Positionspapier “Gefängnisse” der JUSO Schweiz
Ein funktionierendes Justizsystem ist ein zentraler Bestandteil eines modernen bürgerlichen Staates, da dieses dafür zuständig ist, geltende Gesetze und Grundrechte durchzusetzen. Es entscheidet somit im Konfliktfall zwischen Individuen, Gruppen oder dem Staat über die Konsequenzen dieser Konflikte und ihre Umsetzung. Für die staatskritische Linke war deshalb die Auseinandersetzung mit dem Justizsystem und seinen Teilaspekten (Gerichte, Gesetze, Staatsanwaltschaften, Polizei, etc.) schon immer relevant.
In den vergangenen Jahrzehnten haben die rechtsbürgerlichen Mehrheiten zahlreiche Verschlechterungen im Justizsystem eingeführt, wie beispielsweise mehr Möglichkeiten, Menschen unbefristet einzusperren oder den Abbau von Beschuldigtenrechten. Zeitgleich mit Kürzungen beim Sozialstaat wurden die Repression erhöht und die Rechte von sozial Benachteiligten ausgehöhlt. Die Linke setzte dem bisher wenig entgegen und hatte keine befriedigenden Antworten. Dieses Papier soll zu einer linken Antwort beitragen. Es fokussiert auf einen Teilaspekt des Justizsystems, nämlich jenem der Gefängnisse, da diese ein sehr spür- und sichtbarer Teil des Justizsystems sind.
Wie sieht das Gefängnissystem aus und wieso?1
Obwohl Gefängnisse als Strafe eine relativ junge Erfindung sind, sind sie heute nicht mehr wegzudenken. Nicht weil es keine Alternativen oder bessere Lösungen gäbe, sondern weil wir mit ihrer Existenz aufgewachsen sind.
Wie hat sich das Gefängnissystem entwickelt?
Bis ins 19. Jahrhundert hinein waren Bestrafungen meist sehr blutig. Im Mittelalter in Europa wurden Menschen grausam gefoltert und hingerichtet. Es gab auch damals bereits Gefängnisse, diese wurden jedoch nur für die Zeit des Abwartens der Strafe eingesetzt und nicht als Strafe selbst.
Gefängnisse, wie wir sie heute kennen, kamen etwa zeitgleich wie die bürgerlichen Staaten auf2. Dies ist kein Zufall. Gefängnisse wirkten weniger grausam als frühere Bestrafungen und Gefängnisinsass*innen konnte man gut in den neuen Fabriken als günstige Arbeitskräfte gebrauchen3. Auch bestand die Hoffnung, dass Leute, die nicht den Normen entsprachen oder nicht als kapitalistisch ausbeutbare Arbeiter*innen taugten, wieder gesellschaftstauglich gemacht und dann in die kapitalistische Verwertungslogik eingegliedern werden konnten. Ein weiterer Grund für die grosse Verbreitung von Gefängnissen ist die Einfachheit und vordergründige Gleichheit der Strafe: Eingesperrt werden scheint für alle Menschen gleich schlimm, egal ob arm oder reich. Dies sind alles Gründe, die bis heute kritisiert werden können und müssen. Trotzdem sind Gefängnisse heute kaum mehr wegzudenken, nicht weil es keine Alternativen oder bessere Lösungen gäbe, sondern weil wir mit ihrer Existenz aufgewachsen sind.
Wer sitzt im Gefängnis und wieso?
Es dürfte jedoch nicht verwundern, dass trotz der vordergründigen Gleichheit die Realität anders aussieht: In Gefängnissen sitzen vor allem Ausländer*innen und Arbeiter*innen. Nicht weil diese Menschengruppen von Natur aus krimineller sind, sondern weil diese Gruppen stärker verfolgt und kriminalisiert werden. Sie werden zum einen durch die Armut in die Kriminalität gedrängt und zum anderen können sie sich auch nicht freikaufen. Dies ist eine Folge des kapitalistischen Systems, das Ungleichheiten in der Verteilung des Reichtums schafft und Folge des Nationalismus bzw. des nationalstaatlichen Systems, der die Integration von Ausländer*innen verhindert und sie bestimmter Rechte (Arbeits- und Sozialrechte) beraubt.
