Am 14. Juni 2018 haben SP, SP Frauen* und JUSO gemeinsam das Frauenjahr lanciert. Die Forderungen sind klar: Die Lohngleichheit muss endlich umgesetzt, die alltägliche Arbeit von Frauen an anerkannt und die Gewalt an Frauen gestoppt werden. An dieser Stelle werden wir regelmässig Hintergrundinformationen zu diesen Schwerpunktthemen liefern und über aktuelle Aktivitäten des Frauenjahrs informieren. Den Anfang macht JUSO-Präsidentin Tamara Funiciello mit der Frage, welche Ursachen Männergewalt hat. Ein Beitrag von Tamara Funiciello und Nina Hüsser.
In den vergangenen Monaten wurde viel über Gewalt an Frauen diskutiert, doch die Debatte kratzte nur an der Oberfläche. Klar, wir müssen darüber reden, dass ein «Nein» immer «Nein» bedeutet. Wir müssen diskutieren, wie wir gewaltbetroffene Frauen unterstützen und schützen können, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus oder finanziellen Möglichkeiten. Und wir müssen immer und immer wieder sagen, dass Gewalt – ob nun an Frauen oder Männern – ein Männerproblem ist: 2017 waren laut der polizeilichen Kriminalstatistik 93.4% der Beschuldigten bei schweren Gewaltdelikten Männer. Man stelle sich vor, eine andere Gruppe wäre statistisch so auffällig!
Wir müssen deshalb vor allem auch darüber reden, was Männergewalt für Ursachen hat. Was führt dazu, dass Amokläufe fast ausschliesslich von Männern begannen werden? Warum sind es zu einem Grossteil Männer, die häusliche Gewalt ausüben? Und welchen Zusammenhang gibt es zwischen Männergewalt und unseren Vorstellungen davon, wie ein Mann zu sein hat?
Im englischsprachigen Raum wird schon seit geraumer Zeit ein Konzept diskutiert, dass hier Erklärungsansätze liefert. Es geht um die «toxische Männlichkeit» (toxic masculinity). Das heisst mitnichten, dass alle Männer als Individuen toxisch, also giftig sind. Es geht darum, dass wir als Gesellschaft bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit haben, die nicht nur schädlich, sondern gefährlich sind und zwar für alle Geschlechter. Trotzdem hinterfragen wir sie kaum. Das hat fatale Konsequenzen.
Echte Männer sind stark. Sie zeigen ausser Wut keine Emotionen, schon gar nicht öffentlich. Sie können und wollen immer Sex haben, reden nicht gerne über Probleme und beissen die Zähne zusammen, wenn sie Schmerzen haben. Echte Männer weinen nicht. Jack Urwin, der in seinem Buch «Boys don’t cry» darüber spricht, wie Geschlechterstereotypen auch Männer schaden, erklärt das anhand des Todes seines Vaters: Dieser starb mit 51 für alle überraschend an einem Herzinfarkt. In seiner Tasche fand man ein nicht verschreibungspflichtiges Medikament gegen Herzprobleme, weil er keinen Arzt aufsuchen wollte. Das wäre unmännlich gewesen.
Männer haben im Schnitt eine tiefere Lebenserwartung, sie haben mehr Unfälle, sie suchen bei psychischen Problemen seltener Hilfe und sie wählen bei Suizidversuchen «aggressivere» Methoden und haben deshalb eine höhere Suizidrate als Frauen, obwohl sie weniger Suizidversuche begehen. Kurzum: Toxische Männlichkeit ist tödlich. Aber nicht nur für Männer selbst, sondern auch für ihr Umfeld. Immer wieder bedrohen, verprügeln oder töten Männer ihre Partnerinnen. Hört man sich einmal auf einem Spielplatz um, erstaunt das nicht mehr sonderlich: Wenn Paul im Sandkasten weint, wird ihm gesagt, er sei doch schon ein grosser Junge und grosse Jungen weinen nicht. Schlägt er später sein Spielgspänli mit einer Schaufel, kommt nur halbherzige Kritik (oder zumindest halbherzigere als seine Schwester) – Jungs sind halt einfach etwas wilder. Das sind kurze Momente, die für sich alleine wohl nicht viel Schaden anrichten würden. Aber ein System, das diese Form von Männlichkeit immer und immer und immer wieder reproduziert und glorifiziert, in dem Pausenplatzrangeleien ebenso unhinterfragt hingenommen werden wie bei einem Mord aus Eifersucht von «Liebesdrama» gesprochen wird, ist der ideale Nährboden für Gewalt an Frauen. Denn diese Vorstellung von Männlichkeit verhindert oftmals, dass Jungen und Männer überhaupt Alternativen zu aggressivem Verhalten oder Gewalt lernen.
