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Positionspapier der JUSO Schweiz verabschiedet an der Delegiertenversammlung vom 22. April 2023 (St. Gallen)
Für Respekt und Therapieplätze – gegen Stigmatisierung und Abbau
Psychische Erkrankungen ernstnehmen und entsprechend (be)handeln!
Der Umgang mit psychischen Störungen ist eine der drängendsten und grössten gesundheitspolitischen Fragen unserer Zeit. In der Schweiz sind 17% der Bevölkerung von einer oder mehreren psychischen Störungen (auch psych. Erkrankungen genannt) betroffen.(1),(2) Die Vielfalt von psychischen Störungen ist gross und es gibt keine universelle Definition für diese. Zu den meistverbreiteten und wohl bekanntesten Störungen gehören die verschiedenen Arten von Depressionen, Essstörungen, Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen und Angst- und Persönlichkeitsstörungen.(3) Die heutige Psychiatrie verfügt über Instrumente zur Diagnose solcher Störungen, vor allem die ICD-10 und das DSM-5. Dennoch ist die Psychiatrie eine wissenschaftliche Disziplin, die auf Machtverhältnissen und von Personen mit Vormachtstellung aufgebaut ist. Dadurch ist die Psychiatrie eine Disziplin, die unter anderem die bürgerliche, männliche und weisse Hegemonie aufrechterhält. Um nur ein bekanntes Beispiel zu nennen: Homosexualität wurde lange Zeit als psychologische Störung eingestuft (bis zum DSM-3).
Das vorliegende Papier verfolgt in erster Linie einen reformistischen Ansatz für das Gesundheitssystem und konzentriert sich auf mittel- bis kurzfristig umsetzbare Maßnahmen. Dennoch ist es wichtig, diesen Text im Wissen zu lesen, dass Diagnosen und das Konzept der psychischen Störungen selbst nicht neutral sind und als Herrschaftsinstrumente dienen können.
Doch selbst bei einer kritischen Betrachtung der Psychiatrie ist klar, dass psychisches Leiden in unserer Gesellschaftsehr präsent ist. Die Tragweite wird jedoch oft unterschätzt. Zudem werden Betroffene systematisch stigmatisiert und diskriminiert. Die Folgen dieses Zustandes sind verheerend. Unzureichende und unzugängliche Behandlungsmöglichkeiten, die Ignoranz der Gesamtgesellschaft und die daraus resultierenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen erzeugen einen Teufelskreis für Betroffene. Dieser wird vom sozialen Umfeld oftmals nicht erkannt. Dies führt kurz- und langfristig für Betroffene u.a. zu sozialer Isolation und finanziellen Problemen und endet nicht selten tödlich. In der Schweiz sterben im Schnitt täglich 2-3 Personen durch nicht-assistierten Suizid. Ausserdem ist dies bei den 19- bis 34-Jährigen die häufigste Todesursache.(4) Suizidversuche passieren meist aufgrund eines Zusammenspiels verschiedener Faktoren, wobei psychische Erkrankungen zu den relevantesten gehören.
Psychisch erkranken können alle. Das Risiko dafür ist jedoch nicht bei allen Menschen gleich gross. Diskriminierungserfahrungen lösen bei Betroffenen überdurchschnittlich häufig psychische Erkrankungen aus. Gerade bei jungen Frauen steigt die Anzahl der Neuerkrankungen besonders stark an.(5) Homo-, bisexuelle und trans Jugendliche weisen laut einer Studie der Hochschule Luzern ein fünfmal höheres Suizidrisiko auf als cis-hetero Teenager.[1] Zudem macht der OBSAN-Bericht (2020) des Bundes “Migrationshintergrund” als grössten Risikofaktor für den Ausbruch einer psychischen Störung aus.(6) Gründe dafür sind u.a. Rassismuserfahrungen, schlechter Zugang zum Gesundheitssystem und unbehandelte Traumata. Auch der Faktor “Armut” spielt bei der psychischen Gesundheit eine relevante Rolle. Aufgrund der engen Verknüpfung und gegenseitiger Begünstigung verschiedener Risikofaktoren wie soziale Ausgrenzung, Mehrfachbelastungen und finanzielle Sorgen, erkranken überdurchschnittlich viele Armutsbetroffene an Angststörungen und Depressionen.(7) Patriarchat, Kapitalismus, die weisse Vorherrschaft und alle weiteren Diskriminierungsstrukturen machen also krank oder vergrössern zumindest das Risiko, an einer psychischen Störung zu erkranken. Auch der Leistungsdruck in unserer Gesellschaft spielt eine massgebliche Rolle. Viele Menschen leiden aufgrund des Produktivitäts- und Leistungswahns an Burnout. Auch Menschen, die nicht am Produktionssystem teilnehmen, werden isoliert und stigmatisiert, was ihre psychische Gesundheit stark beeinträchtigt.
