Worüber wir nicht reden

25.11.2015

35% aller Frauen auf der Welt erleben mindestens einmal in ihrem Erwachsenenleben einen körperlichen oder sexuellen Übergriff. In der Schweiz werden 2 von 5 Frauen irgendwann in ihrem Leben ein direktes Opfer von Gewalt. Obwohl solche Erlebnisse einen grossen Anteil aller Frauen betreffen, ist besonders das Thema der sexuellen Gewalt noch immer Tabu und von Klischees geprägt.
Anlässlich zum internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen* brechen die Geschäftsleitungsmitglieder Virginia Koepfli und Andrea Scheck ihr Schweigen und sprechen über ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt. Für sie ist klar: Bei sexuellen Übergriffen gibt es keine Norm. Jeder Fall ist für sich einzigartig, auf jede Gemeinsamkeit kommen zahlreiche Unterschiede. In diesem Dialog rollen sie ihre Erlebnisse noch einmal auf, stellen sich gegenseitig Fragen zum Geschehenen und reden darüber, wie sie heute damit leben: Ohne Scham, erfahrener und stärker als Überlebende sexueller Gewalt. #IWannaBeFree #wirlebenwiewirwollen
„So einen Dialog anzufangen ist nicht gerade einfach. Meistens hilft es hier zuerst das Grundlegende zu klären. Was ist dir passiert? Wie nennst du das Geschehene für dich selber? Und warum?“
A: Am Anfang habe ich es gar nicht benannt. Es war also einfach Sex. Ich war vorher noch Jungfrau und hatte nicht besonders viel Ahnung, wie Sex sonst sein sollte. Erst über ein Jahr später merkte ich, dass das Geschehene nicht in Ordnung war. Ich hatte erst grosse Mühe, es als Vergewaltigung zu bezeichnen. Der Begriff ist so gross und vorgeprägt. Die meisten Leute haben ein sehr brutales, sehr krasses Bild einer Vergewaltigung, und ich trug damals in mir immer noch den Gedanken „Es war nur ein Versehen, ich hab einfach nicht deutlich genug Nein gesagt.“ Ich brauchte im Laufe der Zeit verschiedene Begriffe wie rape oder sexueller Übergriff. Erst seit Kurzem kann ich es laut und deutlich als Vergewaltigung bezeichnen. Das Wort ist einfach stärker und es trägt für mich eine Wut, eine Empörung mit, die ich brauche. Klar, der Begriff ist in unserer Gesellschaft schon extrem geprägt, oft durch falsche Klischees. Die Leute denken bei “Vergewaltigung” an ein ganz klares Schema. Umso wichtiger finde ich, das Wort wieder selber zu prägen und zu zeigen: Das ist eine Vergewaltigung, auch wenn euer stereotypes Bild davon anders aussieht.
V: Ich sehe das sehr ähnlich. Lange habe ich nicht darüber geredet und es verdrängt. Dann habe ich gemerkt, dass irgendetwas nicht ok war an diesem Ereignis. Aber ich konnte es nicht Vergewaltigung nennen, weil das für mich ein Begriff ist, der so viele klare Elemente beinhalten muss, die bei mir so nicht vorgekommen sind. Ich dachte die Story sei nicht schlimm genug, um sie als Vergewaltigung zu betiteln. Darum sprach ich immer von einem sexuellen Übergriff, auch wenn ich mir heute bewusst bin, dass dies praktisch gleichzusetzen ist mit einer Vergewaltigung. Doch ich ziehe den Begriff noch heute vor, denn meiner Meinung nach trägt er eine andere Botschaft, die ich ausdrücken will: es sind Grenzüberschreitungen. Es gibt Schattierungen und Facetten; nicht Stufen und Regeln.