Welche Straftaten wie stark und mit welchen Mitteln verfolgt werden ist ein politischer Entscheid. Dass in unseren Gefängnissen eher Ladendieb*innen als Steuerhinterzieher*innen zu finden sind, 4 ist kein Zufall. Steuerbetrug und andere Verbrechen von Kapitalist*innen, die die Gesellschaft Millionen kosten, werden viel weniger konsequent verfolgt als vergleichsweise kleine Verbrechen. Indem der Staat dies tut, prägt er wiederum unser Bild von „Kriminalität“ und „kriminellen Menschen“ entscheidend mit. Dass wir also beim Wort „Kriminalität“ oder „Straftäter*in“ eher an «kriminelle Ausländer*innen» denken als an kriminelle Banker*innen, ist primär eine Folge davon, wer überhaupt kriminalisiert wird.
Die Kriminalisierung von Menschen mit Migrationshintergrund wird durch Racial Profiling5 noch einmal verstärkt und für Ausländer*innen zeigt sich auch die Gesetzgebung knallhart diskriminierend: Rund 1/6 aller strafrechtlichen Verurteilungen in der Schweiz6 stützen sich auf das Ausländer*innengesetz, also zum Beispiel den Strafbestand des illegalen Aufenthalts in der Schweiz. Verurteilungen gegen Schweizer*innen kommen dabei nur selten vor. Besonders empörend ist dabei das Konzept der Administrativhaft: Das Ausländergesetz erlaubt es den Behörden, abgewiesene Asylsuchende und Personen ohne Aufenthaltsbewilligung bis zu 18 Monate in Haft zu nehmen, ohne dass diese straffällig geworden wären. Diese Haft dient oftmals dazu, abgewiesene Asylsuchende aus Ländern ohne Rückführungsabkommen zu einer “freiwilligen” Rückkehr zu bewegen.
Des Weiteren bietet auch das Strafverfahren selbst äusserst ungleiche Möglichkeiten: Reiche Menschen können sich bessere, oder überhaupt Anwält*innen leisten. 95% der Strafverfahren werden von Staatsanwaltschaften per Strafbefehl ohne Gerichtsverhandlung abgeschlossen. Dabei entscheidet die Staatsanwaltschaft selber, welche Strafe verhängt wird. Es gibt keine Gerichtsverhandlung und dementsprechend auch eine geringere Möglichkeit für die Verurteilten, sich zu wehren, weil dies verwaltungstechnisch zwar bindend, jedoch für eine Mehrheit der Bevölkerung schwer zugänglich ist und das Recht auf Anhörung in der Praxis praktisch nicht durchsetzbar ist. Für den Staat ist das effizienter, doch Betroffene, welche mit einer geringeren Kenntnis der Landessprache, psychischen Erkrankungen oder anderen Überforderungen konfrontiert sind, verlieren dadurch jeglichen Rechtsschutz. Ärmere Menschen und Ausländer*innen werden zudem auch häufiger in Untersuchungshaft genommen, da sie entweder keine Möglichkeit haben, die notwendige Sicherheitsleistung zu erbringen, oder da automatisch eine „Fluchtgefahr“ angenommen wird8. Ebenso werden Ausländer*innen bei geringen Delikten öfters in Haft genommen, bei längeren Strafen deutlich öfters in geschlossenen Gefängnissen eingesperrt und seltener früher entlassen9.
Was sollen Gefängnisse bewirken und was bewirken sie wirklich?
Gefängnisse werden in der bürgerlichen Gesellschaft durch drei Gründe gerechtfertigt: Sie sollen abschrecken, vergelten und die Gesellschaft schützen.
