Von der Europäischen Union in den Internationalismus

10.10.2022

Positionspapier der JUSO Schweiz verabschiedet an der Delegiertenversammlung vom 17. September 2022 (Chur)


Dieses Positionspapier entwickelt die Positionen der JUSO Schweiz zu Europa und insbesondere zur Europäische Union (EU) weiter. Es soll eine Analyse von Konfliktfeldern bieten und mittel- und langfristige Lösungsansätze aufzei gen. Das Papier baut auf den JUSO-Positionspapieren «Für ein Europa der Menschen, gegen ein Europa des Finanzmarktes» (2012), «10 Jahre Weltwirtschaftskrise» (2018) und der Resolution «Europa statt Isolation» (2014) auf und nimmt jüngere Entwicklungen auf.

Als internationalistisch ausgerichtete Partei wissen wir, dass die Schweiz keine Insel ist, sondern sich mitten in Europa befindet und eng mit den umliegenden EU-Mitgliedstaaten verflochten ist. Es ist deshalb nur logisch, dass die JUSO Schweiz eine umfassende Positionierung zur EU fasst, die sich nicht an ausschliessenden Konstrukten wie Nationalstaaten orientiert, sondern am Grundsatz “Proletarier*innen aller Länder vereinigt euch”. Zurzeit befasst sich auch die SP Schweiz mit ihrer Positionierung zur EU und diskutiert allfällige Beitrittsszenarien. Das vorliegende Papier möchte die Frage nach Europa und der EU jedoch grundsätzlicher stellen, damit sich die JUSO fundiert und visionär sowohl in der SP als auch auf weiteren Ebenen äussern kann. Die auseinanderfallende Beziehung zwischen der Schweiz und der EU, das Bröckeln der EU selbst und die global zu lösenden Krisen wie die Klimakrise oder die Coronakrise, machen die Auseinandersetzung mit dem Thema Europa zu einer Pflicht.
Gerade die Bürgerlichen und Rechtskonservativen in der Schweiz, insbesondere die SVP, wehren sich vehement gegen diese wichtige Auseinandersetzung: Sie greifen die europäische Integration immer wieder, teils erfolgreich, an. Die letzten SVP-Initiativen (1) sind Zeugnisse einer protektionistischen und xenophoben rechtskonservativen Politik zugunsten des Grosskapitals und mit schweren Folgen für die Bevölkerung. Umso grösser ist die Pflicht einer antinationalistischen und antikapitalistischen Partei eine alternative Sicht auf Europa zu entwickeln, um dem zerstörerischen Kurs der Bürgerlichen entschieden entgegenzutreten und eine nachhaltige Perspektive zu bieten.

Weder die Geschichte noch die Gegenwart des vereinten Europas entsprechen den Idealen der JUSO Schweiz. Nach dem 2. Weltkrieg und Zusammenschlüssen wie der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die auch zum Ziel hatte künftige Konflikte zwischen europäischen Ländern zu verhindern, haben sich einige Staaten Europas 1993 zur Europäischen Union (EU) zusammengeschlossen. Für einen gemeinsamen Markt, eine gemeinsame Währung sowie gemeinsame Regeln und Institutionen verzichtete dabei jeder EU-Mitgliedstaat auf einen Teil der nationalen Souveränität. Neben den so entstandenen marktwirtschaftlichen Vorteilen eines grossen Binnenmarktes, wurde Europa durch die EU gegenüber globalen Playern wie den USA und China gestärkt. Dabei blieb allerdings die innereuropäische wirtschaftliche Konkurrenz bestehen und jeder Staat musste für sich mit den neuen Spielregeln umgehen. Insbesondere die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 und deren Folgen haben klar aufgezeigt, dass das Gefälle zwischen den EU- Mitgliedstaaten enorm und die Zusammenarbeit minimal ist.

Zu keiner Zeit war die EU ein gesamthaftes, harmonisches Projekt. Zusätzlich jedoch haben sich Krisen wie die Finanz- und Wirtschaftskrise, der Brexit oder auch die fatale Migrationspolitik negativ auf den Zusammenhalt innerhalb der EU ausgewirkt. In vielen Ländern Europas kann mittlerweile auch deshalb wieder ein Erstarken rechtsradikaler, nationalistischer Parteien beobachtet werden. Die Krisen haben durch ihre Folgen und das Versagen der europäischen Institutionen zu einer verheerenden Wirtschafts- und sonstiger EU-Politik in vielen Mitgliedstaaten geführt. Mit ihrem abschottenden Migrationsregime, u.a. an den europäischen Aussengrenzen durch die Grenzschutzagentur Frontex, zeigt die EU ausserdem ihre Unfähigkeit, humanitäre Prinzipien einzuhalten. Die Union selbst ist durch Fehlkonstruktionen in weiteren Teilen zu einem reformunfähigen und durchsetzungsunfähigen Projekt geworden, was die Behebung solcher humanitären Vergehen oder eine echte Verbesserung der EU-Politik blockiert. Unter anderem war der Brexit eine Auswirkung dieser Entwicklungen und wurde auch europaweit für rechts-aussen Parteien zur Gelegenheit, vermehrt gegen die Personenfreizügigkeit und verstärkt rassistisch zu politisieren. Gleichzeitig gibt es Staaten auf dem Südostbalkan, die seit Ewigkeiten auf einen Beitritt warten. Diese Unsicherheit in beide Richtungen demonstriert die Instabilität der EU.
Die europäische Linke ist in ihrer Haltung zur EU stark gespalten. Auch in der JUSO und der SP zeigt sich diese Bandbreite an möglichen Positionen zur Zukunft Europas. Kritik an Neoliberalismus, Militarismus, Wirtschaftsimperialismus und Autoritarismus trifft auf die Hoffnung nach Frieden, nach supranationalen (2) demokratischen Strukturen und nach internationaler Lösungsfindung für die grössten Fragen unserer Zeit, wie der Klimakrise, des Kapitalismus oder des Patriarchats.

Es stellen sich also zwei zentrale Fragen: Ist der Schweizer Staat eher in der Lage, uns einer sozialistischen Gesellschaft näher zu bringen als die EU, und gibt es noch Hoffnung für das Projekt der europäischen Integration? Können Reformen die EU aus ihrer Krise retten und Europa in eine sozialistische Zukunft führen oder muss das Projekt EU als gescheitert erklärt werden, um eine neue staaten-übergreifende Struktur aufbauen zu können? Einem gewissen Realismus und politischer Dringlichkeit verpflichtet kann davon ausgegangen werden, dass es auf dem Weg zu einer gerechten Welt schwieriger ist, das was heute an vereintem Europa übrig ist, sterben zu lassen und etwas Neues zu schaffen, als es (kurzfristig) zu reformieren. Die sozialistische Transformation ist dabei oberstes Ziel der JUSO.

Die JUSO Schweiz schlägt daher zwei parallele Prozesse vor:

  1. Vorschläge zur transformativen Reform des derzeitigen Europas; (Im Papier: der Teil «Institutioneller und politischer Rahmen der Europäischen Union», «Die EU - in erster Linie ein freier Markt», «Die EU und die Schweiz: Zwischen Zwang, Einfluss und Abgrenzung» und «Die Klimakrise und die EU: Ein Beispiel für die Notwendigkeit koordinierter Massnahmen»).
  2. Bei gleichzeitiger Stärkung der Zusammenarbeit der europäischen Linken zur Vorbereitung des Aufbaus eines neuen föderalen und sozialistischen Europas. (Im Papier: « Wie sieht die nahe Zukunft unserer Beziehung zur EU aus?» und « Unsere Vision für ein soziales, demokratisches und ökologisches Europa»).