„Wie kam es zu dem, was dir passiert ist? Wie hast du den anderen Menschen kennengelernt? Versuchte er, dich zu den Handlungen zu überreden?“
A: Wir lernten uns auf einer Party kennen und küssten uns dort auch sehr schnell. Er gab mir seine Nummer und fragte mich mehrmals, ob ich nicht zu ihm kommen will. Irgendwann tat ich das. Neben mir und ihm waren noch drei seiner Freunde dabei. Ich war die Jüngste und meinte, ich musste ihnen was beweisen. Ich wollte mich cool geben, trank zu schnell zu viel Alkohol und fühlte mich überfordert. Seine Freunde verschwanden, und ich fragte ihn, wie ich denn noch nachhause kommen sollte. Er meinte, ich sollte hier schlafen, bat mir sogar das Sofa an. Ich wollte aber bei ihm im Bett schlafen. Mit jemandem zu kuscheln, das war so das, was ich damals schon kannte, womit ich mich wohlfühlte. So fing es dann auch an, er hielt mich und küsste mich, das war angenehm. Danach fing er schnell an, mich sehr grob anzufassen, mit seinen Fingern in mich einzudringen. Das tat echt weh. Er kratzte mich wund, innerlich. Uff, dabei schaudert es mir heute noch, das war ekelhaft.
Er war echt rücksichtslos. Mehrmals stiess ich seine Hand weg, platzierte sie anderswo, in der Hoffnung, er habe einfach keine Ahnung, was er tue, doch er hat immer wieder weitergemacht. Irgendwann sagte ich ihm, dass ich noch Jungfrau sein. Seine Antwort war ein plumpes: „Jetzt ist es zu spät.“
Meine Erinnerung ist bruchstückhaft. Ich sehe ihn nur noch über mir. Es tat so verdammt weh. Ich war wie gelähmt, mein Kopf stellte komplett ab. Ich bewegte mich gar nicht mehr. Dass ich anfing zu weinen merkte ich nur, weil meine Wangen plötzlich nass waren. Er manövrierte mich herum, und dann irgendwann – meinem Gefühl nach war es nach einigen Stunden – hörte er auf und legte sich neben mich. Ich bin eingeschlafen und als ich am frühen Morgen aufwachte, war er schon wieder in und über mir, hatte Sex mit meinem Körper.
Er hat nie versucht, mich zu etwas zu überreden oder meinen Konsens zu erwirken. Ich glaube, das war gar nie sein Ziel. Er wusste was er wollte, und wie er es nehmen konnte. Er nutzte schnell und rücksichtslos eine Situation aus, in die ich mich bewegt hatte und mit der ich klar überfordert war.
V: Das ist so typisch mit dem “Jetzt ist zu spät”.
A: Als gäbe es das! So eine Abmeldefrist beim Sex.
V: Wir waren auf Maturareise in Kroatien und ich lernte ihn bei einem Drink in einer Bar mit seinen Kollegen kennen. Am ersten Abend küssten wir uns, am zweiten sind wir zu mir nachhause gegangen. Da wurde ich von ihm immer wieder schrittweise überzeugt weiterzugehen. Ich war in dieser Zeit in einer monogamen Beziehung, da war Sex mit anderen Leuten als meinem Partner für mich moralisch falsch. Aber immer wieder meinte er: “Nein komm, wir gehen doch ins Schlafzimmer. Zieh doch deinen BH aus. Leg dich doch hin.” Wir machten miteinander rum und schnell wurde es sexuell. Eine Zeit lang war es sehr angenehm, danach fühlte es sich komisch an. Ich merkte dass er immer mehr wollte und ich nicht. Also brach ich das Ganze ab. In meiner damaligen Beziehung konnte ich gut Nein sagen ohne dass es mir böse genommen wurde, darum machte ich es auch hier. Bis dahin war alles ungezwungen, doch sobald ich mein Nein ausgesprochen hatte, wollte er mir ein schlechtes Gewissen machen. Als ich dann bei meinen Kolleg_innen wegen diesem Schuldgefühl Rat suchte, rieten sie mir, mich bei ihm zu entschuldigen. Aus Unsicherheit tat ich es. Und sofort war mein Nein nichts mehr wert. Er sagte, er verzeihe mir nur, wenn wir uns wieder treffen würden. Mir war dabei sehr mulmig zumute. Von da an hatte es nichts mehr mit Überzeugung zu tun, sondern mit Alkohol und damit, dass jetzt die Annahme galt, dass ich mein Nein ja doch nicht so gemeint hätte. Er sprach immer wieder davon, dass ich nur ein Spiel mit ihm spiele und er mich einfach zähmen müsse. Auch als er dann anfing Gewalt zu verwenden.
