Am 4. August erschütterte eine riesige Explosion Beirut, die Hauptstadt des Libanon, als 2750 Tonnen Ammoniumnitrat in Brand gerieten. Die Explosion tötete über 200 Menschen, Tausende wurden verletzt. In ganz Beirut wurden Türen und Fenster aus den Angeln gerissen und Hunderttausende Menschen verloren ihr Dach über dem Kopf. Doch die Situation war schon lange vor der Explosion prekär:
Die Infrastruktur im Libanon ist völlig unzureichend: Trinkwasser muss man teuer in Läden kaufen, der Strom fällt täglich für mindestens drei Stunden aus – in den letzten Monaten war es meist sogar länger -, die Strassen sind schlecht unterhalten und öffentlichen Verkehr gibt es eigentlich nicht. Ausserdem leben im Libanon 1.5 bis 2 Millionen Geflüchtete aus Palästina und Syrien – und das in einem Land mit insgesamt nur gut 6 Millionen Einwohner*innen.– Die Situation der Geflüchteten ist schlimm: Sie leben zum Teil seit Jahrzehnten in Lagern ohne Infrastruktur und ohne Sicherheit. Kriminalität gehört zu ihrem Alltag, viele der Geflüchteten halten sich mit kleinen halblegalen oder illegalen Geschäften über Wasser. Geflüchtete ausserhalb der Lager dürfen zwar arbeiten, allerdings auch nur als Putzkräfte oder in der Abfallentsorgung. Sie werden regelmässig Opfer von Xenophobie und Racial Profiling.
Eine weitere prekarisierte Gruppe im Libanon sind Frauen* im sogenannten Kafala-System, das im ganzen arabischen Raum verbreitet ist. Dieses System ermöglicht es Frauen* aus Ländern des globalen Südens in den Libanon einzureisen – allerdings nur durch eine Bürgschaft (Kafala bedeutet auf Arabisch Bürgschaft). Die Frauen* sind anschliessend ihren Bürg*innen komplett ausgeliefert: Wenn sie Glück haben, arbeiten sie zu humanen Arbeitszeiten und erhalten einen vertretbaren Lohn. Das ist allerdings keinesfalls der Normalfall. Viele Frauen im Kafala-System leben beinahe in Sklaverei: Sie arbeiten täglich fast rund um die Uhr als Hausangestellte für meist unter 200 Dollar pro Monat. Sie dürfen sich nicht frei bewegen und ihre Pässe werden von den Bürg*innen eingezogen. Sie können das Land erst wieder verlassen, wenn der*die Bürg*in dies will. Bei Übergriffen, die zur Tagesordnung gehören, sind sie wehrlos und Möglichkeiten, sich mit anderen auszutauschen oder sich zu organisieren bestehen kaum.
Neben all diesen Problemen kämpft der Libanon seit Jahren mit einer Wirtschaftskrise: Dem Staat fehlt das Geld, die Banken sind kollabiert, die Inflation hat vor allem im letzten Jahr rasant zugenommen. Als dann die Regierung vor einem Jahr auf Anrufe, die übers Internet getätigt werden, eine Steuer erheben wollte, brachte sie das Fass zum Überlaufen: Die libanesische Zivilbevölkerung begann sich zu wehren. Die Menschen organisierten sich, veranstalteten Protestaktionen, demonstrierten. Sie forderten Veränderung. Denn die Probleme im Libanon haben tieferliegende Gründe:
Das politische System im Libanon basiert auf Konfessionalismus: Die wichtigen Posten in Regierung und Parlament sind jeweils für eine der grossen Konfessionen reserviert. So ist zum Beispiel der Premierminister immer sunnitisch, der Präsident maronitisch (christlich) und der Parlamentssprecher schiitisch. Dieses System ist einerseits Ausdruck der gespaltenen Bevölkerung des Libanon – und verstärkt diese Spaltung andererseits weiter. Jede religiöse Gemeinschaft unterstützt ihre Politiker*innen, ihre Elite – auch wenn diese Elite genauso korrupt ist wie die Eliten der anderen Religionsgemeinschaften und Politiker*innen sich gegenseitig Ämter und Gelder zuschieben. Der Konfessionalismus existiert schon seit dem 19. Jahrhundert, wurde aber während dem französischen Mandat und seit der Unabhängigkeit des Landes noch gestärkt. Auch in den 15 Jahren Bürgerkrieg