Dieses Papier konzentriert sich aufgrund des innereuropäischen evidenten Spannungsfeldes und der Wichtigkeit der zukünftigen Entwicklung der EU vor allem auf die innereuropäische Politik. Die globalen Auswirkungen der neoliberalen, patriarchalen und rassistischen Politik und Lösungsansätze dagegen werden im Positionspapier “Stopp die Ausbeutung des globalen Südens” (2019) behandelt. (3)

1. Institutioneller und politischer Rahmen der Europäischen Union

Europa ist mehr als die EU. Auf dem gesamten Kontinent leben Menschen zusammen und teilen gewisse Interessen, die sich aus ihrer geografischen Nähe ergeben. Diese Interessen gehen über die nationale Ebene hinaus, wie z.B. eine gute Infrastruktur, ein sicheres Leben oder eine gesunde Umwelt. Institutionell-politisch sind beispielsweise die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die Nordatlantikpakt-Organisation (NATO), die Westeuropäische Union (WEU), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Europarat weitere wichtige Zusammenschlüsse von (nicht nur) europäischen Staaten, die aber längst nicht von gleicher Bedeutung sind wie die EU. Daher beschränkt sich die folgende Analyse im Kapitel vorwiegend auf die EU.

EU-Institutionen und rechtliche Funktionsweise

Der Europäische Rat besteht aus den Staats- und Regierungschef*innen der Mitgliedstaaten. Sie treffen sich viermal jährlich, um Richtungsentscheidungen für die EU zu fällen. Die sensibelsten Entscheidungen, wie die zu Sozial-, Aussen- oder Steuerpolitik, müssen einstimmig getroffen werden. Dadurch wird zwar die Gleichheit aller Staaten gewährleistet, aber dieses Entscheidungsprinzip priorisiert auch die Souveränität der Staaten gegenüber dem Wohlergehen der europäischen Bevölkerung: Das Veto einiger Staaten verhinderte beispielsweise eine humane Reaktion auf die Migrationskrise ab 2015 oder blockierte lange Zeit die Harmonisierung der Unternehmenssteuern (4).

Im Rat der Europäischen Union (Ministerrat) treffen Minister*innen der einzelnen Mitgliedstaaten aufeinander, der Ministerrat ist nicht zu verwechseln mit dem Europarat (5). Dieser Rat ist gemeinsam mit der Kommission und dem Parlament für die Gesetzgebung zuständig. Die Minister*innen werden nicht direkt von der Bevölkerung ihres Staates gewählt, sondern können von der jeweiligen Regierung des Staates frei gewählt werden – entsprechend haben sieeine fragwürdige demokratische Legitimität.

Die Europäische Kommission stellt die Regierung der EU dar. Die Kommissionsmitglieder werden von den Regierungen der EU-Staaten nominiert und durch das Europäische Parlament gewählt. In der Praxis werden die Kommissar*innen stark von den sehr aktiven Lobbyist*innen in Brüssel beeinflusst, die vor allem die Interessen von multinationalen Unternehmen und Wirtschaftsverbänden vertreten (6). Ausserdem hat nur die Kommission das Recht, Gesetzesvorschläge zu machen.

Das Europäische Parlament wird von den EU-Bürger*innen gewählt und besteht aus 751 Abgeordneten. Diese werden national gewählt, weswegen die europäische Dimension in den Wahlkampagnen häufig völlig fehlt. Die Europaabgeordneten werden so vor allem auf der Grundlage nationaler oder sogar regionaler Themen gewählt und nicht auf der Grundlage supranationaler Themen. Darüber hinaus ist die Wahlbeteiligung niedrig (50,66% im Jahr 2019) und Menschen ohne EU- Staatsbürger*innenschaft sind nicht wahlberechtigt, obwohl sie von der EU-Politik, insbesondere im Migrations- und Asylbereich, direkt betroffen sind. Das Parlament ist im Gesetzgebungsprozess nach dem Prinzip der Mitentscheidung (oder dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren) beteiligt: Kein Gesetzestext kann ohne die Zustimmung des Ministerrates verabschiedet werden. Das Parlament hat darüber hinaus selbst kein Vorschlagsrecht für neue Gesetze. Die Kompetenzbereiche des Parlaments sind auch sonst begrenzt: Die Parlamentarier*innen haben kein Mitspracherecht bei der Steuer- oder Währungspolitik und haben beispielsweise nur eine begrenzte Macht bei der Aushandlung internationaler Handelsabkommen. Das Europäische Parlament hat heute eindeutig zu wenig Macht im Vergleich zu den anderen EU-Institutionen.

Neben den vier politischen Institutionen gibt es weitere wichtige Organe der EU. Der Europäische Gerichtshof als oberstes Gericht in der EU und der Europäische Rechnungshof als Kontrollorgan für die Einnahmen und Ausgaben der EU. Wichtig für die Ausgestaltung der EU ist auch die Europäische Zentralbank (EZB). Ihre Hauptaufgabe ist die Sicherung der Preisstabilität. Der Arbeitsmarkt oder soziale Kriterien spielen bei ihrer Arbeit keine Rolle. Die JUSO fordert daher eine demokratische Kontrolle der Europäischen Zentralbank und eine bedingungslose Indienststellung der EZB zugunsten der europäischen Bevölkerung.

Die Europäischen Verträge (Vertrag über die Europäische Union (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)) sind zwischen den EU-Mitgliedstaaten geschlossene Abkommen und bilden die Rechtsgrundlage für die Funktionsweise der EU. Das weitere EU-Recht (Sekundärrecht) basiert auf den Europäischen Verträgen. In den Verträgen festgehalten ist unter anderem der neoliberale Grundsatz, dass die EU eine «offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb» (7) zu betreiben hat. Die JUSO lehnt diese in den Verträgen festgeschriebenen neoliberalen Grundsätze ab. Die Sozialpolitik spielt in den europäischen Verträgen (Einheitliche Akte) kaum eine Rolle: Der Einbezug der sozialen Akteur*innen in die Verhandlungen und die Gewährung geringer Zugeständnisse, vor allem im Bereich des Arbeitsrechts, ist in erster Linie ein Mittel, um die Entwicklung der wirtschaftlichen Integration zu gewährleisten. (8) Es ist kaum möglich, diese Verträge zu ändern, da alle Mitgliedstaaten einer Änderung zustimmen müssen.

Neben den formellen EU-Institutionen existieren informelle Gruppierungen, die einen erheblichen Einfluss auf die europäische Politik haben, sich aber der öffentlichen Wahrnehmung und demokratischen Kontrolle entziehen. Die nicht demokratisch legitimierte Trojka beispielsweise, mit Vertreter*innen von EZB, IWF und EU-Komission, wurde im Zuge der griechischen Staatsschuldenkrise ins Leben gerufen und setzte in Griechenland harte neoliberale Reformen durch.

Weitere Einrichtungen der EU sind die Europäischen Agenturen. Sie basieren nicht auf den Gründungsverträgen der EU, sondern entstehen zur Umsetzung von EU-Recht und werden von den EU-Institutionen geschaffen. Eine bekannte Agentur ist Frontex, die Europäische Grenz- und Küstenwache, welche mitverantwortlich für die antihumanitäre Migrations- und Asylpolitik der EU und der Nationalstaaten ist.
Den Agenturen wird das praktische Handlungsfeld eigenständig überlassen, damit sich andere Institutionen auf die „grossen“ wirtschaftlichen und politischen Strategien konzentrieren können. Die Kontrolle über ihre Aktivitäten sollte eigentlich beim Europäischen Rat liegen, doch in der Praxis folgen daraus weder eine verbindliche Rechenschaftspflicht noch eine wirksame Kontrolle ihrer Arbeit. Im Fall von Frontex werden diese Kontrollen sogar dazu benutzt, die schweren Menschenrechtsverletzungen, derer sich die Agentur schuldig gemacht hat, zu verschleiern (9). Das ist eine bewusste politische Entscheidung.

