Positionspapier der JUSO Schweiz verabschiedet an der Delegiertenversammlung vom 17-18. Februar 2024 in Bern Bümpliz (BE)
Unser Leben und unser Alltag sind von Ungerechtigkeiten geprägt. Wir leben in einem diskriminierenden, allgemein menschenfeindlichen System. Als einzelne Menschen und als gesamte Gesellschaft haben wir ein Bedürfnis nach Sicherheit, auch wenn die jeweiligen Sicherheitsdefinitionen auseinandergehen. Wir wollen vor Übergriffen und Ungerechtigkeit geschützt werden, dass Schaden wiedergutgemacht und Gerechtigkeit hergestellt wird. Dieses Bedürfnis nach Sicherheit und Gerechtigkeit wird als Erwartung an unser Justizsystem getragen. Die Justiz und damit ihre Institutionen werden als neutrale Instanzen verstanden.
Gemäss der Bundesverfassung Artikel 8 sollen alle Menschen vor dem Gesetz gleich sein. Das Justizsystem soll uns allen diese ersehnte Gerechtigkeit geben, wenn wir in unseren Rechten verletzt werden. Aber entgegen dieser Erwartungen bietet uns das Justizsystem keinen Schutz vor Ungerechtigkeit und behandelt Menschen entlang von Unterdrückungsstrukturen ungleich.
Die Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft, wo auch immer sie ihren Ursprung haben, werden gar oft durch das Justizsystem verstärkt, und im Justizsystem, vor den Gerichten, bei der Polizei, in den Behörden usw. sind wir systematisch der Ungerechtigkeit ausgesetzt. Erwartungen und Realität klaffen also weit auseinander. Auf dem Weg zu einer gerechteren Welt ist daher eine genauere Analyse des heutigen Justizsystems notwendig.
Dieses Positionspapier beschäftigt sich deshalb mit dem Justizsystem, dem wohl wichtigsten Element des repressiven Staates. Wenn im Folgenden von Justizsystem gesprochen wird, dann meint dies alle Prozesse, Institutionen und Ämter, die zur Erstellung, Anwendung und Interpretation von Gesetzen und Rechten dienen. Dazu gehören auch die Gerichte und die Strafverfolgungsbehörden sowie die Regeln, unter welchen diese Institutionen arbeiten und unter welchen Menschen versuchen, „Recht zu bekommen“.
In einem kapitalistischen System hat das Justizsystem für den bürgerlichen Staat im Wesentlichen zwei Funktionen: Einerseits dient es der Aufrechterhaltung und dem Schutz der bestehenden Besitz- & Machtverhältnisse sowie der Disziplinierung all jener, die sich nicht an die Regeln zu deren Schutz halten. Andererseits hat das Justizsystem den Zweck, auf Konflikte in der Gesellschaft zu reagieren und das Zusammenleben zu organisieren. Wir wollen in diesem Papier aufzeigen, wie unser heutiges Justizsystem systembedingt zu Ungerechtigkeit und zur Aufrechterhaltung von Unterdrückungssystemen beiträgt. Die Auslegung und Anwendung des Rechts durch Justizbehörden, wie beispielsweise Gerichte, prägen die gesellschaftliche Ordnung und Hierarchien massgeblich mit. In der folgenden Analyse kommen wir zum Schluss, dass das Justizsystem in seiner gegenwärtigen Form nicht reformiert werden kann, wenn wir eine gerechte und freie Gesellschaft erreichen wollen.
Das Ziel von uns Sozialist*innen ist die Überwindung des Kapitalismus und aller Herrschafts- und Unterdrückungssysteme. Wir glauben daran, dass alle Menschen ein Leben in Würde verdienen, frei von Ausbeutung, Bevormundung und Unterdrückung[1]. Wir wollen unsere Gesellschaft grundlegend und nachhaltig umbauen und unser Zusammenleben neu organisieren. Konflikte – seien diese strukturell oder zwischenmenschlich – wird es jedoch auch in Zukunft geben und werden auch die neue Ordnung auf die Probe stellen. Um Gerechtigkeit schaffen zu können, brauchen wir in Zukunft Konfliktlösungsmechanismen, die Freiheit und Gerechtigkeit für alle Teile der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen. Diese sollen nicht darauf abzielen, die Privilegien und die Macht einiger weniger zu sichern.
