Ein Blogbeitrag von Nadia Kuhn, Co-Präsidentin JUSO Zürich Oberland
„Ich kann das mit eurem scheiss Feminismus echt nicht mehr hören! Frauen* haben genau die gleichen Rechte wie Männer*. Jetzt gebt euch doch endlich mal zufrieden und seid still!“
Wir diskutieren im Deutschunterricht über Machtstrukturen in unserer Gesellschaft. Verschiedene Schüler*innen melden sich und erzählen von übergriffigen Situationen, die sie erlebt haben. Und dann dieser gebrüllte Satz meines Klassenkollegen, mit dem er uns in unsere Schranken weisst, uns den Mund verbietet und uns sämtliche unserer Erfahrungen abspricht. Eine Freundin wird später sagen, sie wolle sich nie mehr in der Klasse äussern.
Wo beginnt Gewalt?
Einfacher zu erkennen ist, wo sie endet. Alle 15 Tage stirbt in der Schweiz eine Frau* an den Folgen häuslicher Gewalt. In Europa erlebt jede dritte Frau* mindestens einmal in ihrem Leben physische, psychologische und/oder sexueller Gewalt, in der Regel durch eine Person aus ihrem nächsten Umfeld. Auf einer niederschwelligeren Ebene hat fast jede Frau* schon einmal in ihrem Alltag sexuelle Übergriffe, Belästigung oder Stalking erlebt – am Arbeitsplatz, im Tram, in der Bar, im Kino, auf offener Strasse. Geschlechterspezifische Gewalt ist traurige Realität, und mehr noch: Gewalt gegen Frauen* und Mädchen* ist weltweit Alltag.
Diese andauernd angedrohte Gefahr hat sich in unser aller kollektives Bewusstsein gegraben. Ausnahmelos jede Frau*, mit der ich jemals darüber gesprochen habe, hat ihre eigenen Schutzmassnahmen und Strategien, um sich in von ihr als gefährlich eingeschätzten Situationen zumindest ein wenig sicherer zu fühlen: Manche nutzen ihre Hausschlüssel als behelfsmässige Schlagringe, andere nehmen Selbstverteidigungskurse, wieder andere gehen nachts nicht alleine aus dem Haus.
Frauen* müssen, wann immer sie sich unter andere Menschen begeben, auf der Hut sein. Man scannt den Raum, ganz unbewusst teilweise, erfasst potentielle Gefahren, und trifft unentwegt Massnahmen. Die Gefahr ist unterschwellig immer da, schon allein, weil man weiss, was mit FLINT*-Personen passiert ist, die männlichen* Ärger auf sich gezogen haben. Und man denkt, wenn man all diese Schutzmassnahmen, aufbaut, ist man sicher. Wenn ich nicht mit meinem Boss alleine bin, werde ich nicht belästigt. Wenn ich keinen Minirock trage, werde ich nicht begrapscht. Wenn ich nicht mit einem fremden Mann nach Hause gehe, werde ich nicht vergewaltigt.
Durch diese systematische Gewalt an Frauen* werden wir daran gehindert, den uns zustehenden Raum einzunehmen – in dem wir bestimmte Orte meiden, aber auch in dem wir daran gehindert werden, öffentliche Plattformen einzunehmen. Lieber den Kopf einziehen, dann fällt man wenigstens nicht auf – kann denn das die Antwort sein?
Das Patriarchat bringt uns dazu, Mauern aufzubauen, ohne zu merken, dass wir uns dabei das eigene Gefägnis zimmern. Es herrscht der Irrglaube, wenn Mädchen* und Frauen* nur nichts falsch machen, sich an diese Schutzregeln halten, sich gut aufführen und brav sind, dann passiere ihnen nichts. Also müssen diejenigen, denen was passiert ist, etwas falsch gemacht haben. Ganz häufig glauben das dann Frauen* selber, der «Just World Belief», dass uns schlechte Dinge nicht passieren werden, weil wir uns ja korrekt verhalten.
Dabei ist es natürlich überhaupt nicht so. So gut wie jede Frau* erlebte schon einmal eine übergriffige Situation. Das bedeutet im Gegenzug, so gut wie jeder Mann* hat schon einmal dazu beigetragen, dass sich eine Frau* unwohl fühlte. Es gibt in dieser Gesellschaft keine sicheren Situationen, keine "guten Jungs", die sowas nie tun würden, und keine "guten Mädchen", denen sowas nicht passiert.
Gewalt an Frauen* und Mädchen* ist laut Amnesty International die häufigste Menschenrechtsverletzung weltweit, doch ist es auch diejenige, die am meisten bagatellisiert und verharmlost, oder aber tabuisiert und verschwiegen wird. Wird in den Medien über sexuelle Gewalt berichtet, so strotzt die Berichterstattung oftmals von Victim Blaming. Was hat sie getragen, wieviel hat sie getrunken, warum ist sie überhaupt mit ihm mitgegangen? Und Frauen*, die von sich aus das Schweigen brechen, sehen sich einer medialen Hetzjagd ausgesetzt, wie es etwa bei Jolanda Spiess-Hegglin geschah.
Und jetzt stehe ich also da, und soll mich damit zufriedengeben. Soll dankbar für die Rechte sein, die man(n) uns grosszügigerweise gewährte, und generell einfach schweigen. Das betrachten, was schon erreicht wurde, und den Rest zur Seite schieben. Der Status Quo ist doch so bequem, und wenn alle sich die Ohren zuhalten, hört man auch die Schreie nicht mehr.
Aber ich werde nicht still sein. Nicht, solange geschlechtsspezifische Gewalt immer noch einer der wichtigsten Gründe für das vorzeitige Ableben von Frauen* ist. Nicht, solange sexuelle Belästigung im Club „halt einfach dazugehört“. Nicht, solange häusliche Gewalt immer noch so viele Opfer fordert und trotzdem die Präventionsstellen abgebaut werden sollen – aus Sparmassnahmen. Würde, Sicherheit und Gerechtigkeit sind Grundrechte, und sie müssen endlich auch für Frauen* gelten. Frauen*rechte sind Menschenrechte!
19.12.2017