Das Demokratiedefizit der EU

In den europäischen Institutionen besteht ein massives Demokratiedefizit. Die Europäische Union ist weit davon entfernt, eine parlamentarische Demokratie zu sein und das war auch nie ihr vorrangiges Ziel: Mächtige neoliberale Regierungen, Grosskonzerne und Lobbyismus der Privatwirtschaft arbeiten für die wirtschaftliche Deregulierung und nicht für die Interessen der europäischen Bevölkerung. Einzig das Europäische Parlament wird direkt von den Bürger*innen der Mitgliedsstaaten gewählt, innerhalb der oben genannten Grenzen. Die Mitglieder der anderen EU-Institutionen sind unterschiedlich demokratisch legitimiert oder gar nicht, wenn sie Länder vertreten, in denen die Demokratie in Frage gestellt wird, wie z.B. Ungarn oder Polen. Jedoch hat die EU sehr wenige Mittel, um gegen solche Demokratiedefizite vorzugehen, auch weil einzelne Staaten mittels Vetorecht Beschlüsse blockieren können. Schliesslich setzt die Geltung des EU-Rechts in beinahe allen Bereichen der Politik in den Ländern einen engen Handlungsrahmen: Die Mehrheit des in den Mitgliedstaaten geltenden Rechts wird hauptsächlich von den im Rat zusammengeschlossenen Minister*innen beschlossen, wodurch die nationalen Parlamente aufgrund des Vorrangs des EU-Rechts vor dem nationalen Recht, umgangen werden. Die Bevölkerung der Mitgliedstaaten kann so mit Gesetzen unterworfen werden, die sie nicht beeinflussen kann und deren Urheber*innen sie nicht gewählt hat.
In dieser undemokratischen Zusammensetzung kommt es vor, dass nationale Regierungen der EU die Schuld für unpopuläre neoliberale Massnahmen geben, obwohl sie selbst in den europäischen Gremien dafür gestimmt haben. Auf der anderen Seite muss aber auch anerkannt werden, dass gewisse wichtige Fortschritte durch das EU-Recht in die Politik der Mitgliedstaaten eingeflossen sind.

Die JUSO Schweiz stellt daher folgende Forderungen zur Demokratisierung der EU auf:

  • Im Europäischen Rat sollte deshalb das Prinzip der einstimmigen Beschlussfassung zugunsten von qualifizierten Mehrheitsabstimmungen vollständig abgeschafft werden.
  • Das Europäische Parlament sollte ein Vorschlagsrecht haben.
  • Die europäische Bevölkerung sollte über direktdemokratische Instrumente, wie eine verbindliche Bürger*inneninitiative, verfügen, die die Europäische Kommission in einen Gesetzesvorschlag umwandeln muss. Es muss auch für die europäische Bevölkerung möglich sein, Änderungen der europäischen Verträge zu fordern.
  • Informelle und undemokratische Gruppierungen müssen aufgelöst werden.
  • Die Aufgaben der EU-Agenturen müssen von demokratisch kontrollierbaren Institutionen ausgeführt werden und es müssen wirksame Kontrollmechanismen eingeführt werden.

Die Linke in Europa

Ebenfalls wichtig ist es, die Rolle der Linken in Europa zu betrachten. Denn sie hat sich über die Zeit verändert und unterscheidet sich je nach Bewegung oder Partei massiv. In Zeiten von Schröder und Blair, ab den 90er Jahren, wurde der Neoliberalismus in Form des Sozialliberalismus von der Sozialdemokratie aktiv vorangetrieben. Andere linke Parteien wie die sozialistische Partei in Portugal oder Syriza in Griechenland stellten sich nach der Finanzkrise aktiv gegen die EU und versuchten, über nationalstaatliche Wirtschaftspolitik die Folgen des kapitalistischen Europa abzufedern. Heute ist von diesen Protestbewegungen wenig Kraft übrig geblieben.

Die parlamentarische Linke in der EU präsentiert sich heute so: Die Kandidat*innen für das Europäische Parlament werden von den nationalen Parteien aufgestellt und organisieren sich anschliessend in Fraktionen, wobei drei davon mehr oder weniger linksgerichtet sind: Die sozialdemokratische S&D, die grüne und regionalistische G/EFA und die antikapitalistisch-linke GUE/NGL. Zusammen haben diese Fraktionen 255 von 705 Sitzen. Dies ist jedoch nicht die effektive Anzahl linker Mitglieder des Europäischen Parlaments, da einzelne Parteien innerhalb dieser Fraktionen eine keineswegs linksgerichtete Politik verfolgen. Ebenfalls gibt es vereinzelte Linke, die fraktionslos sind und deswegen hier nicht dazugezählt wurden. Natürlich kann keine sozialistische Revolution durch die europäischen Institutionen erfolgen, wenn es aber um substanzielle soziale und ökologische Veränderungen geht, scheint das Europäische Parlament am besten dafür geeignet zu sein. Positive Dynamiken sind jedoch derzeit, angesichts der Schwäche der progressiven Linken, auf europäischer Ebene ins Stocken geraten.

Die Positionen der europäischen Linksparteien zur EU sind uneinheitlich und es mangelt ihnen oft an Ambitionen und konsequenter Kritik (10). Diese Tatsache ist in der europäischen Sozialdemokratie deutlich sichtbar. Sie unterstütztmit großer Mehrheit die EU und ihre Institutionen und tut sich schwer damit, Reformen umzusetzen, die den Einfluss der Finanz- und Handelslobby zugunsten eines sozialeren und solidarischeren Europas einschränken würden. In England, Deutschland und Portugal wird heute in den sozialdemokratischen Parteien das Ideal der wirtschaftlichen Offenheit Europas als wichtiger angesehen als die negativen Auswirkungen der Deregulierung auf die Rechte der Arbeiter*innen. Dennoch unterstützt zum Beispiel in Frankreich die Neue ökologische und soziale Volksunion (NUPES), zu der auch die Sozialistische Partei Frankreichs gehört, den Ungehorsam gegenüber den europäischen Verträgen, um «die Souveränität und die Interessen des französischen Volkes» zu verteidigen, insbesondere um mehr Investitionen in öffentliche Dienstleistungen und die ökologische Transformation zu ermöglichen und «die europäische Politik neu auf das sozial und ökologisch Beste auszurichten». Dieses letzte Beispiel zeigt jedoch, dass eine Einheit der europäischen Linken sogar um die europäische Frage herum möglich ist. Denn jede linke Partei oder Organisation, die etwas auf sich hält, räumt inzwischen ein, dass es eine Notwendigkeit gibt, sich gewissen europäischen Regeln zu widersetzen, ohne jedoch einen Austritt zu fordern.

Der Europäische Gewerkschaftsbund ist ebenfalls ein wichtiger Akteur bei der Verteidigung der europäischen Arbeiter*innen, obwohl er sich auf die Institutionen konzentriert und eher für Sozialpartnerschaften als für den gewerkschaftlichen Kampf einsteht. Die JUSO anerkennt hingegen, dass die radikalsten und notwendigsten politischen Veränderungen von der Strasse und nicht von den Parlamenten ausgehen.

Wir brauchen eine vereinte Linke, die Parteien, soziale Bewegungen und Gewerkschaften in Europa hinter einer gemeinsamen Vision versammelt. Das ist keine Träumerei, denn Bewegungen und Parteien wie beispielsweise Momentum in Grossbritannien, Syriza in Griechenland, 15M und Unidas Podemos in Spanien oder La France Insoumise in Frankreich hatten und haben grosses Potential, Menschen in den Ländern Europas unter den Idealen des Sozialismus zu vereinigen. Die europäische Linke muss die Rechte der Arbeiter*innen und die Verteidigung der Grundrechte in den Vordergrund stellen. Sie muss auch eine internationalistische Linie verfolgen, denn die Interessen der Menschen sind höher zu gewichten als die einzelner Staaten. Eine vereinigte Linke wird auch in der Lage sein, den bedrohlichen Aufstieg der Ultrarechten in vielen Ländern Europas wie Frankreich, Italien oder Ungarn wirksam zu bekämpfen.