Auch die Familie kann eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von psychischen Störungen spielen. Ein dysfunktionales oder gar missbräuchliches Familienumfeld begünstigt die Entwicklung von Störungen bei den Familienmitgliedern. Wichtig ist dabei aber auch die Erkenntnis, dass viele psychische Störungen in unterschiedlichem Ausmass vererbt werden, weshalb nicht alle psychische Störungen einfach auf Lebensumstände zurückgeführt werden können.(8) Es wäre also falsch zu sagen, dass psychische Störungen nicht mehr auftreten würden, wenn die Welt frei von jeglichen Diskriminierungsstrukturen wäre.
Unser Gesundheitssystem ist krank
Die Corona-Krise hat bei vielen Betroffenen von psychischen Störungen zu einer Verschlechterung ihres psychischen Gesundheitszustands geführt. Dies u.a. aufgrund von sozialer Isolation, Krisensituationen (Jobverlust, Zukunftsängste usw.) aber auch, weil Behandlungen in dieser Zeit nicht mehr im ursprünglichen Rahmen gewährleistet werden konnten.(9) Nach einem Pandemiejahr konnte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in einer Studie signifikante Veränderungen beim persönlichen Wohlbefinden der Befragten feststellen. Jüngere Menschen sind davon noch stärker betroffen als andere Altersgruppen.[2] Erkenntnisse zur psychischen Situation von Jugendlichen in der Schweiz zeigt auch der Pro Juventute Corona- Report auf: Das Hilfsangebot 147.ch verzeichnete einen Anstieg der Kontaktaufnahmen um rund 40% im Vergleich zur Situation vor der Corona- Pandemie.[3]
Die Coronakrise hat die enormen Lücken unseres profitorientierten Gesundheitssystems noch einmal schonungsloser aufgedeckt. Die Profitinteressen der Krankenkassen, privatisierten Spitälern und Kliniken und der Pharmaindustrie stehen einem patient*innengerichteten Gesundheitswesen im Weg. Dazu kommt das gescheiterte System der Fallpauschalen, in welchem physische und mechanische Behandlungen mehr zählen als die psychische und geistige Auseinandersetzung mit Patient*innen. Der Fokus wird so mehr und mehr auf die chirurgischen Tätigkeiten der Kliniken gesetzt und an anderen Orten gespart. Zusätzlich werden die Patient*innen in einen «Pauschaltopf» geworfen, in dem das Individuum aus den Augen verloren geht und einfach die Diagnose entscheidet, wie lange eine Behandlung zu dauern hat. Dies begünstigt wiederum, dass Patient*innen, zu Gunsten der Klinikfinanzen eher zu früh nach Hause entlassen werden, als das dies der Gesundheitszustand erlauben würde. Diese Geldgier und Versäumnisse in der Erneuerung der Vergütung der Gesundheitsdienstleistungen kosten Menschenleben.