„Wenn du an das Geschehene zurückdenkst: Was ist dir am Bleibendsten, am Eindrücklichsten in Erinnerung geblieben?“
V: Die Reaktion meiner Kolleg_innen. Sie hatten die Chance, stark zu intervenieren. Ich bin vom Ort, wo es passiert es, zurück zu ihnen in den Beach Club. Einer Kollegin erzählte ich sofort, was passiert ist. Ich sah zerzaust aus, hatte Äste im Haar, mein BH war offen. Ich sagte direkt, dass etwas nicht gut war. Sie feierte aber, dass ich Sex gehabt hatte. Sie bemängelte mein Aussehen, richtete mich zurecht, ich weinte. Sie meinte nur: “Gib dir ein bisschen Mühe, ich lass mich auch nicht so gehen.” Ebenfalls blieb mir sein SMS nach dem Übergriff lange im Kopf: “By the way, I’m a Nazi”, schrieb er mir. Heute weiss ich, dass er mich damit absichtlich demütigen wollte.
A: Nachdem er mich penetriert hatte, mit mir Sex hatte – ich weiss noch, dass er nicht gekommen ist - rollte er sich von mir herunter und auf die Seite. Er schlang einen Arm um mich und kuschelte sich an mich wie ein liebevoller Partner. Ich weinte immer noch. Und gleichzeitig blutete ich. Das war ein schrecklicher Moment und beschäftigte mich auch im Nachhinein noch lange. Er hat sich verhalten, als ob das gerade Geschehene völlig in Ordnung und normal, sogar liebevoll gewesen wäre. Während es für mich eine der schlimmsten und demütigendsten Erfahrungen meines Lebens war.
Am nächsten Morgen, als ich mich zum Gehen bereit machte, löste er sein weisses Bettlaken und hielt es hoch. Er zeigte auf die Blutflecken, und sagte „Hey, nur wegen dir“. Nicht in einem bösen Ton, nicht aggressiv oder gefährlich, sondern halb belustigt, halb genervt. Als hätte ich ihm durch meinen Fehler jetzt eine lästige Unannehmlichkeit eingebrockt.
„Wie erlebtest du das Geschehene an sich?“
V: In Trance. Das Einzige, was ich aktiv erlebte, war, dass er sein Kondom ausziehen wollte. Und ich ihn immer wieder darum bitten musste, es nicht zu tun. Ansonsten habe ich fast keine Erinnerung an das Geschehene. Ich weiss noch, dass mir die vielen Tannennadeln am Boden in den Rücken stachen. Als ich ihm das sagte, drückte er mich noch stärker dagegen. In einem Buch zu diesem Thema, das ich gelesen habe, wurde von einer grossen Machtlosigkeit während dem Übergriff gesprochen. Das kann ich gut nachvollziehen, so war es für mich. Ich versuchte nur zwei-, dreimal, mich zu wehren, aber während der Penetration hab ich einfach ausgehalten und war wie versteinert. Das werfe ich mir heute manchmal vor.
A: Das war bei mir genau gleich, dieses Gefühl von Trance. Am Anfang registrierte ich den Schmerz sehr intensiv, die Tränen kamen ganz ohne Kontrolle. Ich hatte eine instinktive Reaktion auf den Schmerz: Ich hielt beide Hände vor meine Vagina. Ich weiss nicht, ob ich mich schützen wollte, oder einfach den Schmerz aufhalten. Er hat meine Hände mit einer simplen Bewegung weggewischt. Danach war mein Körper auf Autopilot, mein Kopf war nicht mehr da. Weisst du, was ich meine? Ich fühlte mich wie eine Puppe, ganz schwer, jeder Muskel war unbeweglich. Ich hab mich tot gestellt. Meine Erinnerung an den ganzen Abend ist lückenhaft. Also an die Aktivität selber kann ich mich wirklich nicht erinnern. Was krass ist, wenn man so darüber nachdenkt.