Ob Gefängnisse Rückfälle verhindern können, ist umstritten, da viele der entlassenen Gefangenen wieder straffällig werden10. Härtere Sanktionen wirken in den meisten Fällen kontraproduktiv. Die Haft wirkt sich negativ auf die Psyche der Inhaftierten aus. Zudem verstärken Männergefängnisse oftmals toxische Männlichkeitsbilder und daraus folgende Verhaltensmuster11. Im Gefängnis lernt man nicht, wie man danach ein gutes Leben in der Gesellschaft führt, sondern nur, wie man im Gefängnis überlebt. Auch für die Kinder von Gefangenen ist das System eine massive Belastung. 9’000 Kinder leben getrennt von einem inhaftierten Elternteil. Zwei Drittel dieser Kinder entwickeln während der Haftzeit eine Verhaltensstörung, ein Drittel leidet unter körperlichen Beschwerden12. Die Inhaftierung eines Elternteils kann das Leben der Kinder schwer beeinträchtigen.
Auch die oft erwähnte Abschreckungswirkung, also ein Präventionseffekt auf die gesamte Gesellschaft, ist kaum vorhanden13. Viele Straftaten werden im Affekt14 begangen, die Gefahr einer möglichen Bestrafung wirkt deshalb kaum als Abschreckung. Straftaten werden nicht begangen, weil sie unter Strafe stehen und Straftäter*innen wägen auch kaum die Strafhöhe mit dem Nutzen aus der Straftat ab, sondern es spielen anderen Gründen. Ausschlaggebende Faktoren für kriminelles Verhalten können strukturelle Gründe sein, wie mangelnder Zugang zu Bildung, geringes Einkommen, Diskriminierung, Arbeitslosigkeit, oder andere Begebenheiten, die das Leben der straftätigen Person geprägt haben. All diese strukturellen Gründe sind gesellschaftlich beeinflussbar. Weiter können auch andere Gegebenheiten wie Krankheiten oder Süchte dazu führen, dass eine Person straffällig wird.
Zur Vergeltung taugen Gefängnisse sicher. Doch ein Übel mit einem anderen Übel zu bekämpfen ist ein schlechter Grundsatz für eine Gesellschaft. Aus der Zufügung eines Übels kann nichts positives herauskommen.
Das heutige Gefängnissystem trägt in keiner Weise dazu bei, eine sicherere oder gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Es dient vor allem dazu, den bürgerlichen Staat zu erhalten und die Unterdrückten zu kontrollieren.
Wie können Gefängnisse sonst noch aussehen?
Eine richtige Resozialisierung in Gefängnissen hätte positive Auswirkungen , findet aufgrund des Abbaus des Sozialstaates jedoch immer seltener statt. Natürlich lehnen wir die Resozialisierung zum Zweck, Menschen wieder in eine kapitalistische Verwertungslogik einzugliedern, ab. Menschen in Gefängnissen einfach verrotten zu lassen, finden wir jedoch inakzeptabel.
Einige Staaten, darunter Norwegen, haben bereits heute Gefängnisstrukturen, welche den Inhaftierten auch während der Haft viele Freiheiten lassen. Nicht die Haftbedingungen, sondern der blosse Entzug der Bewegungsfreiheit, soll die Strafe darstellen. Dies bedeutet, dass Inhaftierte häufig selber kochen, eine grössere Bewegungsfreiheit haben und ihren Tagesablauf mit Arbeit und Freizeit selber einteilen können. Die Entwicklung der Rückfallquote spricht für das norwegische Modell, denn sie liegt mit 20% deutlich tiefer als in Staaten mit einem restriktiveren System (häufig ca. 50%). In der Schweiz ist das Modell des (halb-)offenen Strafvollzugs15 (für gewisse Delikte) gut verankert, welches ebenfalls zu einer tieferen Rückfallrate geführt hat (38%).
Kurz- und mittelfristig: Keine Haft aus Vergeltung und ein fairer Umgang mit Inhaftierten
Unsere Vorstellungen eines optimalen Umgangs mit sozial schädlichem Verhalten lassen sich im bürgerlichen Staat nicht verwirklichen. Dennoch gibt es auch hier Raum für positive Reformen und die Notwendigkeit für die Abwehr von Verschlechterungen.
Bedingungen für die Haft
Die Anzahl von eingesperrten Personen nimmt stetig zu16, dies hat verschiedene Ursachen: Einerseits haben die Rechtsbürgerlichen im Gesetz höhere Strafen festgeschrieben und kurze Freiheitsstrafen wieder ermöglicht. Andererseits werden bedingte Entlassungen seltener gewährt17.