Die Situation ist so prekär, dass eine fachgerechte Betreuung schlichtweg nicht mehr gewährleistet werden kann. Dies bedeutet aufgrund des akuten Personalmangels eine Häufung von Zwangsmassnahmen gegen Patient*innen. So wurden in Schweizer Psychiatrien 2021 mit 6192 Fällen knapp 30 Prozent mehr Menschen in Isolation gesteckt als noch 2019.(21) In den letzten Jahren wurde systematisch abgebaut - Budgetstreichungen, Stellenkürzungen und Schliessung von ganzen Stationen, obwohl die Anzahl an Patient*innen noch immer steigend ist.(10)
Menschen mit psychischen Erkrankungen werden in unserer Gesellschaft systematisch diskriminiert. “Psychische Gesundheit” ist eines der grössten Tabuthemen unserer Gesellschaft. Grund dafür sind offenbar verschiedene Befürchtungen: Beispielsweise haben viele depressive Personen Angst, als “nicht mehr leistungsfähig” und als “labil und schwach” zu gelten.[4] Ausserdem schafft die vorrherschende Sicht auf Menschen mit psychischen Erkrankungen zwei Kategorien. So werden Menschen, die an einer psychischen Störung leiden, entweder als verrückt oder als nur aufmerksamkeitssuchend abgestempelt. Aufgrund dieser Stigmatisierung werden Verbreitungsgrad und Gefährlichkeit der “Volkskrankheit Depression” enorm unterschätzt. Diese Stigmatisierung verschleiert das tatsächliche Ausmass und die Verbreitung von psychischen Erkrankungen und wirkt sich auf das Angebot in der Gesundheitsversorgung aus. Bereits vor der Pandemie gab es zu wenige ambulante und stationäre Behandlungsplätze - mittlerweile hat sich diese Problematik abermals enorm verschärft und das mit fatalen Auswirkungen: In psychiatrischen Institutionen wird triagiert(11), insbesondere in den Kinder- und Jugendpsychiatrien.(12) Dieser erschwerte Zugang führt bei den meisten Betroffenen zu einer Verstärkung ihrer Symptome und so zu einer Verlängerung der Behandlungszeit. Auch besteht ein akuter Mangel an ambulanten Therapieplätzen. Folglich bleibt zehntausenden Betroffenen eine angemessene Behandlung verwehrt. Menschen, die aufgrund weiterer Faktoren Diskriminierung erfahren bekommen dies noch stärker zu spüren – so sind viele Therapieangebote auf verschiedene Arten und Weisen unzugänglich. Mit dem neuen System von SantéSuisse haben Anfang 2023 zusätzlich tausende ihren aktuellen Therapieplatz verloren.(13)
Auf Stigmatisierung folgt Diskriminierung
Im kapitalistischen System sind Lohnabhängige dazu verdammt, normiert zu funktionieren, damit ihre Arbeitskraft von der herrschenden Klasse optimal ausgebeutet werden kann. Gerade auf jungen Menschen lastet vor und während der Ausbildung ein enormer Druck.
Menschen, die aufgrund von Erkrankungen nicht mehr regulär arbeiten können, sollen eigentlich mit Sozialhilfe und IV-Rente entsprechende Hilfe vom Staat erhalten. Diese ist aber an klare, diskriminierende Bedingungen geknüpft. Das Wort “invalid” (wertlos) in Invalidenrente deutet bereits an, wie die Bezüger*innen im kapitalistischen System gewertet werden. Die Tatsache, dass psychische Störungen meist unsichtbar sind, führt ausserdem dazu, dass Hilfesuchende als untätig angesehen werden. Psychische Erkrankungen sind seit Jahren mit Abstand der häufigste Grund für den Bezug einer IV-Rente in der Schweiz. Um eine (Teil-)Rente der IV zu erhalten, muss bewiesen werden, dass eine Erwerbsunfähigkeit von mindestens 40% vorliegt. Psychische Erkrankungen sind allerdings im Gegensatz zu physischen Erkrankungen kaum mit Bildern oder Ähnlichem beweisbar, da sie meist unsichtbar sind. Deswegen werden psychiatrische Gutachten anhand von Gesprächen mit Fachpersonen erstellt. Die Unabhängigkeit und dadurch die Qualität dieser Gutachten ist jedoch oftmals nicht gewährleistet.(14) Menschen mit psychischen Störungen wird massiv misstraut. So versucht die politische Rechte seit Jahren, das Anrecht auf IV- Rente für Menschen mit psychischen Störungen komplett zu streichen.(15) Das IV- System beruht auf dem Grundsatz der “Wiedereingliederung” in den Arbeitsmarkt, was nicht grundsätzlich ein schlechtes Ziel ist, da die Selbstbestimmung der betroffenen Menschen gestärkt werden kann - dabei kommt es allerdings auf die Umsetzung und Absicht dahinter an. Das heutige IV-System orientiert sich kaum am Wohlergehen der Menschen, sondern an jenem der kapitalistischen Marktwirtschaft und der Tiefhaltung der Kosten. So heisst der Leitsatz der IV auch “Wiedereingliederung vor Rente”, Rentenansprüche werden erst geprüft, nachdem Wiedereingliederungsversuche nicht den gewünschten Erfolg hatten. Kranke Personen werden regelrecht zur Arbeit gezwungen und müssen konstant Rechenschaft und Beweise darlegen, wenn sie nicht dazu in der Lage sind.
