Den Sozialstaat neu denken Solidarität schaffen – die Menschen befreien – den Markt zurückdrängen

15.05.2010

Angenommen von der DV vom 15. Mai 2010 in Basel

Als Sozialistinnen und Sozialisten streben wir eine Gesellschaft an, in der alle Menschen vom gemeinsam geschaffenen Wohlstand profitieren. «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!», schrieb Karl Marx in seiner «Kritik des Gothaer Programms». Dieses Recht steht den Menschen schon alleine durch ihre Existenz zu. Eine Person, die nicht oder nur beschränkt in der Lage ist, sich an der Schaffung dieses Wohlstandes zu beteiligen, soll trotzdem vollumfänglich Teil der Gesellschaft sein.

Der Sozialstaat ist der demokratische und rechtsstaatliche Ausdruck des Willens zur Solidarität der Menschen untereinander. Wir wollen keine alleinstehende Mutter, die ihre Kinder in Armut grossziehen muss. Wir wollen keinen Bauarbeiter, der nach einem Unfall in die Arbeitslosigkeit und somit an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird. Wir wollen keine alten Menschen, die nach einem langen Erwerbsleben nur schwer über die Runden kommen.

Der Sozialstaat befreit die Menschen von Bevormundung. Sie sind nicht mehr auf die Gnade von ArbeitgeberInnen, Kirche, Familie oder Wohlfahrtsinstitutionen angewiesen, wenn sie nicht mehr im gewohnten Rahmen ihrer Arbeit nachgehen können. Das stärkt die Menschen als Individuen. Das stärkt sie aber auch in ihrer Möglichkeit zur gemeinschaftlichen Organisation. ArbeiterInnen können beispielsweise weniger stark von ihren ChefInnen unter Druck gesetzt werden. Es besteht ein soziales Auffangnetz.

Raus aus der Defensive!

Am 7. März 2010 lehnten 72,7 Prozent der Stimmberechtigten die Senkung des BVG-Umwandlungssatzes ab. Eine Niederlage für die neoliberale Rechte. Ein Sieg für Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Der Rentenklau wurde verhindert. Der heutige Sozialstaat ist eine grosse Errungenschaft. Errungen wurde er in erster Linie von der sozialistischen ArbeiterInnenbewegung. Die Linke muss diesen Sozialstaat bedingungslos gegen alle Angriffe von rechter Seite verteidigen. Seit Beginn des Aufstiegs des Neoliberalismus Anfang der 80er-Jahre häuften sich diese Angriffe und wurden intensiver.

Der Abstimmungssieg vom März 2010 machte aber auch deutlich, dass wir Linken uns in der Defensive befinden. Wir können zwar oft die Angriffe der bürgerlichen Mehrheit mit Hilfe von Referenden abwehren (Senkung Umwandlungssatz, 11. AHV-Revision). Gleichzeitig ist es schwierig geworden Fortschritte zu erzielen (Einheitskasse, Flexibilisierung des Rentenalters).

Aus dieser Defensive müssen wir ausbrechen! Das heutige Sozialversicherungssystem ist geprägt von Kompromissen mit den Bürgerlichen. Seine Hauptprobleme sind:

  • Konstruktionen wie das Drei-Säulen-Modell verteilen Geld von unten oben um. Die zweite Säule etwa bindet gewaltige Mittel, die auf den Finanzmärkten angelegt werden. Dieses System ist krisenanfällig und zwingt die Bevölkerung zur Beteiligung am Casino-kapitalistischen-System.
  • Verschiedene Gruppen in der Gesellschaft werden gegeneinander ausgespielt: Behinderte gegen Nicht-Behinderte, Alte gegen Junge, Arbeitslose gegen Arbeitende etc. Es ist zum Beispiel viel Einfacher auf Kosten der IV als auf Kosten der AHV zu sparen.
  • Eine Vielzahl verschiedener Kassen und Systeme konkurrieren einander gegenseitig im Umherschieben der Bedürftigen. Die Koordination dieser Kassen verschlingt Unsummen und bedarf einer grossen Bürokratie.
  • Explosionsartig steigende Krankenkassenprämien entziehen den Haushalten massiv Kaufkraft.