Wir fordern daher:
- Ein Verzicht auf die vom Bundesrat vorgeschlagene “Harmonisierung des Strafrahmens”, welche längere Strafen fordert.
- Eine erneute standardmässige Entlassung von Gefangenen nach 2/3 der Strafe.
- Ein erneutes Verbot kurzer Freiheitsstrafen, denn durch diese gibt es weder Resozialisierung noch kann die Bevölkerung geschützt werden.
- Ein vermehrter Einsatz von Alternativen zu Gefängnissen, also zum Beispiel Sozialarbeit, psychiatrischer Behandlung oder Hausarrest.
Momentan gibt es glücklicherweise noch keinen privaten Strafvollzug in der Schweiz, gesetzlich wäre er jedoch möglich. Andere Bereiche des Justizvollzuges, wie beispielsweise der Transport zwischen Anstalten, werden jedoch bereits heute von Privaten durchgeführt. Der Blick in andere Länder zeigt, was Privatisierungen im Justizvollzug im Kapitalismus anrichten können – eine völlige Profitmaximierung auf Kosten der Eingesperrten. Private Gefängnisse haben ebenfalls zur Folge, dass die Gefangenen möglichst lange eingesperrt bleiben um den Profit zu maximieren. Gefängnisdirektor*innen haben einen gewissen Handlungsspielraum in Bezug auf die Dauer von Haftstrafen und können zum Beispiel eine vorzeitige Entlassung erschweren. Deshalb ist es um so wichtiger, den Justizvollzug nicht in private Hände zu geben.
Wir fordern daher:
- Ein Verbot privater Gefängnisse.
- Kein Profit aus dem Strafvollzug.
- Eine Wiederverstaatlichung aller im Justizvollzug durch Private erbrachte Leistungen.
In Untersuchungshaft landet man bereits vor irgendeiner Verurteilung. Die Haftbedingungen sind oft katastrophal: kein Kontakt zur Aussenwelt, keine Möglichkeiten zu arbeiten und nur eine Stunde pro Tag ausserhalb der Zelle. Ausserdem kann die Untersuchungshaft unbegrenzt verlängert werden. Diese Haftbedingungen führen zu einer hohen Suizidrate18.
Wir fordern daher:
- Eine umfassende Lockerung der Haftbedingungen in der Untersuchungshaft, insbesondere eine massive Verringerung der Einschlusszeiten auf acht Stunden pro Tag.
- Eine Begrenzung der Länge auf maximal sechs Monate, statt der Möglichkeit, die Untersuchungshaft unendlich oft zu verlängern.
Bei einem Freiheitsentzug eines Menschen aufgrund seiner Gefährlichkeit (den sogenannten Massnahmen) kann die Dauer der Zeit im Gefängnis beliebig oft verlängert werden. Dies führt oft dazu, dass eine Person lange über ihre eigentliche Strafe hinaus im Freiheitsentzug verbleibt. Problematisch ist dabei bereits die Feststellung, ob eine Person gefährlich ist. Das Resultat kann oftmals sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem, welche*r Gutachter*in eingesetzt wird. Zudem wird die Gefährlichkeit aus dem Gedanken einer Nullrisikostrategie heraus oftmals deutlich überschätzt. Verschlimmert wird dieses Problem noch durch die Anwendung von Algorithmen, welche suggerieren, die Gefährlichkeit einer Person aufgrund eines einheitlichen Schemas feststellen zu können. Zusätzlich werden die Resultate dieser Untersuchungen oft als unumstössliche Wahrheit angesehen. Statt Menschen zu therapieren, werden diese weggesperrt, auch weil Therapieplätze fehlen.
Wir fordern daher:
- Die Anordnung von Massnahmen (Freiheitsentzug aufgrund Gefährlichkeit für die Gesellschaft) nur bei äusserst schwerwiegenden Verbrechen.
- Beurteilung der Massnahmen durch mehrere unabhängige und wechselnde Gutachter*innen.