Zusätzlich ist der Erfolg von Integrationsmassnahmen durchwachsen: So sind drei Jahre nach Ende oder Abbruch einer Integrationsmassnahme 37 Prozent aller Personen auf dem regulären Arbeitsmarkt und ohne IV-Rente. Die Erfolgsquote variiert jedoch je nach Kanton stark, da sich die Profile der Menschen in einer Integrationsmassnahme sowie die Umsetzung der Massnahmen je nach Kanton stark unterscheiden.(23) In den Fällen, in denen die IV am Schluss trotzdem eine Rente zahlt, ist diese oft deutlich geringer als Ergänzungsleistungen und somit unter dem Existenzminimum, gerade wenn eine versicherte Person Beitragslücken aufweist oder noch nie erwerbstätig war.
Psychisch Erkrankte erleben im Alltag in nahezu allen Lebensbereichen Diskriminierung. Neben sozialer Ausgrenzung kommt es zu erschwerten Bedingungen bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik erscheint als negativ auffallende Lücke im Lebenslauf und eine längere Krankschreibung in der Vergangenheit wird von Arbeitgebenden als Risiko erachtet.
Menschen in akuten psychischen Notsituationen in der Schweiz im gesamteuropäischen Vergleich überdurchschnittlich oft gegen ihren Willen geschlossen platziert. Jede*r fünfte Psychiatrie-Patient*in wurde durch eine sogenannte "fürsorgerische Unterbringung” (FU) zur Behandlung gezwungen.(16) Konkret kam es gesamtschweizerisch im Jahr 2021 laut Obsan zu 16'487 Zwangseinweisungen.(22) Teil solcher “Behandlungen” sind aufgrund von Personalmangel oftmals Fixierungen und andere unmenschliche Praktiken. Wer solche Zwangseinweisungen anordnen kann, ist kantonal unterschiedlich geregelt. Besonders problematisch ist, dass im Kanton Zürich sämtliche praxisberechtigten Ärzt*innen und in der Mehrzahl der Kantone sämtliche niedergelassenen Ärzt*innen, in beiden Fällen unabhängig ihrer Fachrichtung, dazu befugt sind, eine FU anzuweisen. Eine FU muss in vielen Kantonen nur bei einer Dauer von mindestens sechs Wochen durch die zuständige KESB bestätigt werden, bis dahin braucht es keine Überprüfung des Unterbringungsentscheids durch die zuständige KESB. Solche Massnahmen stellen einen massiven Eingriff in die Autonomie eines Individuums dar und sollten nur als allerletztes Mittel und von einer kleinen Anzahl von Spezialist*innen mit der dafür notwendigen Ausbildung und den entsprechenden Kompetenzen angeordnet werden können. Zusätzlich muss die Rekursfrist auf die Dauer der Unterbringung ausgeweitet werden und es dürfen der betroffenen Person keine Verfahrenskosten auferlegt werden. Zwangsmassnahmen, wie Fixierungen, sollen entsprechend nur als allerletzte Möglichkeit zum Schutz der Patient*innen eingesetzt werden und sicher nicht, um das zu knapp bemessene Personal zu entlasten. Solche Methoden haben leider auch in der Schweiz eine lange Tradition. Im letzten Jahrhundert galt das Credo, die Gesellschaft und deren “gesunde Volkskörper” vor “minderwertigen Menschen zu schützen”.(17) Die beginnende Aufarbeitung der Schweizer Psychiatriegeschichte lässt dunkles erahnen. So wurden grossflächige, unzulässige Medikamentenversuche an unwissenden Patient*innen aufgedeckt.(18)
Auch heute noch, im 21. Jahrhundert, scheint das Ersuchen von Behandlung in psychiatrischen Institutionen verpönt, obwohl sich die gesellschaftlichen Umstände bedeutend verändert haben. Grosse Teile der Bevölkerung haben Angst vor einer stationären Behandlung und vor allem vor der gesellschaftlichen Ächtung eines solchen Aufenthalts. Psychiatrien gelten auch heute noch als “Irrenanstalten” - Orte für Gefährder*innen dieser Gesellschaft. Als solche werden psychisch Kranke nämlich nicht selten in den Medien inszeniert. Durch klischeebehaftete Medienberichterstattungen werden Menschen mit psychischen Störungen oft mit Kriminalität assoziiert und der Grund von begangenen Straftaten sofort an einer möglichen psychischen Störung festgemacht. Dies, obwohl Menschen mit psychischen Störungen nicht häufiger straftätig werden als Menschen ohne entsprechende Diagnose.(19) Diese Stigmatisierung wird auch beim Umgang der Polizei mit psychisch Erkrankten sichtbar, obwohl dazu keine Daten erhoben werden. Eine Recherche der deutschen Tageszeitung "taz" zeigt: die Hälfte der Menschen, die 2009 bis 2017 in Deutschland von der Polizei ermordet wurden, litt an einer psychischen Störung(20).
