Die Coronavirus-Krise hält die Welt in Atem, wirbelt unseren Alltag durcheinander und bringt beinahe das kapitalistische Wirtschaftssystem zum Zusammenbruch. Doch wie wirkt sich die Krise auf den globalen Süden aus? Eine Spurensuche in Lateinamerika. Ein Beitrag von Henrik Zimmermann.
Für Lateinamerika wiederholt sich derzeit die eigene Geschichte auf tragische Weise. Vor fast genau 500 Jahren schleppten die Europäer bei ihrer „Entdeckung“ Amerikas eine Reihe von Krankheiten wie z.B. die Pocken mit. Diese erwiesen sich als fatal für die indigene Bevölkerung Amerikas. Damals wie heute treffen diese Krankheiten auf eine Krise, die keinerlei Immunisierung aufweist und daher schutzlos den Krankheiten ausgeliefert ist. Historische Schätzungen gehen davon aus, dass vor 500 Jahren bis zu 90% der indigenen amerikanischen Bevölkerung durch diese Krankheiten dahingerafft wurden, was die schnelle europäische Vormachtstellung in Amerika überhaupt ermöglichte. Wie viele Opfer das Coronavirus in Lateinamerika fordern wird, ist derzeit noch offen. Dabei spielen einige Faktoren eine Rolle, die in unserem epidemiologisch geprägten Diskurs in Europa überhaupt keine Relevanz haben, für Lateinamerikaner*innen aber von grosser Bedeutung sind.
Chile – die Proteste sind vorerst verstummt, das System versagt trotzdem.
Am 18. Oktober letzten Jahres explodierte in Chile ein Pulverfass, das schon lange brannte. Die Erhöhung der Metropreise in der Hauptstadt Santiago löste landesweite Proteste der Bevölkerung aus, die genug hatte von einem 47 Jahre andauernden neoliberalen Experiment, davon 17 Jahre unter einer der brutalsten Diktaturen Lateinamerikas und 30 Jahre unter einer demokratischen Maskerade. Die Regierung des rechten Präsidenten Piñera reagierte mit massiver Gewalt auf die Proteste. Als Piñera –zum ersten Mal seit der Diktatur Pinochets – das Militär mit Schweizer Panzern und Waffen auf die Strassen schickte und auf die eigene Bevölkerung schiessen liess, sprang der Funke auf weite Teile der Bevölkerung über. Junge, Alte, Indigene, Studierende und Arbeiter*innen schlossen sich zusammen und demonstrierten Abend für Abend auf der „Plaza Baquedano“, von der Protestbewegung in „Plaza de la Dignidad“ – „Platz der Würde“ – umbenannt. Die Regierung antwortete mit Gewalt und winzigen Zugeständnissen; Nachdem die Rücknahme der Metro-Preiserhöhung die Proteste nicht beruhigte, kündigte die Regierung einen Prozess zu einer Verfassungsreform an, der jedoch einen sehr langsamen Fahrplan beinhaltete und durch das Coronavirus womöglich ganz zum Stillstand kommt.
Der Ausbruch der Coronavirus-Pandemie verschaffte der Regierung Piñera unverhofft Luft. Es waren die sozialen Organisationen, Gewerkschaften und Protestierenden, die dazu aufriefen zuhause zu bleiben, als die Anzahl der Infizierten in die Höhe schnellte und die Regierung sich lange nicht zu einer Reaktion auf die Pandemie aufraffen konnte. Die junge, charismatische und kommunistische Präsidentin der Ärztekammer, Izka Siches, wurde mehr angehört als der Gesundheitsminister Jaime Mañalich, ein aus der Ärztekammer ausgeschlosser Arzt, der in der Krise fromm wünschte, das Virus mutiere zu einer „guten Person“. Die Proteste verlagerten sich in die eigenen vier Wände und auf die Balkone. Die Coronavirus-Krise zeigt aber exemplarisch das Versagen des neoliberalen chilenischen Systems auf, gegen das sich die Menschen auf der Plaza de la Dignidad auflehnten. Im Rahmen des neoliberalen Staatsabbaus wurde das Gesundheitssystem beinahe komplett privatisiert, zulasten der Bevölkerungsmehrheit, die sich eine teure private Gesundheitsversorgung nicht leisten kann. Schon in normalen Jahren sterben jährlich 20‘000 Chilen*innen auf den Wartelisten der wenigen öffentlichen Spitäler. Und während in der Schweiz über Finanzhilfen für Selbstständige und Kurzarbeit diskutiert wird, erlässt die Regierung Piñera ein Dekret, das den Arbeitgebern erlaubt, Lohnzahlungen zu verweigern, wenn die Arbeitnehmer*innen aufgrund der gesundheitlichen Notlage nicht zur Arbeit erscheinen können. Und dies in einem Land, in dem rund ein Drittel der Bevölkerung keinen Arbeitsvertrag besitzt.