- Schaffung von genügend Therapieplätzen inkl. hochwertiger Ausbildung für das Personal.
- Eine stärkere Kontrolle der Gutachter*innen durch die Vorschrift einer anwältlichen Begleitung bei der Begutachtung.
- Die Abschaffung der Möglichkeit der Verlängerung einer Massnahme.
- Der Vollzug der Massnahmen in einem Rahmen, der sich vom heutigen grundlegend unterscheidet und dem Leben ausserhalb des Gefängnis stark ähneln sollte.
- Ein Verbot der nachträglichen Umwandlung einer Strafe in eine Massnahme. 19
Generell muss der Umgang mit psychisch kranken Menschen verbessert werden. Die jüngsten Empfehlungen des UNO-Menschenrechtsausschusses an die Schweiz weisen die Schweiz an, die Inhaftierung nur als letztes Mittel anzuwenden20.
Wir fordern daher:
- Die vermehrte Anwendung von ambulanten, zeitlich limitierten Alternativen zum institutionellen Freiheitsentzug.
Wie beschrieben, ist das Justizsystem in der Schweiz zutiefst rassistisch und ausländer*innenfeindlich geprägt. Menschen, die von Rassismus und Diskriminierung betroffen sindwerden stärker kontrolliert und verfolgt und können sich schlechter wehren.
Wir fordern daher:
- Die Abschaffung aller spezifischen Delikte für Ausländer*innen, kurzfristig zumindest der «illegale Aufenthalt», welcher abgewiesene Asylsuchende und Sans Papiers betrifft.
- Ein diskriminierungsfreier Zugang zu Alternativen von Gefängnissen und der bedingten Entlassung für Angehörige aller Staatsbürgerschaften und staatenlosen Personen.
- Die Abschaffung der Administrativhaft.
Bedingungen in der Haft
Als Gesellschaft haben wir ein grosses Interesse daran, dass im Gefängnis ein Fokus auf Resozialisierung gelegt wird. Selbstverständlich ist auch das kein Allheilmittel und die Menschen nur arbeitsfähig zu machen, um sie wieder kapitalistisch auszubeuten, ist nicht unser Ziel. Die Zeit im Gefängnis soll so gestaltet werden, dass die Inhaftierten anschliessend eine Chance auf ein normales Leben haben.
Wir fordern daher:
- Ein verstärkter Einsatz von Resozialisierungsmassnahmen 21, die einen Fokus auf Hilfe zur Selbsthilfe legen und es den Menschen ermöglichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
- Ein Verbot der Diskriminierung aufgrund vergangener Straffälligkeit.
Für die Angehörigen und insbesondere die Kinder von Inhaftierten ist die Haft sehr belastend und schädlich. Das darf keine Folge unseres Justizsystems sein. Wir fordern daher:
- Eine möglichst grosse Nähe zwischen dem Ort der Haft und dem vorherigen Lebensmittelpunkt.
- Eine Schaffung kindgerechter Besucher*innenräume.
- Das Ermöglichen intensiven Kontakthaltens, insbesondere in der Untersuchungshaft.
- Das Recht auf Sexualität und Intimität.
Situation von Frauen* und queeren Personen im Gefängnis
Immer wieder kommt es bei Gefängnisplätzen für Frauen* zu Engpässen, so fehlten 2018 in der Schweiz 45 Plätze22. Dies führt dazu, dass einige Frauen auf Wartelisten landen und in Regional- und Untersuchungsgefängnissen untergebracht werden, wo ansonsten kaum oder keine anderen Frauen in Haft sind. Da Männer und Frauen in Gefängnissen strikt getrennt werden, führt dies dazu, dass die Frauen teilweise isoliert werden. Dies auch, weil Gefängnisse ein Ort der toxischen Männlichkeit sind und ein Zusammentreffen der Geschlechter fatal enden kann. Im Extremfall sind Insassinnen 23 Stunden pro Tag eingesperrt. Bei trans Menschen wird ebenfalls des Öfteren über ihre Identität hinweg entschieden respektive ihre trans Identität ignoriert. Eine positive Ausnahme bildet das Justizvollzugsgesetz des Kantons Basel-Stadt, das seit 2019 die Geschlechtsidentitäten der Inhaftierten respektiert23.