Nicht zuletzt ist die Psychiatrie eine Institution der Kontrolle, die auf Macht beruht. Es stimmt, dass einige Menschen, die nicht als Bedrohung für die Gesellschaft oder als Gefahr für sich selbst angesehen werden und die eine Behandlung erhalten, die ihren Bedürfnissen und ihrem Willen entspricht, von ihr profitieren können. Allerdings ist sie auch ein Ort der Gewalt für unzählige "Verrückte". Jedes Jahr erleben Tausende von Menschen Zwangseinweiungen und Missbauch in psychiatrischen Einrichtungen, in denen ihre Selbstbestimmung nicht respektiert wird.(24)
Eine Gesellschaft, die auf Unterdrückung, Ausgrenzung und Ausbeutung fundiert und von multiplen Krisen geprägt ist, schadet den betroffenen Menschen besonders. Für die JUSO ist klar: die Überwindung aller Diskriminierungstrukturen könnte bei vielen Menschen die Risikofaktoren für psychische Störungen massiv verringern. Da sich psychische Störungen (Erkrankungen) und deren Folgen in ihren Arten, Formen und Ursprüngen stark unterscheiden, bedeutet aber auch eine radikale Transformation der Gesellschaft zugunsten der 99% nicht, dass psychische Erkrankungen nicht mehr existieren werden. Das Leben wird nie für alle nur schön sein, doch wir können das bestmögliche tun, um es schöner zu machen.
Das Warten darauf kostet Leben. Deshalb müssen auch im jetzigen System sofortige Massnahmen ergriffen werden:
- Einen sofortigen und massiven Ausbau von ambulanten, stationären und teilstationären Therapieplätzen
Der Staat und die Kantone müssen die finanziellen Mittel für den Ausbau von Therapieplätzen massiv erhöhen. Therapeut*innen, die durch den Wechsel vom Delegations- zum Anordnungsmodell die Therapiebewilligung verloren haben, sollen diese wieder erhalten. Neue zusätzliche Hürden in der Therapiezulassung sollen wieder gestrichen werden. Das allein reicht aber nicht. Einem Ausbildungsoffensive für Fachpersonal und massive Verbesserungen der Arbeitsbedingungen müssen in die Wege geleitet werden.
- Komplette Kostendeckung von psychiatrisch-psychologischen Therapie- angeboten - Gesundheit darf keine Klassenfrage sein
Alle Menschen haben ein Recht auf Behandlung. Deswegen müssen Therapieangebote komplett von der Versicherung gedeckt werden. Die Grundversicherung schliesst im Moment zu wenige Therapieformen ein; dieser Mangel muss behoben werden. Die verschiedenen Versicherungsklassierungen gehören ganz aufgehoben, eine Einheitskasse mit dem selben Angebot für alle muss her und das Selbstbehaltsystem muss abgeschafft werden. Die Kasse muss solidarisch nach Leistungskraft finanziert werden. Dafür sollen auch Einkünfte wie Kapitaleinkommen zur Finanzierung verwendet werden.
- Breite Präventions- und Entstigmatisierungskampagnen auf allen Ebenen der Gesellschaft
Noch immer geistern falsche Vorstellungen und Vorurteile in der Gesamtgesellschaft herum, wenn es um psychische Erkrankungen geht. Die darausfolgende Stigmatisierung von Betroffenen führt zu Diskriminierung und verhindert präventive Massnahmen grossflächig. In allen öffentlichen und privatwirtschaftlichen Sektoren müssen entsprechende Schulungsangebote zum Umgang und zur Erkennung von psychischen Erkrankungen etabliert werden.