Die andere Seite dieser «toxischen Männlichkeit» ist, dass alles weiblich-assoziierte systematisch abgewertet wird. Das reicht von «Pussy» als Beleidigung für Männer, die vermeintlich schwach sind bis zu einer strukturellen Unterbezahlung von klassisch weiblichen Branchen wie der Pflege.
Das bedeutet aber nicht, dass Frauen und Männer dieselben Probleme haben. Denn trotz aller Nachteile, die das Patriarchat auch für Männer bringt, haben Männer als gesellschaftliche Gruppe Macht, Frauen nicht. Männer besitzen einen Grossteil des weltweiten Vermögens und sie sind überall dort massiv übervertreten, wo Entscheide gefällt werden.
Oder anders gesagt: Männer haben kein Problem, weil sie Männer sind. Sie haben immer dann ein Problem, wenn sie nicht diesem toxischen Männlichkeitsideal entsprechen, wenn sie also Gefühle zeigen, sich um Kinder kümmern möchten oder Röcke tragen wollen, wenn sie nicht «männlich genug» sind. Frauen hingegen werden diskriminiert, weil sie Frauen sind.
Was heisst das nun? Wenn wir Gewalt an Frauen effektiv bekämpfen wollen, müssen wir dieses strukturelle Machtungleichgewicht auflösen. Genau deshalb ist die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Frauen so bahnbrechend (vgl. Info-Kasten) Sie hält fest, dass die ungleichen Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern eine zentrale Ursache von Gewalt gegen Frauen sind und diese wiederum Geschlechterhierarchien aufrechterhalten. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, müssen wir unser Bild von Männlichkeit verändern und Geschlechterstereotypen auflösen: Ich will, dass Männer Lippenstift zur Arbeit tragen können, wenn ihnen danach ist. Ich will, dass es Kinder egal welchen Geschlechts im Feenkostüm Fussball spielen wenn sie darauf Lust haben. Ich will in Filmen mehr weinende Männer und fluchende Frauen sehen.
Tamara Funiciello, Präsidentin JUSO Schweiz
Infokasten: Bahnbrechende Istanbul-Konvention
Die Schweiz hat 2017 das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (kurz: Istanbul-Konvention) ratifiziert. Die Konvention will geschlechtspezifische Gewalt von Grund auf bekämpfen und das Recht von Gewaltbetroffenen Personen auf Schutz und Unterstützung durchsetzen. Die Istanbul-Konvention ist aus zwei Gründen ein grosser Fortschritt:
Erstens sagt die Konvention – und damit alle Vertragsstaaten – dass ungleiche Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern eine zentrale Ursache von Gewalt gegen Frauen ist und diese Gewalt wiederum die Machtverhältnisse aufrechterhält. Das diese zentrale feministische Analyse so breit akzeptiert wird, ist bahnbrechend.
Zweitens hält die Konvention explizit fest, dass Massnahmen für alle gewaltbetroffenen Personen zugänglich sein müssen, unabhängig "des biologischen oder sozialen Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, der sexuellen Ausrichtung, der Geschlechtsidentität, des Alters, des Gesundheitszustands, einer Behinderung, des Familienstands, des Migranten- oder Flüchtlingsstatus oder des sonstigen Status" (Art. 4). Das ist heute nicht der Fall. So sind viele Frauenhäuser (aufgrund eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten) nicht behindertengerecht und Frauen, die auf der Flucht sexualisierte Gewalt erlebt haben, haben in der Schweiz keinen Anspruch auf Opferhilfe.
Im Moment laufen Diskussion darüber, welche Massnahmen Bund und Kantone nun ergreifen müss(t)en. Im Rahmen des Frauenjahrs stellen wir den Kantonalparteien Mustervorstösse zur Verfügung, mit den der Handlungsbedarf in den jeweiligen Kantonen abgeklärt werden soll. Interessierte können sich bei [email protected]melden.
Nina Hüsser, Projektleiterin Frauenjahr
15.11.2018
-
Nina Hüsser