Wir fordern deshalb:
- Ein gezieltes Angehen der toxischen Männlichkeit, da aufgrund derer viele Gewaltstraftaten begangen werden.
- Eine Sicherstellung genügender Gefängnisplätze für alle Geschlechter, inklusive möglichst menschengerechter Ausgangszeiten, Austauschmöglichkeiten und Bildung.
- Freie Wahl der trans Menschen, in welches Gefängnis sie eingeteilt werden.
- Eine gefängnisinterne unabhängige Anlaufstelle bei Fällen sexualisierter Gewalt, sowie Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und Identität.
Grosse Probleme zeigen sich auch bei der Arbeit im Gefängnis. Diese ist meist repetitiv und schlecht bezahlt. Der durchschnittliche Tageslohn beträgt etwa 26 CHF. Entsprechend dienen Jobs vor allem den Kapitalist*innen, welche dadurch Zugang zu billiger Arbeitskraft erhalten.
Wir fordern daher:
- Die Möglichkeit zu befriedigender Arbeit und einer guten, anerkannten Ausbildung in allen Gefängnissen, unabhängig vom begangenen Delikt der eingesperrten Person.
- Eine Bezahlung der Arbeit nach in der restlichen Schweiz üblichen Ansätzen (inkl. Altersvorsorge).
- Eine Aufhebung des Verbots für Gefangene, sich gewerkschaftlich zu organisieren und zu streiken.
- Die Abschaffung des Arbeitszwangs, insbesondere nach Erreichen des Pensionsalters.
- Die Möglichkeit der Bildung von geschützten Ersparnissen über dem heutigen Maximum von ungefähr 600 CHF.
Besonders dramatisch sind die Lebensbedingungen für Personen in Hochsicherheitshaft. Diese werden vollständig von den Mitinsass*innen und teilweise auch vom Gefängnispersonal isoliert. Offiziell darf diese Haft nur zum Schutz des*der Gefangenen oder zum Schutz Dritter angeordnet werden, in der Realität geschieht dies jedoch oft zur Bestrafung und weil die Gefängnisse dafür mehr Geld verlangen können. Die Gefahr von Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit wird in der Hochsicherheitshaft nochmals stark erhöht. Berichtet wird von Apathie, Angstzuständen, Wahnideen, Verfolgungswahn, Depressionen, Aggressionen, kognitiven Störungen, Wahrnehmungsstörungen und Psychosen als Folgen.
Wir fordern daher:
- Kurzfristig: Die Begrenzung der Hochsicherheitshaft auf maximal zwei Wochen.
- Kurzfristig: Die Anordnung darf nur durch ein Gericht erfolgen. Die psychische und physische Gesundheit der Menschen muss dabei beachtet werden.
- Mittelfristig: Die Abschaffung der Hochsicherheitshaft unter Berücksichtigung der Sicherheit der restlichen Inhaftierten und des Personals.
Der Rechtsschutz im Gefängnis ist oft ungenügend oder gar nicht vorhanden. Rechtstexte sind in einer für die Betroffenen oft nicht verständlichen Sprache verfasst. Die Fristen für Verfügungen sind oft sehr kurz. Inhaftierte haben auch keinen Zugang zu Anwält*innen und fürchten sich vor zusätzlicher Repression, wenn sie sich wehren. Eine Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung und oft kommt das Urteil erst nach der Haft oder viel zu spät. Die Betroffenen haben dann bereits Monate unter dem Missstand gelitten.
Wir fordern daher:
- Kostenloser Zugang zu unabhängiger Rechtsberatung und Dolmetscher*innenfür Menschen im Gefängnis.
- Eine deutliche Verlängerung der Anfechtbarkeitsfristen.
- Finanzielle Entschädigung für Inhaftierte, die ungerechtfertigt durch eine Disziplinarmassnahme bestraft wurden.
