Winnetou und Sarrazin

06.09.2010

Von der Partei "die Linke" bis zur CSU, vom Zentralrat der Juden in Deutschland bis zu jenem der Muslime, von SPD-Boss Sigmar Gabriel bis zur CDU-Kanzlerin Merkel: Alle sind sich einig. Thilo Sarrazin sei ein wahnsinniger Rassist, ein Antisemit, ein Sozialdarwinist, ein islamophober Spinner.
Die Empörung über Sarrazin und sein eben erst veröffentlichtes Buch ist allerdings Heuchelei.

Sarrazin vertritt eigentlich ganz herkömmliche neoliberale Thesen. Er teilt die Gesellschaft in zwei Gruppen ein: Hier die anständigen und arbeitenden Menschen, da faule Ausländer, Scheininvalide und Sozialschmarotzer. Jedes Problem in Deutschland lasse sich auf die Einwanderung türkischer Muslime zurückführen. Eigentlich nichts neues. Sarrazin – PR-Profi durch und durch – polemisiert bloss etwas stärker als andere. Je heftiger die Reaktion der "Eliten", desto höher die Verkaufszahlen seines Buches. Auch in der Schweiz kennen wir dieses Spiel: je heftiger sich die Linken über die bösen Plakate der SVP aufregen, umso mehr Platz erhält das Anliegen in den Medien und in den Köpfen der Menschen. Am besten ist es für die SVP, wenn Rot-Grün regierte Städte die Plakate sogar verbieten.
Leute wie Sarrazin totzuschweigen ist jedoch der falsche Weg. Das funktioniert gar nicht. Innerhalb des demokratischen Spektrums sollte man keine Diskussionen scheuen. SPD, "die Linke" und die Grünen sollten ihre Gegenargumente vorbringen. Einfach "Rassist!" zu schreien bringt nichts und überzeugt niemanden.
Sarrazins Antworten sind falsch. Er stellt nicht einmal die richtigen Fragen. Die Reaktionen auf ihn fallen aber nicht zuletzt deshalb so heftig aus, weil sich viele Linke vor Themen wie Integration und Einwanderung fürchten. Und sie leiden unter einem "Winnetou-Komplex". AusländerInnen und MigrantInnen sind für sie „edle Wilde“. "Uiii, wie diese Tamilen-Mädchen schön tanzen." oder "Mhhh, das kurdische Essen an der Mai-Feier war ausgezeichnet." Der überdurchschnittliche Anteil von Secondos in der Fussball-Nati wird als Zeichen einer gelungenen Integration gewertet. Doch das Gegenteil ist wahr. Er zeigt, dass die Schweizer Gesellschaft jungen Ausländern nicht viel mehr zu bieten hat als eine Fussball-Karriere. Leider wird nur aus vielleicht einem von tausend Junioren ein Behrami, ein Derdiyok oder ein Dzemaili.
Ein anderes Beispiel: Viele Quartiere mit hohem Ausländeranteil haben Probleme. Höhere Kriminalität, schlechtes Preis-Leistungs-Verhältnis der Wohnungsmieten, geringe Aufstiegschancen für die Jugendlichen. Diese Stadt-Teile einfach als Multikulti-Oasen und Inspirations-Quellen für KunststudentInnen zu betrachten ist nicht nur falsch, sondern auch rassistisch.
Eine sozialdemokratische, emanzipatorische Politik muss die Probleme der Menschen ernst nehmen und mit zusammen mit ihnen Lösungen suchen. Wie ein Kaninchen vor der rechten Schlange zu erstarren ist keine Lösung. Den Bannstrahl politisch korrekter Gesinnung auf die Sarrazins dieser Welt zu richten ebenso wenig.