Die JUSO Schweiz unterstützt verschiedene Stossrichtungen zur grundlegenden Reform des bestehenden Sozialversicherungssystems. Diese ergänzen sich gegenseitig und zeigen Alternativen zum herrschenden neoliberalen Markradikalismus auf.

Solidarität schaffen – die Menschen befreien – den Markt zurückdrängen

Solidarität schaffen: Unser heutiges System der Sozialversicherungen ist in unzählige Kassen aufgesplittet (AHV, IV, ALV, EO, SUVA, KVG, MV, Sozialhilfe etc.). Dieses System führt zur Entsolidarisierung der einzelnen Gruppen. Diese Entsolidarisierung ist politisch gewollt und entspricht der neoliberalen Logik. Die JUSO Schweiz fordert daher die Einrichtung einer einzigen Versicherung. Diese nationale Kasse fasst alle bisherigen Sozialversicherungen zusammen und sichert die Menschen gegen die Folgen von Erwerbsausfall (Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Alter, Mutterschaft, etc.) ab. Diese Versicherung soll grundsätzlich über progressive Einkommens-, Vermögens-, und Erbschaftssteuern, sowie über Unternehmens- und Kapitalgewinnsteuern finanziert werden.

Der linke Think-Tank «Denknetz» propagiert die Schaffung einer allgemeinen Erwerbsversicherung (AEV). Dieser Vorschlag geht in die richtige Richtung und wird von der JUSO Schweiz unterstützt. Die SP Schweiz muss in der Debatte rund um das Parteiprogramm diese Vorschläge diskutieren und Möglichkeiten für eine Zeit nach dem Drei-Säulen-Modell erarbeiten.

Die Menschen befreien: Wirtschaftsdemokratie

Unser kapitalistisches System konzentriert die Macht über die Produktionsmittel in den Händen von einigen Wenigen und zwingt die grosse Mehrheit zu Lohnarbeit. Die sozialdemokratische Bewegung muss heute damit beginnen, konkrete Wege aufzuzeigen, wie die Machtverhältnisse zu Gunsten der Mehrheit verschoben und die Menschen vom Zwang zur Lohnarbeit befreit werden können. Die wirtschaftsdemokratischen Ansätze im Entwurf zum neuen Parteiprogramm der SP scheinen uns in die richtige Richtung zu gehen. Wir fordern allerdings, dass dieses Papier nicht Papier bleibt, sondern die SP konkrete politische Vorstösse folgen lässt.

Den Markt zurückdrängen: öffentlicher Sektor stärken

Für die neoliberale Ideologie ist der Markt das oberste Prinzip, nach dem eine Gesellschaft organisiert werden muss. Schlagworte wie «Wettbewerb!», «Effizienz!» und «Konkurrenz!» werden als Ziele einer Gesellschaftsordnung definiert, ungeachtet ob sie den Menschen nützen oder nicht. Gerade im Bereich der sozialen Sicherung greift diese Logik zu kurz. Wer möchte schon, dass die eigene Mutter im Alter möglichst «effizient» gepflegt wird? Nur ein starker öffentlicher Sektor und der verstärkte Glaube der Menschen an Solidarität und Gleichheit kann diese Markt-Logik zurückdrängen mit dem Ziel die Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung zu berücksichtigen.

Die Grundversorgung der Gesellschaft soll von der öffentlichen Hand getragen und finanziert und demokratisch verwaltet werden. Im Bereich der sozialen Sicherung sind hier insbesondere das gesamte Gesundheitswesen und die Pflege zu erwähnen. Die SP Schweiz muss sich für die Ausweitung des demokratisch kontrollierten Sektors einsetzen.