- Langfristig: Opferhilfe und Selbstbestimmung bei notwendiger Haft
Wir sind überzeugt, dass in der Gesellschaft unserer Vision die Anzahl der Straftaten deutlich abnehmen wird. Erstens weil die materiellen Bedürfnisse aller gedeckt sein werden, zweitens weil die Häufigkeit und Schwere psychischer Krankheiten aufgrund des verringerten Leistungsdrucks abnehmen wird, drittens weil durch die Gleichstellung aller die Anzahl der Hassverbrechen24 reduziert wird und viertens weil zahlreiche Handlungen, welche heute als Straftaten gelten, dann keine Straftaten mehr sein werden (zum Beispiel Cannabiskonsum).
Ein Restbestand an sozial schädlichem Verhalten wird jedoch wohl oder übel bestehen bleiben. Im Umgang mit diesem möchten wir jedoch keine Vergeltung üben, da die Vergeltung weder Opfer noch Täter*in hilft, sondern nur dazu dient, ein Unrecht mit einem anderen Unrecht auszugleichen. Unser Ziel ist es, dass der Schaden, soweit wie möglich, wieder gut gemacht wird und dem Opfer geholfen wird. Im besten Fall wird auch echte Reue der Täter*in und eine langfristige Verhaltensänderung erwirkt. Dies kann durch ausgebaute Opferhilfe oder andere Möglichkeiten geschehen. Hier sei ebenfalls Transformative Justice25 als vielversprechende Möglichkeit genannt. Auf jeden Fall muss aber immer auch gelten: Einfach das gleiche Mittel für alle Täter*innen anzuwenden, kann gar nicht funktionieren – hier muss differenziert werden, je nachdem was die persönliche Situation von Täter*in und Opfer ist.
Weiter sollte das – in westlichen Gesellschaften schon lange präsente und durch den Neoliberalismus noch verstärkte – Verständnis einer Straftat als individuelles Versagen eingedämmt werden. Alle Menschen sind auch Produkte der Gesellschaft. Kriminalität entsteht hauptsächlich durch gesellschaftliche Strukturen und wird durch sie verstärkt. Dies muss bei der Beurteilung von Straftaten eine Rolle spielen. Strukturen, welche Kriminalität erzwingen oder begünstigen, müssen geändert werden. Denn uns ist klar: Nicht zusätzliche Haftplätze schaffen mehr Sicherheit, sondern wirtschaftliche Sicherheit, Investitionen beispielsweise in Bildung und Kinderbetreuung sowie die Förderung sozialer Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen.
Unsere Vision ist daher:
- Eine Fokussierung auf die Bedürfnisse des Opfers und ein Anstreben von nachhaltigen Verhaltensänderungen statt kurzsichtiger Vergeltung.
- Eine Anerkennung der Mitverantwortung der gesellschaftlichen Strukturen an Straftaten und daraus abgeleitet eine verstärkte Förderung der sozialen Teilhabe aller.
Falls in gewissen Fällen eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit trotzdem unumgänglich bleibt, möchten wir diese explizit nicht als Strafmittel gebrauchen, sondern ausschliesslich zum Schutz Dritter einsetzen. Aber auch das darf nur in einem klaren rechtsstaatlichen Rahmen geschehen und sollte das letztmögliche Mittel zum Schutz der Gesellschaft sein. Darin sollte sich der Alltag möglichst nicht von jenem in der sonstigen Gesellschaft unterscheiden und das Angebot für Therapien muss ausgebaut werden.
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1 Quellen, welche im gesamten Positionspapier wiederholt gebraucht wurden: Michel Foucault, Überwachen und Strafen, 1977; Karl-Ludwig Kunz, Kriminologie, 2011; Stephan Bernard, Ungleiches Strafrecht für alle, in: Schweizer Zeitschrift für Strafrecht, 2017; Thomas Galli: Neuordnung des Strafrechts mit sanfter Vernunft; Cathy O’Neil, Angriff der Algorithmen, 2017
2 Zeitgleich mit der erhöhten Disziplinierung der gesamten Gesellschaft in Schulen, Fabriken, Spitälern etc.
3 Dies ist auch aus gewerkschaftlicher Sicht wichtig: So wurde bereits im 19. Jahrhundert von Arbeiter*innen bemängelt, dass die Gefängnisarbeit ihre Löhne drücken würde.