wurden die Konfessionen instrumentalisiert und bis heute sind die politischen Parteien nicht über Inhalte, sondern über die Konfessionen definiert. Doch im letzten Herbst, zur Zeit der ersten Demonstrationen, kämpften zum ersten Mal Menschen aller Konfessionen gegen die Eliten – und zwar nicht nur gegen die Eliten der anderen, sondern auch gegen die eigenen. Die Korruption wurde angeprangert und die Menschen forderten einen Systemwechsel. Teile der Bewegung sahen das Problem im Kapitalismus und forderten dessen Überwindung. Bis heute gibt es nämlich kaum Regulierungen im libanesischen Staat: Es existiert zum Beispiel kein System von Sozialversicherungen. Grosse internationale – aber auch libanesische – Konzerne bauen Luxushotels, wo Leute aus aller Welt und besonders aus den Golfstaaten absteigen und viel Geld liegen lassen. Doch profitieren davon nur die Konzerne und die reiche Oberschicht, während gleichzeitig Menschen auf der Strasse verhungern. "Beirut war entfesselter Kapitalismus ohne Schranken, ohne Aufsicht, ohne Rechtsstaat, ohne Transparenz. Manchmal war der Anblick von bettelnden Strassenkindern neben dicken Autos schlicht unerträglich" schrieb die Republik treffend.
Mit der Protestbewegung kam Hoffnung auf - Hoffnung, etwas verändern zu können, Hoffnung, dass ein Systemwandel möglich sei, wenn die 99% zusammenhalten. Doch durch Corona und den Lockdown, der im Libanon sehr streng war, wurde die Bewegung stark gebremst. Gleichzeitig wurden die Probleme schlimmer – oder sichtbarer: Viele Geflüchtete, die vom Verkauf auf der Strasse oder von Arbeiten in der Gastronomie lebten, verloren ihr Einkommen und die Situation in den Lagern verschlechterte sich weiter. Die Wirtschaftskrise wurde durch Corona und den Lockdown massiv verschärft, die Inflation nahm weiter massiv zu, immer mehr Leute glitten in die Armut ab. Heute leben mehr als die Hälfte der Menschen im Libanon in Armut, viele können sich kaum mehr die Grundnahrungsmittel leisten. Frauen* im Kafala-System wurden auf die Strasse gestellt – während des Lockdowns. Sie verloren ihr Einkommen, ihr Dach über dem Kopf, konnten aber gleichzeitig nicht in ihre Heimat zurück, solange die Bürg*innen das Arbeitsverhältnis nicht auflösten und ihnen den Pass zurückgaben.
Der Libanon war also eigentlich schon im Juli am Ende seiner Kräfte – und dann kam die Explosion. Und mit ihr die Zerstörung, die Traumata – und nun die Notwendigkeit, Beirut wiederaufzubauen. Wie so häufig im Libanon sprang die Zivilbevölkerung in die Lücke, die durch die Untätigkeit und Unfähigkeit der Regierung entstand. Die Leute boten einander Schlafplätze an, es wurde gekocht, geflickt, geholfen. Doch gleichzeitig wuchs auch die Wut: Wie konnte es sein, dass fast 3000 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen, so nahe an dicht bewohnten Quartieren, unsachgemäss gelagert wurden? Wer trägt die Schuld am Feuer, das die Explosion auslöste? Wer trägt die Schuld an dieser Katastrophe? Einiges deutet darauf hin, dass die Regierung vom Ammoniumnitrat wusste. Ob es in ihrer Verantwortung gelegen hätte, es zu entsorgen oder weiterzuverkaufen, ist umstritten. Klar ist: Die Leute an der Macht hatten ihre Arbeit wieder einmal nicht gemacht. Und so gingen die Libanes*innen erneut auf die Strasse - diesmal mit mehr Wut und weniger Hoffnung. Die Repression folgte sofort: Es wurde Tränengas eingesetzt, Gummischrot, und sogar kleine Metallkügelchen, die möglicherweise einen Menschen töten könnten. Die Proteste zeigten aber auch Wirkung: Die Regierung trat zurück und es gab einen Wechsel an der Spitze. Der neue Premierminister, Mustafa Adib, gehört aber genauso zum Establishment wie sein Vorgänger Hassan Diab. Den Versprechen, es werde die nötigen Reformen