- Einen massiven Ausbau staatlich finanzierter Help-Hotlines und die Sicherstellung von zugänglichen Kriseninterventions- und Soforthilfe-angeboten für Menschen in Akutsituationen
Niederschwellige und unverbindliche Hilfsangebote werden heute in der Schweiz vor allem von der Dargebotenen Hand und Pro Juventute, die nur zu kleinen Teilen von der öffentlichen Hand finanziert werden, betrieben. Diese Angebote sind stark überlastet. Mehr Ressourcen sind dringend nötig, um Menschen in einer akuten Notsituation die nötige Hilfe geben zu können. Es braucht ein komplett staatlich finanziertes Angebot. Dieses muss auf angesichts der individuellen Bedürfnisse der Betroffenen vielfältige Kontakt- und Unterstützungsformen abdecken.
- Medikamentenversorgung sicherstellen – Pharmaindustrie verstaatlichen
Die medikamentöse Versorgungsknappheit ist eine logische Folge der kapitalistischen Logik. Pharmakonzerne produzieren vorrangig die Medikamente, die für sie am meisten rentieren.
Für uns ist klar: Gesundheit vor jedem Profit. Bereits seit Jahren gibt es Engpässe bei der medikamentösen Versorgung, die nun ihren bisherigen Höchststand erreicht hat. Dies betrifft insbesondere auch Menschen mit psychischen Störungen stark, die aktuell wichtige Medikamente nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr beziehen können. Um solche Szenarien in Zukunft zu verhindern, muss die Pharmaindustrie von der öffentlichen Hand übernommen werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass die effektivsten Medikamente produziert werden und dabei auch erschwinglich sind. Dies hat folglich auch positive Auswirkungen auf die Forschung.
- Forschung zu Ursprüngen und Behandlung vorantreiben
Noch immer weiss die Forschung viel zu wenig über den Ursprung von psychischen Störungen und deren Behandlung. Forschungsgelder müssen deshalb massiv erhöhat werden, und zwar nicht zugunsten der privaten Pharmaindustrie. Nur so kann gewährleistet werden, dass die effizientesten Behandlungsarten etabliert werden und nicht die, welche am längsten eingenommen werden müssen und folglich nach Marktlogik am meisten rentieren.
- 25h-Woche bei gleichbleibendem Lohn
Erschöpfungsdepressionen nehmen in der Schweizer Bevölkerung stark zu. Der Druck am Arbeitsplatz verschlechtert die Situation von Menschen mit psychischen Störungen zudem generell. Eine massive Arbeitszeitreduktion ist also von dringender Notwendigkeit, um Risikofaktoren für psychische Erkrankungen einzudämmen. Die JUSO fordert deshalb eine Arbeitszeitreduktion auf 25 Stunden bei gleichbleibendem Lohn.
Darüber hinaus hat neben der offiziellen Länge der Arbeitswoche auch die Fragmentierung der Arbeitswelt einen großen Einfluss auf die psychische Gesundheit. Damit ist die Verpflichtung der Arbeiter*innen gemeint, ständig verfügbar und erreichbar zu sein, auch außerhalb der Arbeitszeit. Vor dem Hintergrund der Fragmentierung der Arbeitswelt durch die Einführung von Smartphones und die Entwicklung des Web 2.0 hat sich das "Recht auf Abschalten" zu einer wichtigen zivilgesellschaftlichen Forderung entwickelt. Derzeit wird kein solches Recht durch das Arbeitsrecht garantiert. Die Verkürzung der Arbeitszeit muss mit einem wirksamen Recht zum Abschalten einhergehen.
- Totalrevision von IV-Renten und Sozialhilfesystem
→ Sozialversicherungen wie zu Gotthelfs Zeiten - JUSO Schweiz
All diese Maßnahmen können die psychische Gesundheit der Bevölkerung und damit ihre Lebensqualität verbessern. Allerdings ist ihre Nachhaltigkeit nicht garantiert, so lange sie im Rahmen des kapitalistischen Systems umgesetzt sind. Jederzeit kann ein Wechsel der Mehrheiten in den Parlamenten bedeuten, dass Massnahmen wieder rückgängig gemacht werden. Darüber hinaus bedeuted für uns ein würdiges Leben für alle nicht ein Leben ohne psychische Erkrankungen, - das wäre auf gesellschaftlicher Ebene unmöglich - sondern ein würdiges Leben für alle «verrückten» Menschen, in dem ihre Andersartigkeit akzeptiert wird. Unser Ziel ist nicht nur die Emanzipation von psychischen Erkrankungen, sondern auch eine Emanzipation der Menschen mit psychischen Erkrankungen, sowohl von den Stigmas, die sie betreffen, als auch von der Kontrolle der Psychiatrie über ihr Leben und ihren Körper. Ein emanzipatorisches Projekt muss den Menschen die freie Verfügung über ihren Körper und ihren Geist geben. Das bedeutet auch die Freiheit für jede Person, ihre Störungen so zu behandeln, wie es für sie am besten ist. Aus einer revolutionären Perspektive wird es darum gehen, «verrückten» Menschen die Möglichkeit zu geben, selbst zu entscheiden, wie ihnen geholfen werden soll, ohne Zwang oder Verpflichtung zur Behandlung.