„Was hast du danach gemacht?“
A: Am nächsten Morgen verschwand ich so früh wie möglich. Ich trug einen Jeansrock, es war irgendwann Ende Winter, und meine Strumpfhosen waren am Vorabend zerrissen worden. Also stapfte ich ohne Strümpfe, barfuss in meinen Stiefeln, durch das verschneite Kaff. Am Bahnhof suchte ich mir ein WC, um mir Klopapier um die Unterhose zu wickeln, weil die Blutung einfach nicht aufhörte. Es war erniedrigend und schmerzhaft. Heute frage ich mich, warum ich nicht genau da gemerkt habe, dass etwas falsch gelaufen ist, dass es so nicht sein sollte. Als ich zuhause war, ging ich sofort in die Dusche und habe dort erst einmal gekotzt.
V: Ich musste ihn noch lange sehen, weil meine Kolleg_innen nicht nach Hause wollten. Er war bei seinen Kollegen und hat geprahlt. Aggression ist ein Gefühl, das ich sonst nur sehr selten empfinde, doch in diesem Moment war es omnipräsent, wahrscheinlich insbesondere wegen seiner SMSs. Ich überlegte mir, ihn irgendwie zu konfrontieren. Im gleichen Moment fühlte ich mich extrem verloren und wusste nicht mehr richtig was tun. Ich gab vor, dass mir übel sei, und ging nachhause. Ich ging in die Dusche, um zu weinen. Den Geruch, seinen Geruch, hatte ich noch stark in der Nase.
In diesem Moment fühlte ich zwei Dinge: Erstens Schuld, dass ich einen geliebten Menschen, meinen Partner, hintergangen hatte. Zweitens ekelte ich mich unglaublich vor seinem Geruch. Noch auf dem Heimflug in die Schweiz hatte ich ihn noch in der Nase, als hätte meine Haut ihn aufgesaugt. Ich konnte nicht mehr schlafen. Mein Körper wusste, dass irgendwas falsch war.
„Wann hast du realisiert, was dir passiert ist?“
V: Gleich danach hat eine Kollegin im Ferienapartment sehr gut reagiert und mir gesagt, dass dieser Mensch mir etwas Schlimmes angetan hat und mich keine Schuld trifft. Das ging jedoch schnell wieder unter, ich verdrängte es. Das Schuldgefühl begann sofort zu überwiegen und so wich ich dem Thema immer aus. Über meine Erlebnisse sprach ich zum ersten Mal ein halbes Jahr später, weil ich ein Interview mit dir im Milchbüechli gelesen hatte. Während dem Lesen dachte ich: „Also Hallo? Was erzählt die da? Das stimmt doch nicht, das war doch kein Übergriff.“ Erst später kam dann der Gedanke: „Aber Moment, wenn das eine Vergewaltigung war, ist bei mir damals nicht auch etwas falsch gewesen?“
Ich dachte das Erlebte noch einmal durch, fragte mein Umfeld, was sie wahrgenommen hätten. Doch weil ich nie darüber geredet hatte oder zeigte, wie schlimm es für mich war, war es ihnen nie aufgefallen. Irgendwann, als ich das Geschehene für mich rekapitulierte, erkannte ich, dass ich mehrmals Nein gesagt hatte. Dass es nicht okay war. Danach sprach ich mit einer Psychologin darüber. Sie bestätigte mir, dass eine so traumatisierte Reaktion und alles von mir Beschriebene auf eine Vergewaltigung hindeutet.