2. Die EU - in erster Linie ein Instrument für das Kapital

Wie oben bereits festgehalten, ist die EU in ihrem Grundsatz primär ein kapitalistischer Wirtschaftsraum, in welchemdie wirtschaftliche Integration der Nationalstaaten im Vordergrund steht. Hauptziel: Ein wettbewerbsorientierter Umbau Europas. Konkrete Schritte nach der Gründung der EU waren der Abbau von Handelsschranken, die Einschränkung von demokratischen Prozessen bezüglich Wirtschaftspolitik in den Nationalstaaten und Privatisierungen. Sozialpolitik war und ist in der EU ein politisches Handlungsfeld von höchstens zweiter Klasse.

Der europäische Binnenmarkt ist der Hauptzweck der EU und umfasst vier “Freiheiten”: Den freien Warenverkehr, die Dienstleistungsfreiheit, den freien Kapital- und Zahlungsverkehr und die Personenfreizügigkeit. Hauptproblem dieser Freiheiten ist der einseitige Gewinn für das Grosskapital. Die Personenfreizügigkeit ist zwar ein Abbau nationalstaatlicher Grenzen und ein echter Fortschritt bei den Rechten von Bürger*innen der Mitgliedstaaten von Schengen und der EU, doch nationalstaatliche Beschränkungen, beispielsweise im Bereich der Sozialleistungen, relativieren die Personenfreizügigkeit stark. Durch diesen Druck leidet der Schutz der Arbeiter*innen zugunsten des Grosskapitals aus aller Welt.

Schutz der Arbeiter*innenrechte

Gesamteuropäisch sind die Unterschiede zwischen Mitgliedstaaten in Sachen Arbeiter*innenrechte enorm. So sind beispielsweise die Löhne in Dänemark zehnmal so hoch wie in Bulgarien. Mitgliedstaaten mit einer verhältnismässiggeringen Produktivität erfuhren nach der Einführung des Euro grossen Druck auf die Lohn- und Fiskalpolitik, um die Wettbewerbsfähigkeit zu halten.

Die unterschiedlichen Lebenshaltungs- und Arbeitskosten ermöglichen es den großen europäischen Unternehmen, ihre Gewinne zu maximieren: Sie produzieren billiger in bestimmten Ländern, insbesondere in Osteuropa, indem sie von den niedrigeren Löhnen profitieren, und behalten ihren Hauptsitz in Westeuropa, wodurch sie einen großen Teil der Produktionskette kontrollieren. Dieser Prozess wird als vertikale Integration der Wirtschaft bezeichnet. Das Ergebnis ist Lohndumping oder Lohnunterbietungswettbewerb, der die Löhne aller Arbeiter*innen nach unten drückt, wenn er nicht bekämpft wird. Unternehmen betreiben auch Lohndumping, indem sie Personen aus Ländern mit niedrigeren Medianlöhnen beschäftigen. Das führt zu einer Überausbeutung dieser Arbeiter*innen und zu einem Druck auf die Löhne aller Arbeiter*innen. 1996 führte die EU die Richtlinie über entsandte Arbeiter*innen ein, um bessere Arbeitsbedingungen für Personen zu schaffen, die vorübergehend in einem anderen Land arbeiten. (11) Aber das ist nicht genug: Der Schutz der Arbeiter*innen in Europa wird durch den sinkenden gewerkschaftlichen Organisationsgrad und, in den meisten europäischen Ländern, die geringe Abdeckung durch Gesamtarbeitsverträgeund die kapitalfreundliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die gewerkschaftliche Aktionen zur Durchsetzung sozialer Rechte fast systematisch hintertreibt, geschwächt.

Geldpolitik: Die Stabilität des Euro ist wichtiger als das Wohlergehen der Einwohner*innen Europas

Durch die Einführung des Euro als einheitliche Währung beseitigte man die Unsicherheiten durch die Schwankungen der nationalen Währungen. Die Kehrseite dieser Vorteile sind die Einschränkungen der nationalen Wirtschaftspolitiken. Sie sind gezwungen, die Stabilitätskriterien der gemeinsamen Währung einzuhalten. Somit verloren die Mitgliedstaaten das Recht zur Verschuldung. Diese Unfreiheit führte insbesondere in der Finanz- und Wirtschaftskrise aber auch in der Coronakrise zu verheerenden Zuständen. Die Mitgliedstaaten waren zur Austeritätspolitik gezwungen und mussten somit ohne Rücksicht auf die nationalen Mehrheitsverhältnissen und Bedürfnissen aus der Bevölkerung eine neoliberale Wirtschaftspolitik umsetzen, auf dem Rücken der Arbeiter*innen und der Ärmsten der Armen. Die grossen Verliererstaaten wie Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Irland mussten sich Sozialkürzungen, Privatisierungen und Abbau von Arbeiter*innenrechten beugen. Ein Befreiungsschlag gelang der portugiesischen Bevölkerung. Die riesigen Proteste gegen die Krise führten zu deutlichen Zugewinnen der beiden radikalen linken Parteien Bloco de Esquerda und den Kommunist*innen, die dann ab 2015 bis zu den Wahlen im Januar 2022 eine von der sozialistischen Partei gestellte Anti-Austeritäts-Regierung navigierten. Gerade das Beispiel Portugal zeigt, dass die europäische Linke sich entschlossen gegen den Ausbau neoliberaler Massnahmen in den Nationalstaaten wehren muss und vereint Gegendruck aufbauen kann. Soziale Proteste eines Mitgliedstaates für die arbeitende Bevölkerung können reale Verbesserungen bringen und die EU unter Druck setzen.

Die JUSO kämpft entschlossen für die 99% und damit für die Rechte aller Arbeiter*innen. Neben der Verteidigung unserer Rechte in der Schweiz ist insbesondere der internationale Kampf gegen Neoliberalismus und Ausbeutung von zentraler Bedeutung. Gute Arbeitsbedingungen, ausgebaute Sozialwerke, sozialpolitische Garantien wie staatlich finanzierte Kindertagesstätten und eine solidarische Migrationspolitik müssen in den Vordergrund des Kampfes für ein solidarisches Europa rücken. Die JUSO Schweiz fordert daher eine koordinierte Lohn- und Tarifpolitik und eine sozial-ökologische Industrie- und Dienstleistungspolitik.

Ausserdem ist innerhalb der Schweiz, Europas und auf der ganzen Welt eine effektive Steuerpolitik zugunsten der Rückverteilung des Kapitals an die arbeitende Bevölkerung und für die Eindämmung der Macht des Grosskapitalsessentiell.

Deswegen stellt die JUSO Schweiz kurzfristig folgende Forderungen für eine europäische Wirtschaftspolitik zugunsten der 99%:

  • Die nationalstaatlichen Wirtschaften müssen vom Joch der gemeinsamen Währung und damit dem Druck auf die sozialen Errungenschaften befreit werden. Die Mitgliedstaaten sollen selbst entscheiden können, ob sie eine eigene Währung und/oder den Euro wollen.
  • Im Rahmen der aktuellen Verhandlungen mit der EU, muss sich die Schweizer Linke, insbesondere für die Einführung der EU-Unionsbürgerrichtlinie, Mindestlöhne und Lohngleichheitsmassnahmen einsetzen.
  • Vereinheitlichung einer gerechten Sozialpolitik in ganz Europa zur Überwindung neoliberaler Zwänge des heutigen europäischen Wirtschaftssystems.
  • Einführung und Erhöhung der globalen Mindeststeuer für Grosskonzerne.
  • Stärkere Unterstützung für gewerkschaftliche Massnahmen und automatische Ausweitung von Gesamtarbeitsverträgen.
  • Firmen mit Hauptsitz in der EU müssen entlang der gesamten Produktkette innerhalb und ausserhalb der EU arbeits- und umweltrechtliche Standards durchsetzen.
  • Einführung einer EU-weiten Besteuerung auf Kapitaleinkommen und Vermögen.
  • Einführung von EU-weiten Arbeiter*innenräten für Firmen, die in mehr als einem Land tätig sind.