Symbolisch für die Prioritäten der Regierung Piñera ist dementsprechend auch die Tatsache, dass die Regierung statt medizinisches Material lieber neue Wasserwerfer und Fregatten aus dem Ausland importiert und der Präsident sich mitten in der allgemein verordneten Isolation demonstrativ auf der menschenleeren Plaza de la Dignidad ablichten lässt. Als würde er tatsächlich glauben, dass das Coronavirus ihn und den chilenischen Neoliberalismus gerettet hätte. Die Protestbewegung tut ihm den Gefallen zum Glück nicht; bereits haben wieder vereinzelte Demonstrationen auf der Strasse begonnen, die Wut auf das Versagen des Systems staut sich auf.
Ecuador – Die Totengräber im Beerdigungsnotstand
Auch Ecuador erlebte eine grosse Protestbewegung im Herbst 2019 als die Regierung aufgrund von IWF-Auflagen Subventionen auf Benzin strich worauf Indigene Organisationen zu einem so massiven Protest mobilisierten, dass Präsident Lenín Moreno sogar kurzzeitig aus der Hauptstadt Quito flüchtete. Und auch während der Krise um das Coronavirus zeigt sich eine eigenartige Prioritätensetzung des Präsidenten zwischen internationalen Geldgebern und seiner eigenen Bevölkerung.
Aus der grössten Stadt Guayaquil gehen derzeit Bilder um die Welt von auf den Strassen liegen gelassenen Leichen. Seit Wochen ist die Beerdigungsinfrastruktur zusammengebrochen, der Staat musste eine Spezialeinheit aufstellen und Kartonsärge bestellen um eine Beerdigung der Opfer zu gewährleisten. Am 16. April 2020 informierten die Behörden, dass in der Provinz Guayas in den ersten zwei Aprilwochen 6‘700 Tote zu beklagen waren – in einem Zeitraum während dem normalerweise rund 1'000 Personen sterben. Gleichentags vermeldet aber Ecuador auf nationaler Ebene einen Stand von 403 Toten aufgrund des Coronavirus. Diese erschreckende Diskrepanz legt eindrücklich dar, wie überfordert das Ecuadorianische Gesundheitssystem ist. Die Regierung musste zugeben, dass viel zu wenige Kapazitäten vorhanden sind um alle Verdachtsfälle zu testen. In Guayaquil sterben tausende Menschen ohne dass ihre Todesursache untersucht werden kann und die dementsprechend auch in keiner Statistik auftauchen. Die Leichen stapelten sich bereits auf den Strassen zu einem Zeitpunkt, als die offiziellen Coronavirus-Todeszahlen noch im zweistelligen Bereich lagen. Düstere Vorahnungen tun sich auf wenn man bedenkt, dass Guayaquil das reiche Wirtschaftszentrum des Landes ist.