Kämpfen wir gemeinsam für ein würdiges Leben für alle, frei von Stigmatisierung, Diskriminierung und sozialen Normen!
Fussnoten
(1) Über die Verwendung der Begrifflichkeit “psychische Erkrankung” gegenüber “psychische Störung” herrscht Uneinigkeit. Vor- und Nachteile sind bei beiden Begrifflichkeiten vorhanden.
(11) Triagieren bedeutet, dass Patient*innen aufgrund von Platzmangel nach genau definierten Kriterien priorisiert werden. Die nicht-priorisierten Patient*innen müssen also auf eine Behandlung zu späterem Zeitpunkt hoffen.
Quellen
(2) Psychische Gesundheit in der Schweiz
(3) Psy-Gesundheit.ch - Die häufigsten psychischen Erkrankungen
(4) Psychische Gesundheit in der Schweiz
(5) Überfordert und depressiv - «Die Mädchen sind verzweifelt und sehen keine Zukunft» - News - SRF
(6) Psychische Gesundheit in der Schweiz
(7) Alles andere als eine Wohlstandskrankheit | Caritas Schweiz
(8) Science: Psychische Erkrankungen haben eine gemeinsame Basis — Humangenetik Bonn
(9) Einfluss von Covid-19 auf die psychische Gesundheit
(10) Gesundheitspolitik: Die Psychiatrie im permanenten Ausnahmezustand | WOZ Die Wochenzeitung
(12) Triage in der Jugendpsychiatrie - «Wir können den Kindern nicht die Behandlung bieten, die ihnen zustehen würde
(13) Psychotherapie: Psychologen gehen gegen Krankenkassen vor
(14) Invalidenversicherung | Pro Mente Sana | Psychische Gesundheit stärken
(15) Invalidenversicherung: Die dreiste Integrationslüge | WOZ Die Wochenzeitung
(16) Fürsorgerische Unterbringung aus grundrechtlicher Sicht - humanrights.ch
(17) Psychiatrie und Gesellschaft: Anstalten machen | WOZ Die Wochenzeitung
(18) Psychiatrie: Medikamentenversuche im Geiste Heideggers | WOZ Die Wochenzeitung
(19) Berichterstattung über Menschen mit psychischen Erkrankungen
(20) Psychologe über tödliche Polizeischüsse: „Fast alle Fälle sind vermeidbar“ - taz.de
(21) Psychiatriepflegende am Anschlag – Isolationen nehmen zu | Kassensturz | SRF
(22) https://ind.obsan.admin.ch/indicator/obsan/fuersorgerische-unterbringung-in-schweizer-psychiatrien
(23) Evaluation der Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung | across•concept im Auftrag vom Bundesamt für Sozialversicherungen
(24) https://www.humanrights.ch/fr/pfi/droits-humains/detention/placements-forces-hopital-psychiatrique-droits-fondamentaux
[1] Von Moos, David: Luzern kämpft gegen hohe Selbstmordrate unter LGBT- Jugendlichen, in: Luzerner Zeitung (07.03.2020),[https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/luzerner-kaempft-gegen- hohe-selbstmordrate-unter-lgbt-jugendlichen-ld.1200509], Zugriff am: 28.01.2022.
[2] Stocker, Desirée (et al.): Der Einfluss der COVID-Pandemie auf die psychische Gesundheit der Schweizer Bevölkerung und die psychisch-psychotherapeutische Versorgung der Schweiz. Schlussbericht, im Auftrag des BAG, Sektion Nationale Gesundheitspolitik, Bern 2021, S. VII.
[3] Pro Juventute Schweiz: Pro Juventute Corona-Report. Auswirkungen der COVID- 19-Pandemie auf Kinder, Jugendliche und ihre Familien in der Schweiz, Zürich 2021, S. 3.
[4] Bühler, Gordon (et al.): Wie geht es dir? Ein psychisches Stimmungsbild der Schweiz, im Auftrag von: Pro Mente Sana, Zürich 2018, S. 20.