Wir brauchen folglich eine andere Form der Konfliktbewältigung, als dies das bürgerliche Justizsystem vorsieht. Ansätze dafür lassen sich in der Restorative Justice finden, die die Suche nach der Wiedergutmachung durch alle Beteiligten ins Zentrum der Konfliktlösung stellt.
Die Analyse des Justizsystems in seiner heutigen Form erfolgt anhand der folgenden Thesen, welche aufzeigen, wie das Justizsystem die bestehende Ordnung und darin insbesondere die Besitzverhältnisse schützt, wie es fälschlicherweise auf Vergeltung ausgerichtet ist und wie die Auslegung der Gesetze nicht demokratisch funktioniert. Des Weiteren wird beleuchtet, dass der Zugang zum Recht nicht für alle gleich ist und im heutigen System nie gleich sein kann, dass bestehende Diskriminierungen durch das Justizsystem verstärkt werden und dass die Polizei nicht den 99% dient.
1. Das Justizsystem stützt die bestehende Ordnung
Das Justizsystem geniesst innerhalb unserer Gesellschaft einen hohen Legitimationsgrad. Diese Legitimation kommt zum einen durch die Struktur selbst, ist aber vor allem der vorherrschenden Hegemonie zu verschulden. Der bürgerliche Staat dient vorrangig der herrschenden Klasse zur Aufrechterhaltung und/oder Etablierung von Machtstrukturen sowie der Wahrung von Besitzverhältnissen. Im Kapitalismus bedeutet dies die Durchsetzung der Kapitalinteressen. Nach Antonio Gramscis Konzept des “integralen Staats” sorgen Zwangs- und Konsenselemente dafür, dass die unterdrückte Klasse diese Strukturen nicht ernsthaft infrage stellt und folglich auch nicht überwinden will[2]. Der Konsens innerhalb einer Gesellschaft, also eigentlich die öffentliche Meinung, wird durch verschiedenste Institutionen wie die Schule, die Medien oder Wissenschaft etc. geprägt. Auch wenn von diesen Institutionen, im Sinne der Demokratie, eine kritische Perspektive auf das Bestehende erwartet wird, tragen sie massgeblich zur Legitimation der Interessen der Herrschenden bei. Gleichzeitig prägen aber auch Gesetzestexte die hegemoniale Vorstellung mit: Was im Gesetz festgehalten ist, wird damit in den meisten Fällen automatisch gesellschaftlich legitimiert[3].
Der bürgerliche Staat im engeren Sinne verfügt also über verschiedene Mittel, mit welchen relativ autonom eine kapitalfreundliche Politik durchgesetzt wird. Wenn diese, für den bürgerlichen Staat als gefährlich wahrgenommenen Teilen der Zivilgesellschaft werden oder dagegen gehandelt wird, setzt der souveräne Staat „repressive Apparate“ zur Wiederherstellung und Sicherung der Ordnung ein, namentlich das Justizsystem und dessen längere Arme in Form von Polizei und Militär. Marginalisierte Gruppen sind schon immer Ziel und Opfer staatlicher Repression geworden. Wichtig zu verstehen ist, dass das Unrecht nicht per se in einzelnen Normen oder Gesetzen liegt, sondern im Sinn und Zweck des bürgerlichen Staates: dem Erhalt und der Durchsetzung von kapitalistischen Machtstrukturen. Die Überwindung des Kapitalismus geht also mit der Überwindung des bürgerlichen Staates einher[4].
2. Das Justizsystem dient primär den Eigentumsverhältnissen
Ein Rechtssystem, wie wir es heute kennen, mit all seinen Institutionen, Ämtern und Gesetzen, ist sehr neu; es ist aber keine Erfindung des Kapitalismus. Das Rechtssystem hat im Gegenteil sogar zum Aufbau des Kapitalismus und des bürgerlichen Staates beigetragen und eine wichtige Grundlage dafür gestellt. Im Laufe der Zeit haben sich verschiedene Institutionen, insbesondere aufgrund der sich ändernden Produktionsweisen und der Bedürfnisse der herrschenden Klasse, weiterentwickelt. Ein Beispiel dafür ist die Privatisierung von Gemeingütern, wie sie im 18. Jahrhundert stattfand und die Produktion stark beeinflusste. Diese Veränderungen des Rechtssystems hatten weitreichende Konsequenzen und verdeutlichen den Einfluss von Rechtsordnungen auf die Entwicklung von Klassenverhältnissen.
