It’s the economy, stupid!

05.03.2017

Wird der schrittweise Rückbau des Staates in Grossbritannien unter die Lupe genommen, zeigt sich, dass der Brexit ein Symptom verfehlter wirtschaftsfreundlicher Politik ist. Ohne progressive Alternative zum Status quo droht Europa weiter Rückzug in die Nationalstaaten.
Text: Simeon Marty *
Jenseits des Ärmelkanals ist die Welt im letzten Juni aus den Fugen geraten. Die konservative Tory-Regierung um Premierministerin Theresa May plagt sich mit der Herausforderung, die Europäische Union zu verlassen und gerät dabei zunehmend in Schieflage. Zerfall und Fremdenfeindlichkeit liegen in der Luft. Doch das Zittern des Establishments bleibt nicht auf London beschränkt. In ganz Europa befinden sich die Kräfte einer nationalistischen Internationalen im Aufwind. Wird der schrittweise Rückbau des Staates in Grossbritannien unter die Lupe genommen, wird ebenfalls klar, weshalb die Technokraten in Deutschland und Frankreich Gefahr laufen, im anstehenden Wahljahr von den Kryptofaschisten der Alternative für Deutschland (AfD) und dem Front National (FN) überrumpelt zu werden.
In Grossbritannien herrscht seit der berüchtigten Regierungszeit Margaret Thatchers von 1979 bis 1990 das Dogma des Neoliberalismus: Die Privatwirtschaft würde effizienter funktionieren als ein bürokratischer Staat. Wird dieser auf das Minimum rückentwickelt, würde eine Wirtschaft frei von Regulierungen für eine gerechte Welt sorgen. Der Ausverkauf des fast kompletten Staatseigentums – Trinkwasserleitungen (1989), Bahnstrecken (1993), Postbriefkästen (2013), um nur einige zu nennen – war einer der mannigfaltigen Einschnitte nach neoliberalem Credo. Ab den 1990er-Jahren hat sich auch die britische Sozialdemokratie, die Labour-Partei, unter dem Einf luss des rechten « New Labour »-Parteiflügels am Staatsabbau beteiligt. In den Händen der Privatwirtschaft wurde die Infrastruktur zur Milchkuh: Die Preise wurden so weit als möglich erhöht, um maximale Gewinne zu erzielen. Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur wurden nur noch getätigt, wenn es absolut notwendig war, um den Profit der Privatinvestoren nicht zu schmälern. Besonders nach der Finanzkrise 2008 blieben sie ausserhalb der grossen Städte wie London oder Manchester vermehrt ganz aus. Ohne Investitionen schlitterten ganze Regionen und Berufsketten in eine Krise, besonders in den ehemaligen Industriegebieten Nordenglands. In der Hoffnung, Privatunternehmen zu Investitionen zu motivieren, senkte die britische Regierung die Zinsen auf Darlehen: Unternehmen konnten sich also günstiger Geld leihen. Dahinter steckte die Idee, dass dieses Kapital verwendet würde, um frische Projekte zu tätigen und damit neue Anstellungen zu schaffen. Das Gegenteil trat ein: Grossunternehmen liehen sich zwar gerne günstiges Geld, dieses wurde jedoch anstelle physischer Investitionen zwecks Gewinnoptimierung in den Aktienmarkt gepumpt. Jahrzehnte eines Klassenkampfs von oben nach unten haben ihre Spuren hinterlassen. Besonders strukturschwache Gebiete, beispielsweise in Nordengland, haben sich überproportional stark für den Austritt aus der EU ausgesprochen. Notabene in klassischen Hochburgen der Labourpartei, welche sich für den Verbleib in der EU engagiert hatte. Die rechtsnationalistische Partei UKIP führte Migrant_innen aus der Europäischen Union als Sündenböcke vor. Es greift jedoch zu kurz, Brexit-Befürworterinnen und Befürworter bloss als Fremdenfeinde abzustempeln. Perspektiven in Form von gutbezahlten Arbeitsstellen, erschwinglichen Wohnungen, einer funktionierenden Krankenkasse – kurz: Würde – fehlen real in der Unter- und Mittelschicht. Die Mitglieder der Eliten, die Krawatten auf ihren Bierbäuchen jonglieren, sollten eine Ohrfeige für ihre jahrelange verfehlte Politik bekommen. Nur stellt sich das Problem: Die konservative Regierung denkt nach der Abstimmung nicht daran, ihren Kurs zu ändern. Die Sparideologie wird weiter verfolgt. Die Linkspartei hat zwar zum ersten Mal seit den 1990er-Jahren wieder eine kämpferische Parteiführung, diese wird aber von den wirtschaftsfreundlichen Parlamentsmitgliedern aus den eigenen Reihen zerfleischt. Werden die Hoffnungen, welche Brexit zu Tage gefördert hat, nun weiter nicht erfüllt, behalten Rechtspopulisten mit dem Beschuldigen allen Fremdes die stärksten Karten und können ihren Einfluss ausbauen.
Die Problemstellungen in strukturschwachen Regionen Westeuropas ähneln sich. In Frankreich und Deutschland punkten die Rechtsaussenbewegungen ebenfalls mit den Versprechen eines exklusiven Wohlfahrtsstaates für die weisse Ursprungsbevölkerung. Sie machen für Sparprogramme und fehlende Investitionen die Europäische Union verantwortlich, für soziale Spannungen Migrant_innen. Als Lösung wird soziale Sicherheit, mit guten Löhnen und Renten, hinter elektrischen Zäunen nationaler Grenzen propagiert. Der Brexit steht nicht isoliert auf der englischen Insel, er ist Teil einer europäischen Krise der Austeritätspolitik. Ein siegreicher Aufstand gegen den Neoliberalismus von gruseligem Ursprung. Gegen den Aufschwung der nationalistischen Internationalen muss das Establishment umdenken. Führen die progressiven Kräfte einen Schmusekurs mit austeritären Konservativen und Nationalisten, führt das in die Katastrophe. Die Lösung liegt in der längst überfälligen Abkehr von einer verfehlten Wirtschaftspolitik, welche nur einer Elite dient. Ohne starke Gewerkschaften, gerechte Rückverteilung und Service Public funktioniert Europa nicht.
* Simeon Marty studiert derzeit in London.