geben, glauben viele nicht mehr. Weitere Feuer im Hafen heizten die Stimmung zusätzlich an: Wer steckte dahinter? Handelte es sich auch um Unfälle? In den sozialen Medien sind sich viele einig: Die Regierung versuchte, Beweismaterial zu zerstören, das zur Aufklärung der Explosion dienen könnte. Andere stellten die Frage, ob die Hizbollah oder sogar Israel hinter den weiteren Bränden stecken könnten. Denn auch dieser Konflikt ist nach wie vor präsent im Libanon und stets kurz davor, zu eskalieren. Die Hizbollah ist einerseits ein politische Partei, hat aber andererseits eine Miliz und kontrolliert den Süden des Landes. Schon durch den Wahlsieg der Organisation und ihrer Verbündeten im Jahr 2018 wurde das Gleichgewicht zwischen Hizbollah und libanesischem Staat verändert. Nun fürchten viele ein weiteres Erstarken der Organisation, denn bereits in früheren Krisenzeiten gewann die Hizbollah häufig an Unterstützung: Gerade in Krisenzeiten fällt ins Gewicht, dass sie Aufgaben übernimmt, bei denen der Staat versagt. Eine solche Stärkung der Hizbollah könnte jedoch das Kräfteverhältnis im Libanon total aus dem Gleichgewicht bringen. Mit der explosiven Stimmung und all den Problemen und der Wut, die es gibt, könnte dies fatal enden. Im Libanon selber halten es viele Menschen für möglich, dass die Situation eskaliert und es zu einem neuen Bürgerkrieg kommt. Auch Libanonexpert*innen warnen davor.
Die JUSO Schweiz hat sich in einer Resolution mit dem Libanon solidarisiert. Sie solidarisiert sich mit der Protestbewegung, die sich wehrt gegen die Korruption und gegen die Elite. Wir solidarisieren uns mit dieser Bewegung, die massgeblich von Frauen getragen ist; die es geschafft hat, die Gräben zwischen den Konfessionen zu überwinden; die sich gegen die Ausbeutung der Ärmsten und Schwächsten, der Geflüchteten, der Frauen* wehrt.
Die JUSO fordert deshalb auch die finanzielle Unterstützung der Zivilbevölkerung durch die Schweiz - mit Zahlungen an lokale, libanesische, nicht-profitorientierte NGOs. Viele NGOs ermöglichen die Grundversorgung, setzen sich aber auch für den Wiederaufbau der Infrastruktur ein. Dies holt nicht nur Menschen aus der absoluten Armut und dem Hunger, sondern schafft auch Arbeitsplätze und gibt Menschen Perspektiven. Ein Wiederaufbau der Infrastruktur ist aber nicht nur nötig, um das Leben der Menschen zu verbessern, sondern auch, um ihnen Alternativen zur Hizbollah aufzuzeigen. Das ist ein kleiner, aber wichtiger Beitrag zur Entschärfung der Situation.
Ausserdem ist die Schweiz nicht unschuldig: Seit dem Anfang der Proteste vor einem Jahr sind massiv Gelder aus dem Libanon in die Schweiz geflossen – Gelder, deren Ursprung ungeklärt ist, die aber wohl durch Korruption erworben wurden. Die JUSO fordert deshalb das Einfrieren dieser Gelder.
Die JUSO solidarisiert sich aber vor allem auch mit den Schwächeren und fordert deshalb die sofortige Aufnahme von Geflüchteten. Deren Situation ist untragbar und der Libanon kann mit einer solchen Last nicht alleine gelassen werden - gerade in dieser äusserst schwierigen Zeit.
Als feministische Partei ist es für die JUSO inakzeptabel, dass ein System wie das Kafala-System noch immer in der ganzen arabischen Welt existiert. Es kann nicht sein, dass Tausende Frauen* ohne Rechte und ohne Sicherheit dastehen, dass sie ausgebeutet und missbraucht werden. Deshalb fordert die JUSO, dass sich der Bundesrat in der internationalen Gemeinschaft für die Abschaffung dieses menschenverachtenden Systems einsetzt.
Die JUSO solidarisiert sich mit den Protestierenden, mit den Geflüchteten, mit den Frauen. Die JUSO solidarisiert sich mit den 99%.
Hinweis: Dieser Beitrag wurde verfasst, bevor die Bildung einer neuen Regierung im Libanon gescheitert ist.