Gesellschaftlicher Wandel durch reale Utopien: Was meint eigentlich Transformation genau?

In den letzten Jahren ist ein neuer Begriff am linken Theoriehimmel aufgetaucht: die sozial-ökologische Transformation. Doch was ist damit genau gemeint? Nachfolgend soll das Konzept der Transformation kurz vorgestellt, kritisch beleuchtet und mit einigen weiterführenden Hinweisen versehen werden. Von Jonas Eggmann
Ursprünglich aus dem Umfeld der deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung – eine der Partei „Die Linke“ nahestehende politische Stiftung – stammend, ist die Transformations-Debatte mittlerweile auch in der Schweiz angekommen. So wird etwa gefordert, dass die SP Schweiz zu einer „transformatorischen Kraft“ wird bzw. einen „transformatorischen Aufbruch“ wagt.[i] Auch innerhalb der JUSO wird der Begriff der Transformation verwendet, z.B. in den verabschiedeten Thesen zum bürgerlichen Staat.
Transformation meint dabei einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel, der an den bestehenden Kompetenzen und Erfahrungen ansetzt und diese in einem partizipativen und letztlich ergebnisoffenen Prozess weiterentwickelt. Gelingende Transformation führt damit zu einem neuen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsmodell und neuen kulturellen Deutungsmustern.[ii] Inhaltlich geht es darum, die heutige für Mensch und Umwelt ausbeuterische, kapitalistische Wirtschaftslogik mit einer solidarisch-demokratischen Art und Weise des Wirtschaftens, Arbeitens und Lebens zu ersetzen.
Eine solche Transformation zielt also nicht nur auf eine Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Momentan versuchen die Neoliberalen die Logik von Markt, Konkurrenz und Verwertbarkeit auf alle Lebensbereiche zu übertragen. Transformatorische Politik steht dem entgegen: Alle Lebensbereiche sollen demokratisch organisiert sein, d.h. alle Menschen sollen bei allen Entscheidungen (auch international) mitbestimmen können, von denen sie betroffen sind. Sei dies in der Schule, am Arbeitsplatz, im Betrieb, in der Familie oder im Quartier.
Ein transformatorischer Wandel muss deshalb die bestehenden Macht- und Eigentumsstrukturen in ihrem Kern verändern, demokratisieren und somit in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der alle Menschen befähigt sind, ein umfassend selbstbestimmtes Leben zu führen – sozial, politisch, ökonomisch und ökologisch nachhaltig. Eine Gesellschaft also, die als demokratischer Sozialismus bezeichnet werden kann.
Den Gegensatz von Reform und Revolution überwinden
Die Idee der Transformation erhebt explizit den Anspruch, den Gegensatz von Reform und Revolution zu überwinden. Sie zielt klarerweise auf einen Bruch mit den kapitalistischen Verhältnissen, betont jedoch die Wichtigkeit, an bestehenden Strukturen und Lebenserfahrungen der Menschen anzusetzen. Mittels radikaler Reformen wird zwar im Hier und Jetzt des Kapitalismus angesetzt. Zugleich soll mit den erhobenen Forderungen aber über die gegenwärtigen Verhältnisse hinausgewiesen und damit die Spielräume für eine emanzipatorische Politik schrittweise vergrössert werden. Zuweilen wird deshalb auch von der Notwendigkeit einer doppelten Transformation gesprochen, einer „Transformation im und über den Kapitalismus hinaus“. Wie aber soll das geschehen?
Wandel im Diskurs und Wandel von unten
Um die Köpfe und Herzen der Menschen für einen transformatorischen Wandel zu gewinnen, sind zwei Bereiche zentral: Wandel im öffentlichen Diskurs und Wandel von unten durch real existierende alternative, solidarische Lebens- und Produktionsweisen. Sowohl das Denk-, als auch das Machbare sollen nach und nach ausgeweitet werden.
In dieser Logik ist es zum Beispiel ganz zentral, ob in der Diskussion um die Neuauflage der Unternehmenssteuerreform III von linker Seite lediglich eine „schlanke Reform“ gefordert oder ob die Möglichkeit genutzt wird, eine grundsätzliche Debatte über den Unsinn des nationalen und internationalen Steuerwettbewerbs anzustossen. Weil: Worüber niemand redet, kann ja auch kein Problem sein.
Ein Paradebeispiel für die radikale Ausweitung von Diskursen ist die 1:12-Initiative. Sie knüpfte am Unmut über überrissene Abzockerlöhne und -boni an und verband ihn mit einer systemischen Forderung: Nicht die Gier einzelner Manager war (und ist) das Problem, sondern wer auf welche Weise über die Verteilung der Einkommen bestimmt. Die Initiative stellte die einfache und grundsätzliche Frage: Wie möchten wir unsere Gesellschaft organisieren? Nach den Prinzipen der Demokratie oder des Marktes? Allein diese Frage zu stellen, war nach dem 30-jährigen Siegeszug des Neoliberalismus eine Provokation.
Über Wandel und eine andere Gesellschaftsordnung soll aber nicht nur geredet, sie muss auch im Konkreten gelebt werden. Transformation besteht deshalb auch in einer Stärkung und Absicherung von Projekten, die eine soziale und solidarische Wirtschaft und Gesellschaft bereits jetzt vorleben. Diese „reale Utopien“ sollen den Kapitalismus erodieren lassen, indem „in den Räumen und Rissen innerhalb kapitalistischer Wirtschaften emanzipatorische Alternativen aufgebaut werden und zugleich um die Verteidigung und Ausweitung dieser Räume gekämpft wird“.[iii]
Beispiele für gesellschaftliche Gegenwelten von unten sind die Autonome Schule in Zürich, die Reitschule in Bern, die Milchjugend, Wohnbaugenossenschaften, aber auch institutionalisierte Projekte wie die Alternative Bank Schweiz, die WoZ oder das Surprise. Sie alle nehmen ein Stück einer besseren Gesellschaft vorweg und lassen dies die Menschen konkret in ihrem Alltag erfahren.
Damit einher geht auch eine Ausweitung dessen, was als revolutionäres oder eben „transformatorisches“ Subjekt verstanden wird. Wer also die Träger*innen einer solchen Transformation sind. Dazu gehören nicht mehr nur (aber immer noch!) die klassischen Arbeiter*innen, sondern auch kritische Intellektuelle, fortschrittliche Unternehmer*innen, Aktivist*innen der LGBT*-Bewegung usw. Kurz: Alle Menschen, die sich gegen die verschiedenen Formen von Herrschaft von Ausbeutung, Unterdrückung, Diskriminierung und Entfremdung einsetzen. Transformatorische Politik begreift Freiheit als soziale Freiheit und unteilbares Konzept: Transformation hat die Freiheit aller zum Ziel.
Es braucht mehr, um reale Machtverhältnisse zu verändern
Eine Stärke der Transformations-Idee ist sicherlich, dass sie die Anschlussfähigkeit von linken Projekten betont. Reine Systemkritik und das Verströsten auf die Zeit nach einer Revolution haben sich als wenig hilfreich erwiesen für den Aufbau einer sozialistischen Bewegung. Die Notwendigkeit über gesellschaftlichen Wandel so zu reden, dass damit an bestehende Erfahrungen, Kompetenzen und Sprachbilder der Menschen angeknüpft wird, ist wegweisend für die politische Linke. Das gilt ebenso für die Erkenntnis, aktiv darauf hinzuwirken, ein solidarisches Miteinander konkret erfahrbar zu machen.
Vage bleibt jedoch die Vorstellung davon, wie es zu einer Änderung der realen Macht- und Kräfteverhältnisse kommt. Diskurse zu ändern kann dabei nur der erste Schritt sein – das Mittel zum Zweck –, um z.B. Forderungen nach einer Demokratisierung der Eigentumsverhältnisse durchzusetzen. Ohne weitergehende Aktionsformen wie gewerkschaftliche Organisationsarbeit, Streiks, Demonstrationen und zivilen Ungehorsam wird ein Bruch mit dem Status quo hingegen nicht möglich sein. Hierbei wird zugleich deutlich, wie nahe die Idee der Transformation den Überlegungen von Rosa Luxemburg zum Verhältnis von Reform und Revolution kommt. Konkrete Kämpfe für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen sollen demnach immer mit der Perspektive auf einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel geführt werden.
Eine ständige Aufgabe und Herausforderung bleibt es schliesslich, die Akteure in all diesen Kämpfen für mehr Freiheit, Gleichheit und Solidarität zu verbinden und ihnen das Gemeinsame ihrer Kämpfe aufzuzeigen. Gerade hieran krankt die Linke mit ihrem ewigen Hang zur Sektiererei besonders und gerade darin liegt eine Hauptaufgabe für linke Parteien wie die JUSO und SP: Verschiedenen „transformatorischen Akteur*innen“ eine Plattform für ihre Anliegen bieten, auf die jeweils anderen Kämpfe hinweisen und darauf verbindende, politische Antworten finden und zusammen durchzusetzen.
Zum Weiterlesen:

