Arbeitskampf in der Gig-Economy

17.11.2017

Neue Formen der Beschäftigung erfordern neue Mittel der Organisierung. Von Beni Stückelberger
Stell dir vor, du möchtest die Belegschaft eines Betriebes organisieren, aber von den Arbeiter*innen kennt sich gegenseitig niemand. Genauso ist es uns ergangen, genauso ergeht es tausenden von Menschen in der Gig-Economy (der Begriff beschreibt eine neue Art der Wirtschaft, in der kleine Aufträge an eine Vielzahl von unabhängigen Freelancer*innen vergeben werden).
Ich arbeite als Velokurier und liefere hauptsächlich Essen und ab und zu Pakete aus. Das Prinzip ist denkbar einfach: Man loggt sich in einer App ein, bekommt dort Aufträge zugeteilt, schwingt sich aufs Velo und erledigt diese. Das Problem dabei eben: Man lernt die anderen Velokurier*innen kaum kennen. Zwar gibt es eine Zentrale, wo Rucksäcke und Lastenvelos gelagert werden, dort verweilt aber kaum jemand für längere Zeit und auch auf der Strasse trifft man sich nur selten.
Diesen März probierten wir es trotzdem. Durch unsere Arbeitsbedingungen hatten wir kaum eine andere Wahl: Wir hatten einen tiefen Lohn, keine Ferienentschädigungen, waren als Selbstständige angestellt, bekamen daher weder Sozial- noch Unfallversicherungen einbezahlt und mussten unsere Veloreparaturkosten selbst bezahlen (die der Firma gehörenden Lastenvelos sollten zwar repariert werden, waren jedoch in einem so schlechten Zustand, dass sie teilweise während der Fahrt auseinanderbrachen. Wenn man Kritik daran anbrachte, kam ziemlich schnell eine E-Mail, dass „man leider keine Aufträge mehr erhalten könne“).
Wir starteten mit einer WhatsApp-Gruppe. Für die offizielle Kommunikation der Firma existierte bereits eine solche mit einigen Fahrer*innen, wir kopierten also einfach alle Nummern ausser derjenigen unserer Chefin und erstellten eine neue Gruppe. Nach einigem Hin- und Herschreiben entschlossen wir uns dazu, ein gemeinsames Treffen abzuhalten, zu dem wir auch einen Gewerkschaftssekretär der Unia einluden. Wie tat das gut, einmal endlich offen über die Frustrationen reden zu können, die alle von uns erlebt hatten!
Aber nun begann die Knochenarbeit. Wir wollten eine reale Veränderung in der Firma, es war uns aber auch klar, dass wir dazu mehr werden mussten. Wir hatten die Nummern von etwa zwanzig Fahrer*innen, wussten aber, dass die Belegschaft alleine in Bern etwa doppelt so gross sein musste, von anderen Städten, in der die Firma aktiv war, ganz zu schweigen. Wir überlegten uns also verschiedene Massnahmen: Um Leute direkt kennenzulernen, wollten wir sie direkt vor der Zentrale abfangen. Wir stellten einen Schichtplan auf, nach welchem während zwei Wochen jeden Abend jemand dort wartete, um alle an diesem Abend Arbeitenden abzufangen. Zudem sprachen wir andere Fahrer*innen, die wir auf der Strasse trafen gezielt an und telefonierten alle bekannten Nummern wiederholt durch. Und etwa zwei Monate später hatten wir zudem unverhofft Glück: Wir erhielten alle E-Mailadressen der Berner Belegschaft und hatten so plötzlich eine Kontaktmöglichkeit zu allen. Parallel dazu versuchten wir unsere Fühler in die anderen Städte, in der die Firma Menschen beschäftigt, auszustrecken. Durch einzelne Fahrer*innen, die an mehreren Orten arbeiteten und durch persönliche Kontakte konnten Verbindungen geknüpft werden und der Aufbau einer Gruppe in Zürich gestartet werden.
Diesen August dann hatten wir jedoch genug. Zwar waren uns neue Verträge versprochen worden, in denen wir auch versichert gewesen wären, die restlichen Bedingungen waren jedoch weiterhin völlig unklar. Wir wählten also Delegierte und forderten mehrmals zusammen mit Unia-Sekretär*innen Verhandlungen, diese wurden jedoch jedes Mal abgelehnt. Zwar lud die Firma zu „Gesprächen“ ein – jedoch nur von ihnen ausgewählte Fahrer*innen und als reine Informationsveranstaltung ihrerseits. Da wir uns in keinster Weise mehr respektiert fühlten, und die Firma auch eine unsere Versammlungen abgehört hatte, entschlossen wir uns, an die Medien zu gelangen, um den Druck zu erhöhen. Nach einer öffentlichen Aktion wurde unsere Problematik von Blick, Berner Zeitung, Tagesanzeiger u.v.m. aufgegriffen. Doch noch immer gab es keine Reaktion.
Da jede weitere Minute am Arbeiten ohne Unfallversicherung in einem der zehn gefährlichsten Jobs der Schweiz uns sehr beängstigend erschien, drängte die Zeit. Wir stellten also noch einmal ein Gesprächsangebot an die Firma – diesmal jedoch ohne direkte Vertretung von Mitarbeitenden der Unia. Und siehe da, sie gingen darauf ein! Diese Verhandlungen wurden nun über die letzten Wochen geführt mit doch mehrheitlich positivem Ausgang: Etwa 3.- mehr Lohn pro Stunde, ein institutionalisierter Belegschaftsrat und dass wir nicht, wie vorher verlangt, auf offene Ansprüche aus dem vergangenen Arbeitsverhältnis verzichten müssen, sind gute Ergebnisse. Man sieht also: Ein Arbeitskampf lohnt sich auch heute noch.
Grundsätzliche Probleme bleiben jedoch weiterhin bestehen. Was früher Maschinen waren, ist heute ein Programmcode. Wer diesen kontrolliert, hat sehr viel Macht: Durch wenige Klicks können unliebsamen Fahrer*innen die Schichtwahl verunmöglicht, Aufträge entzogen oder die längsten Routen zugeteilt werden. Der Informationsfluss wird ebenfalls völlig durch die Besitzenden des Codes reguliert und kontrolliert. Von Turiner Velokurier*innen wurde vorgeschlagen, den Code als Open Source frei zugänglich und von den Fahrer*innen veränderbar zu machen, was dieser Machtkonzentration sicherlich entgegenwirken würde. Über Programme als Produktionsmittel in einer digitalisierten Gesellschaft müssen jedoch sicherlich weitere Debatten geführt werden.
Momentan protestieren übrigens Velokurier*innen in ganz Europa. Wer mehr über diese Kämpfe erfahren möchte, der*m seien folgende Quellen sehr empfohlen:

  • “Total Eclipse of Work? Neue Protestformen in der gig economy am Beispiel des Foodora Streiks in Turin“ in: PROKLA Heft 187

  • Die Arte-Reportage „Kuriere am Limit“

  • Deliverunion