Klassenverhältnisse wurden schon immer von Rechtssystemen geprägt und beeinflusst. Regelung und Schutz des Eigentums, wie wir sie heute kennen, gab es bereits im römischen Reich. Über die Jahrhunderte wurden Rechtssysteme angepasst und verändert, um der herrschenden Ordnung zu dienen. Der moderne bürgerliche Staat und sein Rechtssystem, wie wir es seit dem 19. Jahrhundert kennen, finden also ihren Ursprung in der ganzen Geschichte der Unterdrückung. Wo Klassenverhältnisse aufrechterhalten werden müssen, werden unterdrückerische Justizsysteme geschaffen. Durch eine Vielzahl an Gesetzen, Ämtern, Gerichten usw. werden die 99% gezwungen, in einem kapitalfreundlichen Rahmen zu existieren. Damit Herrschaftsstrukturen überleben können, müssen sie legitimiert, und durchgesetzt werden. Mittel zum Zweck sind beispielsweise Betreibungsämter, Gefängnisse oder Steuergesetze. Alle, die sich nicht an die Spielregeln des Kapitals halten wollen oder können oder sich dagegen auflehnen, werden mit staatlicher Repression konfrontiert. Das Rechtssystem gibt dem bürgerlichen Staat die Mittel, die herrschende Ordnung aufrechtzuerhalten.
3. Ein Justizsystem, das auf Vergeltung aus ist, führt nicht zu mehr Gerechtigkeit
Neben dem Schutz der Eigentumsverhältnisse existiert das Justizsystem auch, um gesellschaftliche Konflikte zu lösen. Das heutige (Straf-)Justizsystem ist dabei im Wesentlichen eine Vergeltungsjustiz. Bei ausgeübtem Unrecht geht es darum, den*die Täter*in zu bestrafen und damit ein Übel durch ein anderes Übel auszugleichen. Damit soll einerseits eine Disziplinierung der Täter*innen (und Abschreckung möglicher Nachahmer*innen) erreicht und andererseits das Bedürfnis nach Gerechtigkeit durch Vergeltung gestillt werden. Dieser Grundsatz ist mehrfach falsch. Alle Straftäter*innen sind Kinder ihrer Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Umstände erhöhen oder reduzieren das Risiko für Straftaten. Eine Individualisierung des Problems mit individueller Abstrafung führt in die Sackgasse. Dies zeigt sich auch in den Zahlen: Für die Reduktion von Rückfällen und Wiederholungstaten sind andere Methoden, wie beispielweise der Restorative Justice vielversprechender als die reine Bestrafung[5].
Ausserdem entzieht die Vergeltungslogik sowohl den Geschädigten bzw. den Opfern wie auch den Täter*innen die Möglichkeit, sich an der Lösung des Konflikts zu beteiligen. Ein auf Bestrafung ausgerichtetes System, das nach dem Prinzip "aus den Augen, aus dem Sinn" und der Logik des "Busse-Tuns" funktioniert, kann niemals den Anforderungen einer gerechten Gesellschaft gerecht werden. Stattdessen muss gesellschaftliche Konfliktlösung darauf ausgerichtet sein, dass Unrecht so gut es geht wieder gut gemacht werden kann und vergangene Fehler zu einem Lernprozess und einer Verbesserung in Zukunft führen.
4. Die Gesetzesauslegung ist undemokratisch
Im aktuellen komplexen und machtsichernden Rechtssystem ist eine Verwissenschaftlichung der Rechtsanwendung unumgänglich. Recht und Gerechtigkeit muss für alle zugänglich und verständlich sein, ohne dass man dafür ein Rechtsstudium ablegen muss. Das geht jedoch nur, wenn das Rechtssystem nach den Bedürfnissen der Bevölkerung gestaltet wird und nicht, um die Interessen des Kapitals zu sichern und Machtstrukturen aufrechtzuerhalten.
Jedes Gesetz muss angewandt werden, dabei haben Gerichte einen grossen Spielraum. Die Anwendung der Gesetze wird damit mehrheitlich einer direkten demokratischen Kontrolle entzogen. Richter*innen werden zwar von Parlamenten (in einigen Kantonen von der Stimmbevölkerung) gewählt und haben somit eine (mehrheitlich indirekte) demokratische Legitimierung, über ihre Aktivität hat die breite Bevölkerung aber nur wenig Kontrolle und Wissen.