A: Ich hatte mit 16 meinen ersten richtigen Freund. Er hatte mehr Erfahrung als ich und für ihn war Sex, anders als für die meisten Leute in meinem Umfeld, schon etwas ganz Normales. Als dann der Moment kam, wo unsere Beziehung sexuell wurde, klinkte bei mir alles aus. Immer wenn er mich anfasste, mir näher kam, reagierte ich komplett panisch. Ich versteckte mich unter der Decke, rollte mich zusammen und schlug und trat gegen alles, was mir zu nahe kam. Natürlich wollte er wissen, was mein Problem sei. Dass ich überhaupt ein Problem habe, hatte ich selber vorher nie gemerkt. Die Angst kam nur mit der Intimität. Ich erzählte ihm von meinem ersten Mal, spielte aber alles noch sehr herunter. Er benannte das Geschehene trotzdem schnell als Vergewaltigung. Ich begann, die Erfahrung einigen wenigen Personen aus meinem ganz nahen Umfeld zu erzählen. Lange beschrieb ich dabei aber eine verzerrte Version.
Vergewaltigungen sind im gesellschaftlichen Blick so ein Schwarz-Weiss-Thema. Du bist das unschuldige, unberührte Opfer und da ist der Täter. Er ist ein grundböser Mensch, der dich überwältigt, ohne dass du eine Chance hast, dich zu wehren. Mitten in der Nacht, irgendwo in einer schwarzen Gasse -
V: - und es ist jemand, den du nicht kennst. Das kenn ich. Es sind genau diese stilisierten Schritte und Typisierungen, die vorkommen müssen, damit die Erfahrung als solche anerkannt wird.
A: Ja, genau. Und als ich mich zum ersten Mal damit angefreundet habe, meine Vergewaltigung als solche zu bezeichnen, dachte ich, ich müsste dieser Idee entsprechen. Ich hatte das Gefühl, es ist einfacher, wenn ich in das Klischee-Bild einer Vergewaltigung passe und nicht gross diskutieren muss, wie ich meine Erfahrung einteilen soll. Und das tat ich in meiner Erzählung auch. Also, überhaupt nicht differenziert über das Thema gesprochen. Ich wollte nicht darüber reden, dass ich zu meinem Vergewaltiger nachhause gegangen bin, dass ich einen kurzen Rock trug, dass ich betrunken war. Ich dachte sonst heisse es, ich hätte es ja herausgefordert, dann sei dies auch keine Vergewaltigung.
V: Grundsätzlich ist genau das das Problem. Darum hat mich dein Interview im Milchbüechli zuerst gestört, deine Geschichte entsprach nicht dem Bild, das ich von einer Vergewaltigung hatte. Ich fühlte mich schlecht, weil ich zuerst konsensuell mit ihm rumgemacht und geflirtet hatte, drei Abende in Folge. Ich war nicht abgeneigt von ihm, doch alles geschah viel zu schnell. Ich sagte dann auch Nein und warf ihn aus dem Apartmentzimmer. Er sagte mir, ich könne einem Mann nach so vielen Schritten nicht mehr Nein sagen. “Tu das keinem Mann mehr an.” Ich fühlte mich so schlecht, weil ich Nein gesagt hatte, obwohl ich am Anfang auch interessiert gewesen war.
A: Das ist so verbreitet! Einmal meinte sogar in der JUSO, in meiner Gegenwart, ein Genosse zu einer Genossin: „Du darfst nicht immer so mit vielen Männern flirten, die erwarten sonst nachher dann schon auch etwas von dir.“ Er meinte ganz unverfroren, wenn sie stark mit Typen flirte, müsse sie danach auch etwas mit ihnen haben. Diese Meinung haben ganz viele noch irgendwo in sich.
V: Am nächsten Abend entschuldigte ich mich, weil ich mich so schuldig fühlte für das Abweisen, und sagte ihm, wo ich unterwegs war. Danach hat er mich mitgeschleppt und wir hatten Sex. Also, Moment, Sex war es nicht. Er hat sich mit Gewalt an mir vergangen.
A: Das ist wirklich eine wichtige Begriffstrennung. Ich hab mal einen Artikel von der taz zum Thema Vergewaltigungsvorwürfe gelesen, den ich immer noch gern zitiere. „Bei einem Vergewaltigungsvorwurf von einem Sexskandal zu sprechen, ist wie bei einem Raubüberfall von einer Schenktragödie zu sprechen.“ Denn Sex impliziert für die meisten Leute eine Kooperation, eine gemeinsame Aktivität.
