Bei der Bewältigung der aktuellen Krise geht es in erster Linie darum, das Wirtschaftssystem zu retten. Die Regierungen, egal ob kantonal oder national, betrachten das Corona-Virus durch ihre kapitalistischen Scheuklappen in erster Linie als Bedrohung für die Profitrate des Kapitals. Der Ablauf der Krise aus der Perspektive von Federica Caggia, Vorstandsmitglied der JUSO Tessin.
Ende letzten Jahres begann die Ausbreitung des Corona-Virus in China. Ich erinnere mich daran, die mediale Berichterstattung über das Virus für eine Ablenkung von den drängenden Problemen gehalten zu haben. Fast niemand hätte geahnt, dass daraus nur einige Wochen später eine globale Pandemie werden würde.
Doch in weniger als einem Monat haben sich die Infizierten und die Todesfälle in ganz Asien vervielfacht und Ende Januar erreichte das Virus Europa und andere Kontinente. Anfang Februar lagen erste Studien – aus dem Chinesischen übersetzt – über die Risiken und die Ausbreitung von COVID-19 vor.
Die erste Ansteckung in der Schweiz erfolgte in der zweiten Februarhälfte im Tessin. Bei uns war bereits Fasnacht, eine lang erwartete und geschätzte Festivität. Der erste COVID-19-Patient in der Schweiz wurde am 25. Februar 2020 registriert. Am gleichen Tag fand der Abschluss der grössten und wichtigsten Fasnacht im Kanton statt: Der Rabadan in Bellinzona. 20’000 Menschen aus dem ganzen Tessin und sogar aus der Lombardei waren bei dieser Veranstaltung dabei. An diesem 25. Februar hat der Staatsrat beschlossen, alle Feiern ab dem 27. Februar zu beenden. Das führte zu Entrüstung unter den Fasnächtler*innen, die um die nächsten Festwochen beraubt wurden und zu Angst unter denen, die sich vor der unbekannten Krankheit fürchteten. Nach den ersten Fallzahlen gab es einige Aufrufe aus der Zivilgesellschaft, Menschenansammlungen zu stoppen oder Schulen zu schliessen. Aber die Mehrheit der Öffentlichkeit interessierte sich nicht für das Thema und war überzeugt, dass die Hysterie unbegründet sei und man weiter machen solle, wie normal. Es half nicht, die Bevölkerung vom Ernst der Situation zu überzeugen, dass entgegen jedem Menschenverstand ein Umzug mit 20’000 Personen stattfand, während kleinere Umzüge verboten wurden. Im Kanton Tessin begann der Streit um das richtige Handeln gegen dieses Virus, aber die Mehrheit der Bevölkerung war immer noch überzeugt davon, immun dagegen zu sein. Als Zeugin der Wut meiner Mitbüger*innen kann ich mir gut vorstellen, was es für den Rest der Schweiz bedeutete, die Fasnacht abzusagen, wo die Bedrohung noch so weit weg schien.
Nach dem ersten Todesfall im Tessin Anfang März wurde der Ruf nach der Schliessung der Schulen und der Einführung von wirksameren Massnahmen lauter. Die Bevölkerung im Tessin wurde sich allmählich der Gefahr bewusst, in der wir uns befanden. Das Beispiel Italiens hatte auch die härtesten Kritiker*innen der «kollektiven Hysterie» in Angst und Schrecken versetzt. Der Saatsrat musste, nachdem er bereits öffentliche Dienstleistungen (Restaurants, Bars, Kinos, Theater, Schönheits- und Coiffeursalons usw.) geschlossen hatte, der wachsenden Besorgnis der Bevölkerung Rechnung tragen. Nach mehreren Petitionen beschloss er am 13. März die Schliessung einiger Schulen. Die obligatorischen Schulen (für Kinder zwischen 6 und 14) blieben offen. Viele sahen dieses unvollständige Vorgehen als Kalkül: Die Eltern sollten weiter an ihrem Arbeitsplatz für die Profite anderer arbeiten können. Die Unzufriedenheit darüber war in der Bevölkerung gross und trotz des Verbotes von Kundgebungen waren diese sehr schnell organisiert. Am Tag darauf beschlossen zwei der wichtigsten Städte des Kantons, Locarno und Lugano, ihr Primarschulen zu schliessen. Am Freitag derselben Woche kündigte der Bundesrat die Schliessung sämtlicher Schulen in der Schweiz an. Er hatte den Widerstand der Bevölkerung im Kanton Tessin gegen die Offenhaltung der obligatorischen Schulen zu Kenntnis genommen.