Gerichtsverhandlungen sind zwar in den meisten Fällen öffentlich, dieses Prinzip ist sogar in unseren Grundrechten verankert. Ziel dieser Öffentlichkeit ist die Kontrolle der Rechtsprechung durch die Bevölkerung. Diese vermeintliche Kontrolle funktioniert aus verschiedenen Gründen nicht. Einerseits ist es für die wenigsten Menschen möglich, sich Zeit zu nehmen, an einer Gerichtsverhandlung teilzunehmen, geschweige denn den relativ komplizierten Ablauf überhaupt zu verstehen. Andererseits fehlt in der Gerichtsverhandlung häufig eine ausführliche Urteilsbegründung, die eigentlich wichtig wäre, um ein Gericht effektiv zu kontrollieren oder in gegebenen Fällen zu kritisieren. Einige Entscheide, insbesondere vom Bundesgericht, werden publiziert. Die öffentliche Reaktion auf Entscheidungsbegründungen, insbesondere im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt, zeigt, wie wichtig diese Begründungen sind, um ein Gericht zu kritisieren, Besserung zu verlangen und systemische Probleme in der Rechtsprechung zu erkennen.
Die Richter*innen stützen sich bei ihren Entscheidungen nicht bloss auf ihre persönliche Meinung oder vergangene Gerichtsentscheide. In den Begründungen von Gerichtsentscheiden sieht man, dass oft sogenannte “Kommentare”[6] zur Begründung und Argumentation beigezogen werden. Obwohl diese Ausführungen und Informationen eine sehr grosse Rolle in der Umsetzung von Gesetzen spielen, sind sie nur für wenige zugänglich und werden von einem engen Autor*innenkreis geschrieben. So haben wenige Rechtsprofessor*innen einen enormen Einfluss auf die Rechtsprechung und die Anwendung der Gesetze, ohne auf irgendeine Weise demokratisch legitimiert zu sein und mit wenig Transparenz darüber, wie diese Kommentare entstehen.
5. In einem kapitalistischen System gibt es keine Gerechtigkeit für alle
Obwohl gemäss Verfassung der Zugang zum Recht garantiert werden sollte, sieht die Realität anders aus. Ein Symptom für diesen ungleichen Zugang sind die finanziellen Hürden, doch das Problem geht weiter. Wie kann der Zugang zum Recht garantiert werden in einem komplexen Justizsystem mit schwer verständlichen Gesetzen und einer teilweise intransparenten Anwendung, für die man ein Studium oder stundenlange Recherche benötigt, um sie zu verstehen?
Die Unzugänglichkeit des Justizsystems hat ihren Ursprung im fehlenden Wissen der breiten Bevölkerung über die Gesetze und die Möglichkeiten, ihre Interessen zu vertreten oder eine ungerechte Behandlung zu bekämpfen. Auch wenn niederschwellige Bildungs- oder Beratungsangebote vielen helfen können, kann die Lösung jedoch nicht nur sein, die breite Bevölkerung besser auszubilden. Bildungs- und Beratungsangebote haben aber auch ihre Grenzen in einem komplexen, intransparenten und teuren Justizsystem. Die Unzugänglichkeit des Rechts ist ein breit bekanntes Problem, es lässt sich jedoch nicht durch einzelne Massnahmen lösen. Durch seine grundsätzlich unzugängliche Struktur garantiert das Justizsystem, dass gegenwärtige Ungerechtigkeiten und Unterdrückung aufrechterhalten werden. Würden alle die Rechte, die ihnen zustehen, einklagen, egal in welchem Rechtsbereich, wären die Interessen der herrschenden Klasse gefährdet. Diese Vorstellung mag zwar verlockend klingen, ist aber nichts mehr als eine Vorstellung. Denn das Rechtssystem ist fundamental darauf ausgelegt, nicht allen den Zugang zu Gerechtigkeit und Schutz zu gewähren.