V: Ja! Stell dir vor, wie es Jolanda Spiess-Hegglin geht. Ich finde es schon schwierig in einem sehr vertrauten Umfeld mit viel Distanz über diesen Vorfall zu sprechen. So kurz danach mit so vielen Medien zu sprechen, die überhaupt nicht sensibilisiert sind auf solche Traumata. Und all diese Kommentare und Angriffe. Ich hätte das nicht ausgehalten.
„Wie schränkt dich das heute ein oder wie lebst du heute damit?“
V: Ich bin vorsichtiger in vielen Sachen. Einerseits habe ich mich feministisch gebildet, andererseits gibt es die kleinen Traumata. Ich kann zum Beispiel nicht neben jemandem schlafen, dem ich nicht extrem stark vertraue. Was komisch ist, weil es sich in meinem Sexleben meiner Meinung nach überhaupt nicht zeigt, wer weiss wieso. Viele haben kein Verständnis dafür, denken es ist eine billige Ausrede. Das Einschränkendste ist die Angst, sie zeigt sich in den blödesten Momenten. Vor mir steht noch einige Arbeit um mit dem Erlebten klar zu kommen.
A: Ich lebe gut. Ich hab immer noch gern Männer. (lacht) Das klingt irgendwie doof. Aber es ist nicht selbstverständlich. Ich habe keinen Sex, aber ich kann Menschen vertrauen und Nähe zulassen. Meine Vergewaltigung war die bisher schlimmste Erfahrung in meinem Leben, aber ich lebe weiter. Das ist mein Triumph. Mein Vergewaltiger konnte mich nicht kaputt machen.
„Denkst du heute noch über ihn nach? Denkst du er lebt gleich wie du mit dem, was geschehen ist? Denkst du er weiss, was er getan hat?“
A: Ich glaub nicht, dass er erkannt hat, was geschehen ist, oder damit zu kämpfen hat. Vielleicht erklärt er sich Ungereimtheiten so, dass ich halt einfach eine verheulte Jungfrau war.
V: Für mich ist er heute alles Böse. Er war so ein Arsch. Alles, was er machte, war böse. Das mit dem SMS, dass er mich einfach liegen liess, ihm war alles egal. Er prahlte damit. Ich war noch nie so wütend. Ich glaube er weiss, dass etwas falsch lief, aber für ihn war das kein Problem, eher ein Triumph. Ich weiss, das ist vielleicht eine kindliche schwarz-weisse Vorstellung, aber ich kann hier wirklich nicht differenzieren.
A: Ja, das verstehe ich. Es ist schwer zu glauben, dass die andere Person nicht einfach bösartig gehandelt hat. Wenn jemand merkt, dass er dir wehtut, dich extrem verletzt und gegen deinen Willen handelt – und dann trotzdem weitermacht...
Aber ich glaube, es ist keine absichtliche Bösartigkeit. Ich kann nicht für sexuelle Übergriffe auf Männer* sprechen, aber zumindest Frauen* werden doch in der Populärkultur so dargestellt, als müsse man sie halt überzeugen. Nur schon in Filmen: Wie oft sehen wir, wie eine Frau* einen Mann* ablehnt und er sie schlussendlich doch „gewinnt“, wenn nötig mit Lügen und Betrügen. Wenn man die Ablehnung der Frau* überwindet, wird das als Triumph dargestellt. Darum glaube ich nicht, dass mein Vergewaltiger in vollem Wissen böse handelte. In seinem Weltbild hat er es richtig gemacht. Ich hab mich ‚schwierig‘ angestellt, aber für ihn muss das Verhalten nicht unbedingt falsch gewesen sein.