Mitten in der Krise lässt jedoch Präsident Moreno international aufhorchen, indem er an internationale Gläubiger einen Kredit von 324 Millionen US-Dollar zurückzahlt und sich mit der erst zweiten pünktlichen Rückzahlung der Ecuadorianischen Schuldengeschichte rühmt. Morenos neoliberale Mustergültigkeit äussert sich zwar in einem grosszügigen Coronavirus-Kredit des IWF, aber auch in der Tatsache, dass der Staatshaushalt in den letzten drei Jahren halbiert und dann noch nicht einmal ausgeschöpft wurde. Kein Wunder, tritt mitten in der Krise die Gesundheitsministerin zurück, weil der Präsident zu wenig Mittel im Kampf gegen das Coronavirus freigibt. Trotz seiner Aktivitäten auf dem internationalen Kreditmarkt bittet Präsident Moreno die Ecuadorianer*innen für die Bewältigung der Krise zur Kasse: So richtete der Staat einen Fonds zur „Humanitären Unterstützung“ von Kleinunternehmen und bedürftigen Familien ein, in den Unternehmen ab einem Umsatz von einer Million Dollar und Arbeitnehmende ab einem Einkommen von 1‘000 Dollar mittels Notsteuer einzahlen. Jene über 60% der Ecuadorianer*innen, die im informellen Sektor arbeiten sind sehr wahrscheinlich von der Beitragspflicht ausgenommen. Andererseits ist auch zu befürchten, dass gerade diese unter prekären Bedingungen lebenden Menschen, insbesondere Frauen und geflüchtete Venezolaner*innen, nicht von dem humanitären Fonds profitieren können und nun womöglich hungern müssen.
Wer hilft wenn der Staat nicht hilft?
In Zeiten, in denen Millionen von armen Familien in Lateinamerika aufgrund von Ausgangssperren und Lockdowns ihrer täglichen Einnahmen beraubt werden und neben der Gefahr eines neuen Virus auch noch dem Hunger ausgesetzt werden, erwacht ein neuer Schub von Grassroots-Solidarität im ganzen Kontinent. In Brasilien spenden Familien der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Sem Terra), welches unproduktive Agrarflächen besetzt und bewirtschaftet, Teile der von ihnen produzierten Nahrungsmittel an die bedürftige städtische Bevölkerung. Im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca haben sich die Fischer zum Ziel gesetzt, täglich 20 Tonnen frischen Fisch an die arme Bevölkerung zu verteilen. In Argentinien hat sich die Anzahl der Volksküchen von Piquetero-Organisationen wie „Barrios de Pie“ verdoppelt. Die Piquetero-Organisationen stammen aus einer sozialen Bewegung im Zuge der Argentinien-Krise von 2001, als Millionen von Argentinier*innen die nicht für die staatliche Arbeitslosenversicherung berechtigt waren, verarmten. Gemeinsam haben alle diese Initiativen, dass sie weitaus älter sind als die derzeitige Coronavirus-Krise und dementsprechend die Gesundheits- und Sozialsysteme vieler lateinamerikanischer Staaten nicht erst seit Anfang dieses Jahres entweder überlastet, kaputtgespart oder schon von ihrem Grundaufbau her diskriminierend sind. Was geschehen kann, wenn sich der Staat nicht für seine Ärmsten Mitbürger*innen interessiert, zeigt sich in besonders perfider Weise in den Armenvierteln Brasiliens, Mexikos oder El Salvadors: In diesen Vierteln, in denen die Menschen auf engstem Raum zusammenleben und epidemiologisch sinnvolle Quarantänemassnahmen schlicht nicht durchführbar sind, haben Drogenkartelle und Gangs damit begonnen, Schutzmasken, Desinfektionsmittel und Lebensmittel zu verteilen und die Einhaltung von Quarantänemassnahmen zu überwachen. Den Kartellen bietet die aktuelle Krise die Möglichkeit, ihre Unterstützung und Macht in den Armenvierteln auszubauen, was langfristig die schon länger anhaltende Gewaltepidemie in Lateinamerika noch verstärken wird.
500 Jahre nach der ersten historisch feststellbaren tödlichen Epidemie trifft in Lateinamerika das Coronavirus auf einen Hochrisikopatienten mit den Vorerkrankungen „Neoliberalismus“, „Ungleichheit“, „Austeritätspolitik“ und „Gewalt“. Die grosse Mehrheit der Lateinamerikaner*innen kann sich weder Gesundheitsversorgung, noch Lockdown und Quarantäne leisten. Auch wenn die globale Suche nach einem Impfstoff gegen SARS-CoV-2 zu Recht eine hohe Priorität geniesst, braucht es für den globalen Süden einen weitaus stärkeren Impfstoff, der nicht nur aus einem pharmakologischen Mittel, sondern auch aus nachhaltigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegenmitteln gegen diese Vorerkrankungen besteht.