6. Das Justizsystem verstärkt bestehende Unterdrückung
Unsere Welt ist geprägt von Unterdrückungssystemen wie Patriarchat, Rassismus, Kolonialismus und Ableismus. Diese Unterdrückung äussert sich auch im Justizsystem und wird durch dieses noch verstärkt. Die Institutionen des Rechts verfestigen bestehende Ungleichbehandlungen in Form von Gesetzestexten und juristischen Praktiken. Dies führt dazu, dass unterdrückte und marginalisierte Gruppen stärker kriminalisiert werden. Die Schweizer Polizei und Justizbehörden befassen sich beispielsweise unverhältnismässig stark mit Delikten, die den Aufenthaltsstatus von migrantischen Personen kriminalisieren. Darüber hinaus führen Delikte auch ohne Migrationsbezug bei Menschen ohne Schweizer Pass häufig zu härteren Strafen (z.B. Landesverweisung). Racial Profiling[7] wiederum, als Konsequenz von Rassismus innerhalb der Gesellschaft und des Justizsystems, hat zur Folge, dass rassifizierte Menschen überproportional stark kriminalisiert werden.
Patriarchale Unterdrückung kommt im Justizsystem ebenfalls stark zum Ausdruck. So werden bspw. aufgrund der tiefen Erfolgschancen bei der Verteilung vonerk Im aktuellen komplexen und machtsichernden Rechtssystem ist eine Verwissenschaftlichung der Rechtsanwendung unumgänglich. Recht und Gerechtigkeit muss für alle zugänglich und verständlich sein, ohne dass man dafür ein Rechtsstudium ablegen muss. Das geht jedoch nur, wenn das Rechtssystem nach den Bedürfnissen der Bevölkerung gestaltet wird und nicht, um die Interessen des Kapitals zu sichern und Machtstrukturen aufrechtzuerhalten.
Sexualdelikten nur 8% aller sexuellen Übergriffe zur Anzeige gebracht[8]. Aufgrund der patriarchalen Charakterisierung von Männern als gewalttätig werden diese zudem oft härter bestraft als Frauen, welche die gleichen oder ähnlichen Delikte begehen. Verbeiständete Menschen, wie beispielsweise gewisse behinderte Menschen, haben je nach Art der Beistandschaft teilweise nicht die gleichen Rechte wie der Rest der Bevölkerung, Armutsbetroffene werden beim Bezug von Unterstützungsleistungen unter Generalverdacht gestellt und es droht ihnen für Bagatelldelikte eine Gefängnisstrafe. Diese Aufzählung könnte nach Belieben weitergeführt werden. Vor dem Recht sind offensichtlich nicht alle gleich. Unter dieser Unfähigkeit oder dem Unwillen des Justizsystems, Gerechtigkeit zu schaffen, leiden erneut Menschen, die sowieso schon von Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen sind.
7. Die Polizei schützt nicht uns, sondern die Interessen des Kapitals
Knapp 70% der Schweizer Bevölkerung haben ein hohes Vertrauen in die Polizeiinstitution[9]. Das mag überraschen, denn die Polizei passt eigentlich nicht mit unserem Verständnis von Demokratie zusammen. Statt Freiheiten zu wahren oder vor Gewalt zu schützen, macht die Polizei das Gegenteil: Reproduktion von Ungerechtigkeit und Unterdrückung, Einschränkung von Freiheit[10]. Die Polizei übernimmt das Durchsetzen von Recht und Ordnung für das staatliche Gewaltmonopol, dafür dürfen auch Gewalt und Zwangsmittel eingesetzt werden. Daraus resultieren klare Ambivalenzen: Beispielsweise ist die Polizei eigentlich beauftragt, Menschenrechte zu schützen, verletzt diese aber regelmässig selber[11]. Wenn die Polizei unrechtmässig handelt, wird dies selten angemessen geahndet, die dafür nötigen Kontrollmechanismen, wie unabhängige Ombudsstellen und/oder eine klare Regelung von Straftatbeständen, fehlen in der Schweiz praktisch komplett[12]. Spätestens wenn wir einen Blick auf die Systematik hinter der Polizei werfen, wird klar, dass deren Priorität nie Freiheit und Schutz für die Bevölkerung darstellen kann. In der Schweiz liegen die Ursprünge der Polizei bei den sogenannten Landjägern, die spätestens ab dem 17. Jahrhundert für die Vertreibung von Jenischen, Sinti*zze und Rom*nja sowie Armutsbetroffenen zuständig waren[13]. Die Polizei war niemals und ist auch heute nicht da, um die Menschen zu schützen.