V: Ich denke, dass das stimmt. In meiner Geschichte war es wie ein vorgegebener Ablauf, den man nicht unterbrechen konnte. Das Nein war für ihn eher eine Herausforderung, mich zu zähmen, an die Zügel zu nehmen, mir den Tarif durchzugeben. Diese Stilisierungen, Klischees, die Geschichten, die man sich zurechtlegt, sind das Problem. “Sie ist unerfahren, ich zeige ihr, wie das geht.” “Sie ziert sich, ist verspielt, man muss halt durchgreifen.” Denkt man in diesem Weltbild, die Menschen wollen so etwas? Dass ihnen das gefällt?
A: Ich weiss es nicht.
V: Ich hatte die Nummer von ihm noch gespeichert und Facebook schlug mir ihn als Freund vor. Lange habe ich mir überlegt, ihm zu schreiben. Du hast mir damals gesagt, ich wolle die Antworten auf all meine offenen Fragen gar nicht wissen. Nichts könnte das Geschehene wieder gut machen. Egal wie er reagieren würde.
Wenn ich Angst habe in der Nacht, mir etwas Böses vorstelle, sehe ich ihn heute noch vor mir.
Viele Menschen realisieren vielleicht gar nicht - gleich wie wir beide kurz nach unseren Erfahrungen - dass auch sie schon etwas erlebt haben, was nicht okay war. Genau darum muss man das Schwarz-Weiss-Denken aufbrechen. So vielen Menschen ist dies schon passiert, doch sie merken es erst beim Nachdenken. Bei Gesprächen über Sexismus habe ich genau das schon beobachtet: Die Frauen merken, dass beschriebene sexistische Erfahrung uns allen passieren, jeden Tag, kleine und grössere Grenzüberschreitungen. Jedes Mal nehmen wir sie hin, akzeptieren sie als nicht böse gemeint, das ist Teil des Problems. Wir müssen für jede Grenze kämpfen. Die Grenzen werden als Spielraum gesehen, Ablehnung wird als Spiel gesehen.
A: Eine Vergewaltigung ist ein Extrem, aber Grenzüberschreitungen beginnen im Alltag. Im Bus 15 Minuten lang angestarrt werden, im Zug sich winzig klein machen müssen, weil der neben dir sich breit macht, in der Schule unterbrochen werden, in Gruppenarbeiten deine Meinung mit aller Härte vertreten müssen, weil du nicht ernst genommen wirst. Und abends oder im Ausgang kommen die Sprüche, die Witze, das Angefasst-Werden. Das ist nichts, was „einfach so einmal“ passiert. Das geschieht nur schon mir jeden verdammten Tag. Weil wir in einer Kultur leben, in der gewisse Leute lernen, dass sie deine Grenzen in ganz verschiedenen Bereichen überschreiten dürfen, nur weil sie es können. Dass sie dich übergehen können. Und wenn du dich wehren willst, ist das abgefuckt anstrengend. Jeden Tag musst du dich abreiben, kämpfen dass du genug Raum einnehmen kannst, dass du gehört wirst, dass du sicher bist. Es macht mich wütend, wütend über unsere Gesellschaft.
V: Darum müssen wir uns öfter darüber austauschen, mit ganz vielen anderen Menschen, denen Ähnliches passiert ist, und uns gegenseitig stärken, uns empören über diese Missstände. Heute sind Grenzüberschreitungen ein Tabuthema, etwas Unangenehmes, für das sich die Opfer schämen. Doch was dir geschieht ist nicht zufällig, weil dein Rock zu kurz war, weil seine Hand ausrutschte, weil er mehr Platz brauchte. Wir müssen dieses Verständnis verbreiten, denn gemeinsam haben wir so viel Kraft - überleg dir mal, wie wir diese Gesellschaft verändern könnten!
Wir leben wie wir wollen!
Dieser Text ist Teil einer Serie von Portraits über junge Menschen, welche leben, wie sie wollen - und damit immer wieder aus der Norm tanzen. Aus der Norm einer heterosexuellen, weissen, monogamen und männlich geprägten Gesellschaft. Mit diesen Portraits wollen wir zeigen, dass die Realität sehr viel vielfältiger, farbiger und spannender ist.
Du findest alle Texte hier.
Dies ist ein Projekt der AG Gleichstellung der JUSO Schweiz.