3. Die EU und die Schweiz: Zwischen Zwang, Einfluss und Abgrenzung

In der Vergangenheit hat sich die Schweizer Linke stark mit der Frage des Arbeiter*innenschutzes in Konflikt mit der europäischen Integration beschäftigt. Im Rahmen der Personenfreizügigkeit wurden 2004 flankierende Massnahmen zugunsten der Arbeiter*innen in der Schweiz eingeführt. Sie sollen Lohndumping und missbräuchliche Arbeitsbedingungen verhindern. Obwohl sie eine Übernahme europäischen Rechts waren, wurden sie weiterentwickelt und werden heute von der EU als «diskriminierend» bezeichnet, insbesondere weil europäische Unternehmen acht Tage Zeit haben, um die Arbeiter*innen, die sie in die Schweiz «entsenden», zu melden, im Gegensatz zu vier Tagen in der EU. Die flankierenden Maßnahmen haben auch dazu geführt, dass die Rechte der Arbeiter*innen in vielen Branchen erheblich ausgeweitet wurden, indem die verbindliche Rolle bestimmter Gesamtarbeitsverträge erleichtert wurde. Sie stehen heute in der Schweiz für soziale Errungenschaften, die ohne sie nicht geschützt wären.

Die Schweiz ist durch bilaterale Verträge mit der EU verbunden. Neben dem Freihandelsabkommen sind das die Bilateralen Abkommen. Nach der Ablehnung des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Jahr 1992, wurden die Bilateralen I, als Beginn des bilateralen Wegs, zusammen mit flankierenden Massnahmen im Jahr 2000 von der Schweizer Bevölkerung angenommen. Die einzelnen Verträge der Bilateralen I sind durch eine Guillotine-Klausel (12) miteinander verbunden. 2005/2006 folgten die Osterweiterung der EU und die Einführung der Bilateralen II. Inhalt waren unter anderem die Einführung von Schengen/Dublin oder im Zuge der Verhandlungen auch die Kohäsionsmilliarde. 2009 sagte die Schweiz Ja zur EU-Erweiterung Rumänien/Bulgarien und zum Ausbau der flankierenden Massnahmen. 2014 gewann die SVP die Abstimmung über ihre Masseneinwanderungsinitiative, welche unter anderem die Personenfreizügigkeit in Frage stellt (13). 2016 teilte der Bundesrat dem Rat der EU mit, dass das Beitrittsgesuch der Schweiz zur EU als zurückgezogen zu betrachten sei. Im Jahr 2020 scheiterte die SVP an der Urne mit der Begrenzungsinitiative, welche in der Konsequenz die Kündigung der Personenfreizügigkeit zur Folge gehabt hätte. Immer wieder thematisiert wird auch der Zwang der dynamischen Rechtsübernahme der EU-Rechtsprechung in der Schweiz. Viele europäische Regelungen werden automatisch ins Schweizer Recht überführt und damit bildet die Schweiz einen integralen Teil Europas. Die Schweiz hat oft keine Möglichkeit, dieses Recht zu beeinflussen, was bei der neoliberalen und migrationsfeindlichen Ausrichtung der EU ein grosses Problem darstellt. Ein allfällig erfolgreiches Referendum würde zu einer beinahe aussichtslosen Neuverhandlung oder der Auflösung eines Vertrags führen. Jüngstes Beispiel dafür ist die Frontex-Abstimmung und die Diskussion um ein allfälliges Ausscheiden aus dem Schengen/Dublin Abkommen.

Hintergrund der aktuell diskutierten Beziehung Schweiz-EU ist, dass das Netz von Verträgen, das aus rund 20 zentralen bilateralen Abkommen sowie über 100 weiteren Abkommen besteht, aufgrund seiner Trägheit nicht mehr toleriert wird und sich auch die Schweiz zur Vereinheitlichung unter dem Dach eines Rahmenabkommens bekannt hat. Die EU fordert neben der Vereinheitlichung einen Mechanismus zur Beilegung allfälliger Streitigkeiten zwischen der Schweiz und der EU.
2021 wurde das institutionelle Rahmenabkommen (InstA) präsentiert, welches von den Gewerkschaften, aber auch den Rechten, unter anderem aufgrund genannter Abneigungen, stark bekämpft wurde. Das InstA hätte die flankierenden Massnahmen massiv geschwächt und war deshalb nicht ausreichend. Als der Bundesrat die Unnachgiebigkeit der Gewerkschaften in dieser Frage sah, zog er es vor, durch eine Allianz von FDP und SVP alle Verhandlungen aufzugeben. Stattdessen hätten sie auf andere Punkte eingehen können, die für die EU wichtig sind, aber mit den politisch konservativen Idealen der bürgerlichen Rechten in der Schweiz unvereinbar sind, beispielsweise die Unionsbürgerrichtlinie. Die EU ist seit dem Scheitern des InstA nicht mehr bereit, die bisherigen Beziehungen zur Schweiz zu erneuern oder neue Abkommen abzuschliessen. Durch die Nichterneuerung bestehender Marktzugangsabkommen entstehen grosse Einschränkungen bei der Produktzulassung.

Zudem kann sich die Schweiz nicht mehr assoziieren in den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation, was zu massiven Nachteilen für gewisse Personengruppen und Branchen führt. Gerade für Studierende ist diese Situation miserabel. Es wird riskiert, dass Schweizer Studierende den Anschluss an die aktuelle Forschung und den Zugang zu europäischen Austauschprogrammen verlieren. Dieser Zustand kann und darf nicht zu einem permanenten werden.

Sind wir in einer Sackgasse gelandet?

Die Linke in der Schweiz steht vor einer grossen Herausforderung. Einerseits ist die Kritik an der EU berechtigt und notwendig. Dabei ist die Abgrenzung zur Kritik der Rechtskonservativen wichtig: Es ist unerlässlich, unsere Kritik an der EU in eine kohärente internationalistische Achse einzubetten und niemals in Kulturkritik zu verfallen.

Weiter zeigt sich, dass drängender Handlungsbedarf besteht, denn die kaputte Beziehung zur EU schlägt sich auf die Wirtschaft und die Gesellschaft nieder. Vorteile der Schweiz gegenüber der EU sind in erster Linie die direktdemokratischen Instrumente. Zudem gilt in der Schweiz nach wie vor ein gewisser Schutz von öffentlichen Dienstleistungen und wir profitieren von den flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit. In der EU sind staatliche Beihilfen eingeschränkt. In der Schweiz sind vergleichsweise viele Institutione noch in der öffentlichen Hand (Strom, ÖV, Gesundheit, Bildung). Es muss aber anerkannt werden, dass auch bei uns die neoliberalen Tendenzen des Abbaus des Service Publics und der Grundversorgung vorherrschen.

Die JUSO anerkennt, dass der Handlungsspielraum gegenüber der EU als eingebundenes aber nicht angehöriges Land relativ gering ist. So können Verträge und Rechtsübernahmen aufgrund von Referenden hinausgezögert und feinkalibriert werden, entziehen aber kann sich die Schweiz diesen Regelungen nicht. Ein Rückzug aus diesem Geflecht aus Abhängigkeiten, Abkommen und geografischer Nachbarschaft ist unmöglich.

Die JUSO setzt sich deshalb für eine Stärkung des europäischen Internationalismus in der Linken ein, die über Arbeiter* innenkämpfe, Streiks, innerlinke Strategien und Zusammenarbeiten Einfluss auf die EU-Politik nimmt.

