Zeit, sexualisierte Gewalt ernst zu nehmen!

19.01.2023

Brief an GastroSuisse

Zeit, sexualisierte Gewalt ernst zu nehmen!

Bezüglich sexualisierter Gewalt sieht GastroSuisse in ihren Branchen keinen Handlungsbedarf, wie in den entsprechenden Artikeln der NZZ und 20min diese Woche zu lesen war. Dem Verband seien keine Fälle von Übergriffen im Gastgewerbe bekannt, wurde von Ihrer Seite mehrmals versichert. Das ist für uns schwer zu glauben, da das Gastgewerbe doch in mehreren Studien 1 2 als Berufsfeld mit überdurchschnittlich vielen Vorfällen von sexualisierter Gewalt genannt wird. Allein dies sollte in unseren Augen für einen Verband wie GastroSuisse reichen, um mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen für die Bekämpfung dieses Problems aufzuwenden, statt lediglich ein allgemeines Merkblatt zu veröffentlichen. Des Weiteren sollte dem Verband eigentlich klar sein, dass keine Meldungen über Übergriffe nicht automatisch bedeuten, dass diese nicht passieren. Laut einer repräsentativen Studie von gfs.bern und Amnesty International haben 64% der befragten Frauen bereits mindestens ein Mal sexualisierte Gewalt erlebt.

Falls dem Verband wirklich keine Übergriffe gemeldet wurden und das Thema in den von Ihnen vertretenen Betrieben nicht prioritär gehandhabt wird, muss dies als Teil des Problems erkannt werden. GastroSuisse scheint diesbezüglich gar keine Erfassung von Fällen zu machen, weder passiv noch proaktiv, so muss davon ausgegangen werden, dass sich Betroffene, wenn überhaupt, bei anderen Instanzen melden. Aber auch hier zeigt die gfs-Studie klar: Nur 10% von sexuellen Übergriffe werden bei der Polizei gemeldet und gerade Mal in 8% der Fälle kommt es zu einer Strafanzeige.

Als Reaktion auf Ihre Aussagen in den Medien haben wir einen Aufruf gestartet. Betroffene von sexualisierter Gewalt und Belästigung in Gastrobetrieben sollen sich bei uns melden, um ihre Erfahrungen teilen zu können. Was wir erhalten haben, hat uns die Sprache verschlagen. Viele Menschen haben uns ihre Geschichten erzählt. Die meisten möchten verständlicherweise anonym bleiben, weshalb wir ihre Namen hier nicht auflisten. Durchgehend wird erzählt, wie erniedrigend das Klima in vielen Betrieben ist. Frauen werden jeden Tag auf ihr Äusseres reduziert, müssen sich in der

Küche und von der Kundschaft anzügliche Sprüche anhören und sich jeden Tag überlegen, was sie anziehen dürfen und wie sie sich verhalten sollen, um den Erniedrigungen möglichst aus dem Weg zu gehen. Eine Betroffene schilderte es wie folgt: “Ein Mitarbeiter kommentiert einen Wasserfleck auf meinem T-shirt auf Brusthöhe mit: «Möchtest du es nicht gleich ausziehen? Das gäbe sicher mehr Trinkgeld»”. Bereits diese Schilderungen reichen uns aus, um einen dringlichen Handlungsbedarf zu sehen. Darüber hinaus: Unter den Erzählungen fanden sich auch einige Geschichten über körperliche Übergriffe von regelmässigen, ungefragten Berührungen, über Grenzsituationen bis hin zu strafbaren Handlungen. Wie damit umgegangen wird, wenn sich Betroffene bei den Vorgesetzten melden, ist ebenfalls erschreckend. Mehr als einmal erlebten die Betroffenen, dass sie nicht ernst genommen und die Vorfälle heruntergespielt wurden. In einem Fall musste die Person sogar gehen, damit der Täter bleiben konnte. Die Konsequenzen tragen auch in der Gastrobranche allzu häufig noch die Betroffenen und die Täter (oder seltener Täterinnen) dürfen unbehelligt bleiben.

Sie machen es sich mit Ihrer Stellungnahme deutlich zu einfach. Es scheint uns, als würden Sie das Thema grundsätzlich nicht ernst nehmen. Deshalb nutzen wir die Möglichkeit, Ihnen zu schreiben. Es sollte in Ihrem Interesse sein, dass sich sowohl die Beschäftigten wie auch die Kundschaft in den von Ihnen vertretenen Betrieben wohl fühlen können - und dass Betroffenen geglaubt wird, wenn über Vorfälle von sexualisierter Gewalt berichtet wird und diese entsprechend geahndet wird.

Wir erwarten von Ihnen deshalb eine Korrektur der getätigten Aussagen und ein klares und differenziertes Statement zur Thematik. Ausserdem fordern wir Sie dazu auf, den Sachverhalt ernst zu nehmen, statt weiterhin wegzuschauen. Es braucht - auch von Seiten des Dachverbands - Massnahmen zur Sensibilisierung der Betriebe, Unterstützungsleistungen für Betroffene und konstante Arbeit zur Verbesserung des Arbeitsklimas. Gerne stehen wir dazu auch für ein Gespräch zur Verfügung. Die Gesellschaft hat in den vergangenen Jahren grosse Schritte bezüglich Sensibilität gegenüber sexualisierter Gewalt gemacht - Zeit, dass Sie dies auch tun.

Freundliche Grüsse

  • Mirjam Hostetmann, Vize-Präsidentin JUSO Schweiz
  • Rosalina Müller, Zentralsekretärin JUSO Schweiz
  • Nicola Siegrist, Präsident JUSO Schweiz

1 Feldblum, Chai R., and Victoria A. Lipnic. "Select task force on the study of harassment in the workplace." Washington: US Equal Employment Opportunity Commission (2016).

https://www.eeoc.gov/select-task-force-study-harassment-workplace

2 Nationalfonds, Schweizerischer, et al. "Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz–wer belästigt wen, wie und warum? Besseres Verständnis heisst wirksamere Prävention»«Harcèlement sexuel sur le lieu de travail: Qui harcèle qui, comment et pourquoi? Une meilleure compréhension pour une meilleure prévention. http://www.nfp60.ch/de/projekte/cluster-1-arbeit-organisation/projekt-krings