  • Rolf Reissig: Transformation – ein spezifischer Typ sozialen Wandels. Ein analytischer und sozialtheoretischer Entwurf, in: Michael Brie (Hrsg.): Perspektiven der Transformation im Kapitalismus über ihn hinaus, Westfälisches Dampfboot, Münster 2014.

  • Alex Demirović: Transformation und Ereignis. Zur Dynamik demokratischer Veränderungsprozesse der kapitalistischen Gesellschaftsformation, in: Michael Brie (Hrsg.): Futuring. Perspektiven der Transformation im Kapitalismus über ihn hinaus, Westfälisches Dampfboot, Münster 2014.

  • Erik Olin Wright: Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus, Suhrkamp, Berlin 2017.

  • Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution?, Berlin 1899.

[i] Beide Male Cédric Wermuth/Pascal Zwicky: Die Zukunft gestalten! – Die SP als treibende Kraft transformatorischer Politik, in: PS Zeitung, 18/2015; Make Social Democracy Great Again, 10 Thesen zum transformatorischen Aufbruch der Sozialdemokratie, in: Widerspruch 69/2017.
[ii] Pascal Zwicky: „Mehr Demokratie“ als Ausweg aus der multiplen Krise, in: Denknetz-Jahrbuch 2015. Zerstörung und Transformation des Gemeinwesens, Edition 8, Zürich 2015.
[iii] Erik Olin Wright: Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus, Suhrkamp, Berlin 2017.