4. Die Klimakrise und die EU: Ein Beispiel für die Notwendigkeit koordinierter Massnahmen

Als grösste Herausforderung der heutigen Zeit muss die Klimapolitik auch in den Kontext der Europafrage gestellt werden. Die JUSO stellt sich klar hinter netto Null CO2 bis 2030 und bewertet jede klimapolitische Handlung im Kontext dieses Ziels. Zudem fordert die JUSO klar “System Change Not Climate Change”: Die Bekämpfung der Klimakrise muss immer antikapitalistisch und für die 99% sein, denn es ist der Kapitalismus, der uns diese weltenzerstörerische Misere gebracht hat. Die EU, als supranationale Organisation, hat eine besondere Verantwortung bei der Bekämpfung der Klimakrise. Nicht nur, weil sie über die nötigen finanziellen und technischen Mittel verfügt, sondern weil es unbestritten ist, dass die Zeiten, in denen Klimapolitik ausschliesslich auf nationalstaatlicher Ebene wirksam war, vorbei sind. Europa, als Wohlstandszentrum der Welt, steht zudem massiv stärker in der Verantwortung Lösungsansätze für die Klimakrise zu finden, als der ausgebeutete globale Süden. Die europäischen Lebens- und Produktionsweisen, die auf der Ausbeutung des globalen Südens basieren, zeigen, dass Europa bei der Bekämpfung der Klimakrise besonders in der Pflicht steht.

Grundsätzlich kann anerkannt werden, dass die EU in einem globalpolitischen Kontext in den vergangenen Jahren einen vergleichsweise grossen und intensivierten Einsatz zur Bekämpfung der Klimakrise leistet. Dieser ist jedoch dennoch nicht ausreichend. Denn die EU und ihre Mitgliedstaaten tragen eine verstärkte Verantwortung, da sie trotz einer geringeren Bevölkerungszahl bereits eine sehr grosse Menge an CO2-Emissionen zu verantworten und ihre klimaschädlichsten Industriebereiche in den globalen Süden verlagert haben. Die EU geht deswegen bei weitem nicht weit genug im Klimabereich und ist durch ihre neoliberale DNA nicht fähig, im Sinne der Klimagerechtigkeit die Klimakrise zu stoppen. Massnahmen, die im Rahmen des europäischen Green Deal präsentiert wurden, wie etwa der Emmissionsrechtehandel, die Strategie des “Derisking” (14) oder die kürzlich überarbeitete Taxonomie “umweltfreundlicher” Wirtschaftstätigkeiten, bewegen sich weiterhin im engen Rahmen des profitorientierten Wirtschaftens, welches Individuen und deren Lebensräume ausbeutet. Fragen der sozialen Gerechtigkeit werden nur marginal behandelt. (15) Dennoch, die Klimapolitik der EU ist heute fortschrittlicher als diejenige der Schweiz und vieler weiterer Staaten. Der europäische Green Deal als Teil der Europäischen Klimapolitik soll den Weg zu netto Null 2050 zeichnen. Im Zuge dessen präsentierte die europäische Kommission das Paket «Fit for 55», welches Massnahmen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen um 55% bis ins Jahr 2030 im Vergleich zu 1990 beinhaltet.

Das Hauptinstrument der europäischen Klimapolitik ist der Emissionsrechtehandel. Dabei werden Emissionsrechte (16) in beschränkter Anzahl ausgegeben und anschliessend auf dem Markt gehandelt. Ein System an dem auch die Schweiz teilnimmt und damit vorgibt, Klimaschutzmassnahmen zu ergreifen. Dieses System trägt minimal zur Reduktion von Treibhausgasen bei und deckt weniger als die Hälfte der klimaschädlichen Gase ab. Hingegen basiert es auf einer rein marktwirtschaftlichen Strategie, was den Profit einzelner klar über das Wohl aller stellt. Damit werden weder Fragen der Dringlichkeit, noch der sozialen Gerechtigkeit gelöst.

Eine miserable Entwicklung in der europäischen Klimapolitik, ist der kürzlich gefällte Entscheid des Europaparlaments bezüglich Taxonomie-Verordnung. Die Taxonomie hält fest, welche Wirtschaftstätigkeiten als ökologisch-nachhaltig einzustufen sind, um die Nachhaltigkeit einer Investition ermitteln zu können. Im Juli 2022 wurde jedoch nachträglich Gas- und Atomenergie in die Liste der nachhaltigen Investitionsmöglichkeiten aufgenommen, was einen verheerenden Rückschritt darstellt.

Ein wichtiger Kritikpunkt an der EU-Klimapolitik ist, dass sie die Zukunft der Energieversorgung nach wie vor in privater Hand von multinationalen Unternehmen sieht. Es braucht eine demokratische Kontrolle über die nachhaltige Energieversorgung, welche das Klima über die Profite des Grosskapitals stellt.

Ein weiterer wichtiger Faktor stellt der Transport dar, der für einen grossen Anteil der Treibhausgasemissionen verantwortlich ist. Freihandelsabkommen sind der treibende Faktor und müssen daher in ihrer jetzigen Form bekämpft werden (Bsp.: TTIP/TiSA).

Ein weiterer Treiber der Klimakrise, der Agrarsektor, wird von wenigen Grosskonzernen kontrolliert. Das Machtungleichgewicht zwischen den Konzernen und den Konsument*innen, sowie den Arbeiter*innen ist enorm. Dadurch werden kleinere bäuerliche Betriebe vom Markt verdrängt, Menschen- und Tierrechte systematisch verletzt, Hungersnöte wüten u.a. auch als Auswirkung von ausbeutender Agrarbodenpolitik und Nahrungsmittelspekulationen im globalen Süden und die Klimakrise wird weiter vorangetrieben. Die EU betreibt ihre Agrarpolitik als eines ihrer ältesten Politikfelder in Form einer gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Das Europaparlament hat die neuen Leitlinien für die GAP für die Periode 2021 bis 2027 beschlossen und stellt damit die Ziele des Green Deals stark in Frage. Der Fokus der europäischen Agrarpolitik muss auf kleine und mittlere sowie auf vielfältig strukturierte Betriebe gerichtet werden.

Zusammengefasst kann gesagt werden, dass die EU viel zu wenig gegen die Klimakrise macht. Es lässt sich auch kaum behaupten, dass die aktuelle oder eine allenfalls ambitioniertere Klimapolitik der EU bei ihren Mitgliedsstaaten überhaupt eine Chance hätte. Die kohlefreundlichen Mitgliedstaaten, die Automobilindustrie oder das Erstarken von rechtspopulistischen Parteien in Europa, stellen grosse Hürden dar. Aus der Perspektive einer antikapitalistischen Klimapolitik kann die EU als eine nur auf neoliberale Wirtschaftsintegration fokussierte Staatengemeinschaft niemals genug machen. Der internationale Druck auf die Nationalstaaten aber auch die Institutionen der EU muss massiv gestärkt werden. Die europäische Klimapolitik muss sich von neoliberalen Grundsätzen gänzlich lösen und den Forderungen der Klimabewegung sowie den Analysen der Klimawissenschaftler*innen des IPCC folgen. Das Leben muss über die Profite gestellt werden, sozial gerecht und radikal.

