökonomie und Gemeinderat der Alternativen Liste Zürich an der ETH war zu Gast in der "Abstimmungsarena" zur 99% - Initiative und räumte die Falschargumente der Gegner*innen auf.
Behauptung 1: Die Einkommensteuern in der Schweiz sind progressiv, es gibt also gar keinen Handlungsbedarf.
Dekonstruktion: Die direkte Bundessteuer ist in der Tat vergleichsweise progressiv, macht aber einen wesentlich geringeren Anteil am gesamten Einkommensteueraufkommen aus als die Kantons- und Gemeindesteuern. Letztere sind zwar in den Schweizer Kantonen und Gemeinden am selben Ort auch progressiv, aber i.d.R. weit weniger als die direkt Bundessteuer. Durch das gewaltigste Instrument der legalen Steuervermeidung, den sogenannten innerschweizerischen Steuerwettbewerb, sind diese Steuern aber für die höheren Einkommenssteuerzahler de facto degressiv, denn nur für diese lohnt sich der Umzug in eine steuergünstige Gemeinde. Laut Eidgenössischer Steuerverwaltung betragen 2021 die Höchstsätze für die direkte Bundessteuer zusammen mit den Kantons- und Gemeindesteuern in den günstigsten Gemeinden bei einem steuerbaren Jahreseinkommen von sagenhaften 100 Millionen Franken 19,8% (Feusisberg, Freienbach und Wollerau SZ). In den am stärksten besteuernden Gemeinden würden solche hundertfache Einkommensmillionäre 41,7% abführen müssen (Avully und Chancy GE), aber wenn sich das mit einem Umzug ganz legal vermeiden lässt, dürfte die wirkliche Einkommensteuerbelastung solcher Leute näher bei 20% als bei 40% liegen. Dagegen zahlen normalverdienende teils deutlich höhere Durchschnittssteuern, und ein Umzug lohnt sich nicht. Ein steuerbares Jahreseinkommen von 125’000 Franken führt zum Beispiel in Enges NE und Les Verrières NE zu einem Durchschnittssteuersatz von 23,4%. Soviel zur angeblichen Progression.
Behauptung 2: Eine Kapitalgewinnsteuer würde zu einer weiteren Mehrfachbesteuerung führen, denn im Unterschied zu den meisten Ländern, die eine Kapitalgewinnsteuer erheben, gibt es in der Schweiz schon eine Vermögenssteuer.
Dekonstruktion: Wer das behauptet kennt die Vermögenssteuersätze nicht. Laut Eidgenössischer Steuerverwaltung betragen 2021 die Höchstsätze in den günstigsten Gemeinden 0,1% (Hergiswil und Ennetbürgen NW), in den am stärksten besteuernden 0,8% (Waldenburg BL). Die Aufstellung der Steuerverwaltung geht dafür bis zu einem Vermögen von 100 Millionen Franken. Man darf annehmen, dass derart Vermögende eher 0,1% als 0,8% abführen. Die als Ersatz für eine Kapitalgewinnsteuer von auch nur 20% (s.o.) zu erklären, ist dreist.
Behauptung 3: Die selektive Höherbesteuerung von Kapitaleinkommen gegenüber Erwerbseinkommen ist ungerecht.
Dekonstruktion: Erwerbseinkommen über dem AHV-rentenbildenden Lohn in Höhe von 86’040 zahlen AHV-Beiträge ohne Gegenleistung, also praktisch eine Steuer. Unabhängig von der, die wahren Tatsachen verschleiernden, Aufteilung in „Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge”, tragen die Erwerbstätigen die volle Steuerlast, also gut 10%, und das ohne Einkommenslimit. Das ist der bekannte Umverteilungsmechanismus der AHV. Demgegenüber haben Kapitaleinkommen heute de facto einen Steuerrabatt von gut 10%. Die Initiative stellt also tendenziell eine Korrektur dieser Ungleichbesteuerung dar.
Dieser Text erschien ursprünglich bei der Alternativen Liste Zürich und wurde uns verdankenswerterweise zur Verfügung gestellt. Link zum ursprünglichen Artikel.