Diese Situation unterstreicht einmal mehr (wie so oft in Krisenzeiten) die kulturellen Unterschiede in der Schweiz. Lange vor der Schliessung der Schulen waren Tweets von gewissen Deutschschweizern viral: Sie forderten die Schliessung des Gotthards. Diese Forderung ist nicht nur verfassungswidrig, beleidigend und diskriminierend, sondern auch völlig sinnlos. Warum die Binnengrenzen schliessen, während die Aussengrenzen offen bleiben? Ein weiteres Beispiel: Obwohl der Bundesrat die Schliessung der Geschäfte kurz nach dem Tessiner Staatsrat beschloss, liefen in der zweiten Märzhälfte 80% der wirtschaftlichen Aktivitäten immer noch. Die Geschäfte wurden geschlossen und man schob die Schuld auf die Individuen, die sich besser schützen sollten. Gleichzeitig mussten Tausende unter Bedingungen weiterarbeiten, unter denen die Hygienevorschriften des Bundes unmöglich eingehalten werden konnten. Im Tessin war die Forderung der Bevölkerung klar: Alle nicht notwendigen Aktivitäten sollten im Interesse der Gesundheit eingestellt werden. Die Menschen fürchteten sich um ihre Gesundheit. Als der Tessiner Staatsrat am 22. März die Einstellung sämtlicher nicht-notwendiger Aktivitäten beschloss, pfiff ihn der Bundesrat kurzerhand zurück und erklärte dies für illegal. Die Tessiner Regierung erklärte live im Fernsehen, von der Landesregierung im Stich gelassen worden zu sein. Der Staatstat hielt dem Druck des Bundesrates, der besessen von den Profitverlusten für das Kapital handelte, stand. Nach einer wochenlangen Diskussion wurde die Situation im Kanton «legalisiert», das Unverständnis der Landesregierung gegenüber der kantonalen Situation war aber klar geworden.
Wir haben immer gedacht, vom Unglück verschont zu bleiben. Alle haben das gedacht. In Italien dachte man das und auch im Tessin. Und ich glaube, in der Deutschschweiz und in der Romandie wird der gleiche Fehler wiederholt. Der Bundesrat spricht bereits von einer Lockerung des Lockdowns ab dem 26. April. Ich rufe euch auf, über das nachzudenken, was ich vorher dargelegt habe: Die restliche Schweiz hat fast gleichzeitig wie das Tessin die Fasnacht abgesagt und die Schulen geschlossen wie das Tessin. Das gab euch einen Vorteil: Versammlungen wurden abgesagt, noch lange bevor das Gesundheitssystem durch COVID-19 an den Anschlag gebracht wurde. Der Unterschied in den Ansteckungszahlen ist nicht auf vermeintliche Tugenden zurückzuführen, sondern auf das Versammlungsverbot, durch das sich die Ausbreitung verlangsamte. Diese Verbote wurden in der restlichen Schweiz nach dem Vorbild der Regierung im Tessin erlassen. Es ist nicht der Zeitpunkt, sich über Einschränkungen der persönlichen Freiheit zu beschweren. Es geht immer noch darum, die Hygienestandards einzuhalten und so gut wie möglich zu Hause zu bleiben. Wenn die Standards auf der Arbeit nicht eingehalten werden, liegt das nicht daran, dass keine Gefahr mehr besteht. Niemand ist unverwundbar.
Wenn ich meinen Kanton anschaue, denke ich, dass die Regierung extrem lange nur das Kapital schützen wollte und bereit war, dafür Menschenleben zu opfern. Doch verglichen mit dem Bundesrat hat die Regierung im Kanton Tessin vorbildlich gehandelt. Im Rest der Schweiz ist das Bewusstsein für die Situation offenbar noch nicht angekommen. Auch der Staatsrat im Tessin hat vor allem die Interessen der herrschenden Klasse verteidigt, doch er hat auf die Sorgen der Bevölkerung gehört, als es auf der anderen Seite des Tessins keine Empathie für uns gab. Das Gesundheitssystem ist deshalb noch nicht zusammengebrochen, weil die restliche Schweiz dem Beispiel aus dem Tessin gefolgt ist. Doch es war nicht leicht, dafür Gehör zu finden.
Das Virus wird sich weiterverbreiten, wenn wir nicht die nicht-notwendigen Aktivitäten einstellen. Am 9. April übertrafen die relative Ansteckungen im Kanton Genf die des Tessins. Man kann also gut annehmen, dass die Massnahmen im Tessin die Ausbreitungsgeschwindigkeit verlangsamt haben. Die Pandemie wird leider noch lange nicht vorüber sein. Und solange der Grossteil noch zur Arbeit gezwungen wird, können wir uns gut vorstellen, dass es mehr Tote geben wird. Jetzt muss der Bundesrat Verantwortung übernehmen. Doch in der Zwischenzeit liegt es an uns, die Situation ernst zu nehmen und zu versuchen die schmerzhaften Massnahmen umzusetzen. Diese Pandemie hat uns mit grosser Präzision gezeigt, wo die Grenzen und die Widersprüche des kapitalistischen Systems liegen. Wir können nicht zulassen, dass wir nach dieser Krise mit derselben Logik weitermachen, die uns in diese gesundheitliche Katastrophe gebracht hat. Wir müssen jetzt damit beginnen die nötigen strukturellen Veränderungen zu erkämpfen, damit wir den Kapitalismus überwinden und eine freiere und gerechtere Welt erreichen können.
Von Federica Caggia, Vorstandsmitglied der JUSO Tessin
15.04.2020
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Federica Caggia