Die JUSO stellt daher folgende Forderungen an die europäische Klimapolitik:

  • Eine massive Investitionsoffensive in erneuerbare Energien und die Bekämpfung von Atom- und Gas-Energie.
  • Eine schnellere und effizientere Verlagerung der Transportwege auf langfristig umweltschonendereTransportmittel, den Einsatz energieeffizienterer Technologien, ohne dass dabei der Energieverbrauch massiv erhöht wird und damit einhergehend aber auch eine Senkung des internationalen Transportbedarfs.
  • Eine klimaschonende Agrarpolitik mit Investitionen in einen Umbau des Ackerbaus, der wirkungsvoll zu Umwelt-, Tierschutz- und Klimazielen beiträgt.
  • Griffige Vorschriften für Unternehmen und dazugehörige Kontrollmechanismen.
  • Finanzielle und logistische Unterstützung der Länder des globalen Südens bei der Bekämpfung der Klimakrise und dem Ausbau der erneuerbaren Energien ohne Verpflichtungen dieser Länder ausserhalb des Klimabereichs

5. Wie sieht die nahe Zukunft unserer Beziehung zur EU aus?

Die JUSO Schweiz kommt nicht nur aufgrund der geografischen Lage der Schweiz und der wirtschaftlichen Abhängigkeit nicht um eine Positionierung zur EU herum, sondern es ist unsere internationalistische Überzeugung, dass wir für alle Menschen kämpfen wollen, nicht nur für die Bevölkerung in der Schweiz. Viel zu oft werden heute den politischen Diskussionen zur EU mit einem Gefühl der Unabhängigkeit und Nichtbetroffenheit, Stichwort Sonderfall Schweiz, begegnet. Nicht selten ist dieses Gefühl eingebettet in einen Nationalismus, der bei Vertreter*innen der extremen Rechten vorherrscht. Aber auch die Linke versteckt sich schnell hinter den Ablehnungen gegenüber dem neoliberalen, undemokratischen und an den Grenzen menschenverachtenden Konstrukt EU. Damitverhindert die Linke ein echtes Nachdenken über internationalistische Ansätze der politischen Transformation. Es muss ausserdem anerkannt werden, dass die Schweiz in etlichen Bereichen nicht besser ist als das vereinte Europa, wie die Analyse gezeigt hat.

Die oben aufgezeigten grossen Defizite und die Analyse stellen die EU als Ganzes in Frage. Fehlende Demokratie,Neoliberalismus und Dysfunktionalität schmälern die Bereitschaft, sich für die EU einzusetzen. Allerdings zeigen sich gerade die neoliberalen Entwicklungen seit den 1980er auch in der Schweiz, denn es ist ein globales und nicht EU-spezifisches Problem. Wichtig ist auch anzuerkennen, dass die heutige Art der Beziehung zur EU dazu führt, dass hauptsächlich die neoliberalen und weniger die progressiven Regeln übernommen werden. Die Frage des Beitritts verdient es also grundsätzlich gestellt zu werden: Es ist eine langfristige Frage des Internationalismus, die wie in der Analyse dargestellt, weiterentwickelt werden muss und der Solidarität mit der gesamten europäischen Bevölkerung, die nicht von einem so privilegierten Lebensstandard wie dem unseren profitiert.
Die lähmende Angst vor einer Diskussion zur Frage eines allfälligen EU-Beitritts in der Linken in der Schweiz hindert sie daran, eine ausführliche Position zur EU zu fassen und führt zu einer abwartenden, passiven Rolle. Als JUSO sollte sich unser Hauptkampf nicht auf die Modalitäten der Beziehung Schweiz-EU konzentrieren, sondern auf den Kampf gegen die Macht der Besitzenden und für eine starke und ehrgeizige europäische Linke. Wir müssen mit linken Parteien und sozialen Bewegungen in ganz Europa zusammenarbeiten. Nur eine gestärkte Linke auf europäischer Ebene wird wirklich die Macht haben, unsere Ziele zu verwirklichen. Und nur eine vereinte europäische Linke kann eine langfristige Vision für Europa entwickeln und es gemeinsam gestalten.

So fordern wir kurz- und mittelfristig den Bundesrat auf, in allen künftigen Phasen der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU die folgenden Forderungen zu vertreten:

  1. Sozialpolitik: Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie, Ausweitung der EU- Kompetenzen im Sozialbereich.
  2. Wirtschafts- und Finanzpolitik: Unternehmensbesteuerung (Übernahme der OECD-Reform ab 2023), Änderung der Rechtsprechung zugunsten gewerkschaftlicher Massnahmen und die Vermeidung von internationalem Steuerwettbewerb.
  3. Lohnschutz: Mindestlöhne in ganz Europa, sofern keine griffigeren Regelungen wie beispielsweise in den nordischen Ländern gefunden wurden, Schutz der Arbeiter*innen.
  4. Demokratie: Abschaffung der Pflicht zur Einstimmigkeit, Stärkung der Instrumente des Parlaments, Einführung der Gesetzesinitiative (17).
  5. Service Public: Umkehr der Privatisierungslogik, Abschaffung des Verbots von staatlichen Beihilfen.
  6. Klimapolitik: CO2-Neutralität bis 2030; eine stringente Klimapolitik, die weder Gas- noch Atomkraftwerke in ihrer Taxonomie zulässt und griffigere Massnahmen als den Emissionszertifikatshandel ergreift.
  7. Migrationspolitik: Anerkennung des Rechts auf Asyl, Einführung des Botschaftsasyls und die Schaffung sicherer Fluchtwege, die Anerkennung der humanitären Klausel im Schengen/ Dublin-Abkommen und die radikale Ausweitung der anerkannten Fluchtgründe.

Sollte ein Schweizer EU-Beitritt auf dem Tisch liegen, so stellen für die JUSO der Erhalt der direkten Demokratie und der Arbeiter*innenrechte wie Lohn- und Kündigungsschutz sowie die Sicherung der öffentlichen Dienstleistungen (öffentlicher Verkehr, Energiesystem, etc.) unverhandelbare Vorbedingungen dar. Damit ist der Kampf jedoch nicht zu Ende. Oberstes Ziel des zukünftigen Europas muss das gute, sozial gerechte Leben für alle Europäer*innen sein und bleiben.

6. Unsere Vision für ein soziales, demokratisches und ökologisches Europa

Als Grundlage für die Vision eines zukünftigen sozialistischen Europas dient das Manifest von Ventotene. Es entwirft das Ideal eines europäischen Föderalismus. Die damaligen Verfasser hielten die Souveränität der Nationalstaaten als Ursache für den Zweiten Weltkrieg und forderten daher zum Erhalt von Frieden und Freiheit die Gründung eines europäischen Bundesstaats durch eine revolutionäre Bewegung. Das Manifest basiert auf sozialistischen und kommunistischen Wirtschaftsvorstellungen. Es ist einer der wichtigsten frühen Entwürfe einer europäischen Integration.

Die JUSO baut darauf auf, denn sie ist internationalistisch und lehnt im Grundsatz das Konzept des Nationalstaates ab. Trotzdem erkennen wir regionale Besonderheiten an, über die ein geografisch begrenztes Gebiet autonom entscheiden können soll. In diesem Sinne lehnt die JUSO die heutige Übermacht der nationalen Interessen der EU-Mitgliedstaaten ab, wenn sie nicht kollektiven Interessen entsprechen. Vielmehr sollen die Interessen der Europäer*innen repräsentiert und vertreten werden. Wir wollen ein soziales, demokratisches, feministisches, ökologisches und antirassistisches Europa, und wir glauben, dass sich diese Vision am besten durch den Aufbau eines föderalen Europas verwirklichen lässt.

Als sozialistische Partei verpflichtet sich die JUSO dem Ziel der Umwälzung der Gesellschaft. Wir vertreten daher die folgende Analyse aus dem Manifest: “Die europäische Revolution muss sozialistisch sein, um unseren Bedürfnissen gerecht zu werden; sie muss sich für die Emanzipation der Arbeiter* innenklasse und die Schaffung menschlicherer Lebensbedingungen einsetzen.” Sowohl die Überzeugung des Manifestes als auch die der JUSO ist, dass die Grundvoraussetzung für ein vereintes sozialistisches Europa die Gründung einer revolutionären europäischen Bewegung ist. Wie auch in der institutionell-politischen Analyse festgehalten, liegt das einzige Potential in einer europäischen vereinten Linken. Das bedeutet nicht, dass es nur noch eine transformatorische Organisation geben sollte, sondern dass alle transformatorischen Bewegungen und Parteien ihre Kräfte bündeln und sich auf einen gemeinsamen Weg und eine gemeinsame Vision einigen müssen. Die Kraft aus dieser Bewegung soll die Lähmung der nationalstaatlichen Linken aufheben und Stabilität unabhängig von den nationalstaatlichen Prozessen bieten. Darum sieht die JUSO Schweiz ihre Rolle darin, sich mit allen europäischen transformativen Kräften zu vernetzen, gemeinsame Forderungen auszuarbeiten und sich zu organisieren, um ein sozialistisches Europa zu schaffen. Konkret bedeutet das:

  • Innerhalb der YES unsere Analyse der EU verbreiten und unsere Vision verteidigen
  • Vernetzung mit gewerkschaftlichen, feministischen und ökologischen Organisationen und Bewegungen ausserhalb der YES
  • Bildung von Bündnissen, Ausarbeitung von gemeinsamen Forderungen und Organisation von europaweiten Aktionen, Demonstrationen und Streiks

Eine weitere wichtige Erkenntnis des Manifestes auf dem Weg zu einem sozialistischen Europa: “Macht wird nicht durch blosse List erobert und erhalten, sondern aufgrund der Fähigkeit, den Bedürfnissen der modernen Gesellschaft vitale und einheitliche Lösungen entgegenzuhalten”. Das heisst, wir müssen Visionen schaffen.