4 Siehe Statistiques Pénales Annuelles du Conseil de l’Europe, S. 45
5 Racial Profiling: Menschen werden aufgrund von ihrer Hautfarbe häufiger von der Polizei kontrolliert und schneller einer Straftat vedächtigt.
6 Strafurteilsstatistik, 2018
8 Die Fluchtgefahr ist eine der möglichen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Untersuchungshaft möglich ist.
9 Christoph Urwyler, Die Praxis der bedingten Entlassung, Berlin/Bern 2020, S. 290; Christin Achermann, Ausländische Strafgefangene zwischen Resozialisierung und Wegweisung, in: Alberto Achermann (Hrsg.) Jahrbuch für Migration 2014, S. 69 ff, S. 93 ff.; https://www.srf.ch/news/schweiz/schweizer-strafvollzug-warum-die-zahl-der-haeftlinge-zugenommen-hat
10 Andrea Baechtold/Jonas Weber/Ueli Hostettler, Strafvollzug, Bern 2016, S. 40.
11 Toxische Männlichkeit: Schädliche Rollenbilder für Männer. Also zum Beispiel, dass man als Mann möglichst nie Gefühle zeigen sollte. Das führt dazu, dass Männer Gefühle unterdrücken statt sie zu verarbeiten. Diese Rollenbilder schaden den Männern selber, aber auch ihrem Umfeld.
12 Céline Morisod, L’intérêt supérieur de l’enfant et le maintien des relations avec son parent incarcéré : Enjeux, difficultés et perspectives au regard d’intervenants, S. 14 f.
13 Ulrich Eisenberg, Kriminologie, München 2005, S. 588.
14 Unter einem Affekt versteht man eine intensive Gemütsbewegung, die in der Regel nur von kurzer Dauer ist. Dabei kann es sich um verschiedene Gemütserregungen handeln, z. B. um Verwirrung, Furcht oder Wut
15 Im (halb-)offnenen Strafvollzug gibt es weniger Massnahmen gegen die Flucht aus dem Gefängnis. Insassen können z. B. regulär arbeiten gehen und kommen am Abend selbständig wieder ins Gefängnis zurück.
16 Statistik des Freiheitsentzugs, 2019
17 Christoph Urwyler, Die Praxis der bedingten Entlassung, Berlin/Bern 2020, S. 132.
19 Dies wird in Deutschland unter dem Begriff Abstandsgebot bereits ansatzweise umgesetzt.
20 Human Rights Committee, Concluding observations on the fourth periodic report of Switzerland, Absatz 39
21 Massnahmen, die dazu Beitragen sollen, dass Menschen nach dem Gefängnis in der Gesellschaft zu recht kommen. Z. B.: Weiterbildungen, Therapien, soziale Aktivitäten.
22 https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/zu-wenig-platz-fuer-frauen-in-haft-monatelanges-warten-auf-gefaengnisplatz-133548339 (abgerufen am 7.8.2020).
23 https://www.tgns.ch/wp-content/uploads/2019/11/19-11-13_Justizvollzugsgesetz.pdf (abgerufen am 8.8.2020).
24 Als Hassverbrechen gelten Straftaten, bei denen das Opfer nach der (vermuteten) Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe oder einem Geschlecht ausgewählt werden, also bspw. Straftaten gegenüber Frauen*, queeren Personen, Obdachlosen, Behinderten, Ausländer*innen usw.
25 Die „transformative Justice“ meint eine auf Verhaltensänderung zielende Gerechtigkeit und hat vier Grundpfeiler: a) kollektive Unterstützung, Sicherheit und Selbstbestimmung für betroffene Personen; b) Verantwortung und Verhaltensänderung der gewaltausübenden Person; c) Entwicklung der Community hin zu Werten und Praktiken, die gegen Gewalt und Unterdrückung gerichtet sind; d) strukturelle, politische Veränderungen der Bedingungen, die Gewalt ermöglichen.
https://www.transformativejustice.eu/wp-content/uploads/2017/07/toolkit-finished-1.pdf