Ein sozialistisches Europa ist ein Europa, das im Interesse der 99% konstruiert ist - in Harmonie mit den Kapazitäten der Natur. Dafür müssen die Grundbedürfnisse aller Menschen gedeckt werden. Um dies zu ermöglichen, braucht es eine europaweite demokratische Planung der Wirtschaft. Dies soll durch eine Koordination von regionalen Plänen passieren - die gesellschaftlichen Strukturen auf lokaler und regionaler Ebene bleiben also autonom. Diese Pläne müssen auf demokratische Weise auf die regionalen Bedürfnisse eingehen und entscheiden, welche Güter und Dienstleistungen in welchen Mengen produziert werden. Es soll aber auch möglich sein, auf einer kontinentalen Ebene gemeinsame Projekte zu verfolgen. Dafür sollen demokratische Institutionen geschafft werden, in denen Vertreter*innen aller lokalen Instanzen mitentscheiden können. Jede lokale Instanz soll jedoch die Möglichkeit haben, bei einem gewissen Projekt nicht mitzumachen. Somit reflektiert auch diese Vision in einem gewissen Sinn das Ziel eines föderalen Europas, das sich auf das Manifest von Ventotene stützt.

Um ein solches Europa zu schaffen, müssen wir die Gesellschaft grundlegend verändern. Insbesondere sollen unter anderen folgende Umwälzungen passieren:

  1. Vergesellschaftung der bestehenden Unternehmungen ab einer gewissen Grösse und Platzierung unter demokratischer Kontrolle der Arbeiter*innen
  2. Transformation der Organisation der Wirtschaft hin zu einer klimagerechten und demokratischen Planwirtschaft
  3. Enteignung von Grundbesitz und dessen Neuverteilung unter der Voraussetzung genossenschaftlicher und gesellschaftlicher Organisation
  4. Kollektivierung und demokratische Organisation der Care-Arbeit-Sektoren, die nicht auf unterschiedlichen Arbeitsrealitäten in den Regionen basiert
  5. Radikale Arbeitszeitverkürzung, Jobgarantie und grosszügiges Basiseinkommen
  6. Konsequente Stärkung des Service Public (Bildung, Gesundheitswesen, usw.) und der Sozialversicherungen
  7. Abschaffung aller Grenzen und Freizügigkeit für alle
  8. Aufbau von basisdemokratischen Strukturen auf lokaler Ebene, die für die Planung der Wirtschaft und die Organisation der Gesellschaft zuständig sind
  9. Aufbau von demokratischen Institutionen auf europäischen Ebenen, die die Koordination zwischen den lokalen Ebenen und das Verfolgen von gemeinsamen Projekten ermöglichen

Ausgehend vom neoliberalen Europa in einer kapitalistischen Welt, das wir heute kennen, müssen wir ein soziales Europa in einer sozialistischen Welt aufbauen. Wir wollen ein föderales Europa, das demokratisch getroffene Entscheidungen auf lokaler Ebene respektiert, aber gleichzeitig die Koordination zwischen diesen Ebenen und die Verfolgung von Projekten auf kontinentaler Ebene ermöglicht. Um dies erreichen zu können, müssen wir Verbindungen zu allen Organisationen und Bewegungen aufbauen, die für eine sozialistische Transformation kämpfen. Wir müssen gemeinsame Forderungen und Strategien entwickeln und wir müssen gemeinsam für das gleiche Ziel kämpfen: ein gutes Leben für alle. Kurz gesagt: Wir müssen uns die Schlussfolgerung des Manifests der Kommunistischen Partei zu eigen machen: «Proletarier*innen aller Länder, vereinigt euch!»


Fussnoten

(1) Masseneinwanderungsinitiative (2014, angenommen), Durchsetzungsinitiative (2016, abgelehnt), die Antimenschenrechtsinitiative (2018, abgelehnt) und die Begrenzungsinitiative (2020, abgelehnt).

(2) länderübergreifend

(3) https://juso.ch/de/positionspapiere/stopp-der-ausbeutung-des-globalen-sudens/

(4) https://www.touteleurope.eu/fonctionnement-de-l-ue/union-europeenne-faut-il-abandonner-le-vote-a-l-unanimite/

(5) Der Europarat gehört nicht zu den Institutionen der EU und konzentriert sich auf den Schutz der Menschenrechte. Die Schweiz gehört ihm an.

(6) https://transparency.eu/who-has-been-lobbying-the-european-commission/

(7) Art. 119, Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (https://dejure.org/gesetze/AEUV/119.html)

(8) https://www.cairn.info/revue-de-l-ires-2018-3-page-7.htm

(9) https://asile.ch/2022/04/05/no-frontex-la-poudre-aux-yeux-le-systeme-de-responsabilite-de-frontex/

(10) Die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) unterstützte beispielsweise das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, obwohl dieser garantiert, dass "der Wettbewerb nicht verzerrt wird", und den EU-Haushalt auf 1,27% des europäischen BIP begrenzt, wodurch die Möglichkeiten zur Verbesserung des Lebens der europäischen Bürger*innen eingeschränkt werden.

(11) Die Flankierenden Massnahmen schützen die Arbeitsbedingungen in der Schweiz. Sie sollen Lohndumping und missbräuchliche Arbeitsbedingungen verhindern. Es gilt: Alle, die in der Schweiz arbeiten, sollen auch zu Schweizer Bedingungen arbeiten. Wenn Fälle von Lohndumping oder Missachtung der Arbeitsbedingungen aufgedeckt werden, kommen verschiedene Massnahmen zum Zuge, um die Verstösse zu sanktionieren.

(12) Eine Guillotineklausel ist eine Klausel die bei einem Vertragspaket eingegangen werden kann. Sie besagt, dass das ganze Vertragswerk ungültig wird, sobald ein Vertrag gebrochen oder für ungültig erklärt wird.

(13) Die MEI verlangte unter anderem eine Kontingentierung der Einwanderung und Höchstzahlen von in der Schweiz arbeitenden Ausländer*innen. Aus dieser Vorlage ging der sogenannte “Inländer*innenvorrang light” hervor, der ein fremdenfeindliches Bevorzugen von Schweizer Arbeiter*innen beinhaltet.

(14) Derisking bedeutet, dass die öffentliche Hand das wirtschaftliche Risiko für private Investitionen übernimmt um diese attraktiver zu gestalten anstatt die Investitionen als öffentliche

(15) https://ec.europa.eu/clima/eu-action/european-green-deal/delivering-european-green-deal/social-climate-fund_en

(16) Das Recht, Treibhausgase auszustossen, als Teil einer jährlich planetar erträglichen Menge von Emissionen.

(17) Die Gesetzesinitiative erlaubt es der Bevölkerungen sich gegen Gesetzesänderungen mittels Referenden zu wehren und über Initiativen Verfassungsänderungen zu erwirken. Damit wird die demokratische Mitbestimmung der Bevölkerung gestärkt.