Dabei haben vor allem marginalisierte Menschen ein Bedürfnis nach Schutz vor Diskriminierung und Gewalt. Wenn die Sicherheit bedroht ist, wird von der Polizei erwartet, in dieser Situation Gerechtigkeit wiederherzustellen. Weil es aber schlicht nicht möglich ist, die Legalität aller Massnahmen in jeder Situation genaustens zu prüfen, lernen Polizist*innen ihren eigenen Sinn nach Gerechtigkeit in höher zu gewichten als Einschätzungen zur Legalität[14]. Polizist*innen werden ausserdem in ein gewaltfreundliches System sozialisiert und arbeiten in einem Klima hegemonialer, harter Männlichkeit, in dem Diskriminierungsformen wenig kritisch hinterfragt werden[15]. Die Kombination dieser beiden Faktoren führt dazu, dass Polizist*innen regelmässig Vorschriften missachten, und dies zum Schaden marginalisierter Gruppen, die auf den grössten Schutz angewiesen wären.
Im heutigen kapitalistischen System schützt die Polizei im Auftrag des bürgerlichen Staates die Produktionsmittel der herrschenden Klasse und sichert die bestehenden Machtverhältnisse. Alle jene, die diese Verhältnisse öffentlich in Frage stellen, laufen entsprechend in Gefahr, polizeilicher Repression ausgesetzt zu werden. Damit werden Kritiker*innen und alle, die in diesem System nicht nach den kapitalistischen Spielregeln handeln wollen oder können, eingeschüchtert und gemahnt.
8. Erkämpfte Rechte sind zu verteidigen
Trotz der grundlegenden Fehlgestaltung unseres Justizsystems müssen diejenigen Elemente geschützt werden, welche den Menschen zu mehr Rechten und Gerechtigkeit verhelfen. Gerade die national und völkerrechtlich verankerten Grund- und Menschenrechte sind im Kapitalismus unter allen Umständen zu verteidigen, solange es keinen grundlegenden Umbau der Wirtschaft zugunsten der 99% gibt.
Auch wenn das heutige Rechtssystem in seiner Gesamtheit die kapitalistischen Herrschafts- und Machtverhältnisse schützt, wurden eine Vielzahl an Grundsätzen und Rechten zugunsten der Mehrheit der Menschen oder unterdrückter Minderheiten erkämpft. Beispiele dafür sind die Europäische Menschenrechtskonvention, die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte oder weitere völkerrechtliche Abkommen wie die UNO-Pakte, die Genfer Flüchtlingskonvention oder die ILO-Übereinkommen zum Schutz einer menschenwürdigen Arbeitswelt. Rechte wie diese können real Menschenleben retten und müssen von uns mit dem höchstmöglichen Schutz belegt werden.
9. Das heutige Justizsystem kann nicht reformiert werden
Unsere Analyse zeigt: Das Justizsystem ist auf die Interessen der herrschenden Klasse ausgerichtet, zum Nachteil der 99% und insbesondere von marginalisierten Gruppen. Versuche, dieses System zu reformieren, sind zum Scheitern verurteilt, denn der Funktionszweck würde damit bestehen bleiben. Solange die Mittel und Strukturen zur Machterhaltung und Unterdrückung existieren, kann keine gerechte Gesellschaft aufgebaut werden. Wenn der Kapitalismus überwunden werden soll, muss der bürgerliche Staat mit seinen Institutionen und Instrumente überwunden werden. Dazu gehört auch das Justizsystem.
Unsere Vision: Kollektiv Gerechtigkeit schaffen
Alle Menschen haben ein Recht auf ein Leben in Würde. Wenn Unrecht geschieht, sollte dieses aufgearbeitet und der Schaden wiedergutgemacht werden. Unsere Vision einer sozialistischen Gesellschaft kann und muss dafür entsprechende Strukturen beinhalten, also eine Alternative zum heutigen Justizsystem. Denn wir sind uns bewusst, dass auch nach einer sozialistischen Transformation nicht per sofort alle Gewalt und Unterdrückung beseitigt sind. Insbesondere die Überwindung von Unterdrückungssystemen, die bestimmte Formen der Gewalt ermöglichen, wie Rassismus, Patriarchat oder Ableismus, wird nicht von heute auf morgen möglich sein. Mit dem heutigen Justizsystem können diese Systeme jedoch niemals überwunden werden, weswegen wir neben kurzfristigen Massnahmen eine langfristige, transformative Alternative benötigen.
Was es heute und morgen zu tun gibt
Das heutige Unrecht kann und muss bereits vor einer sozialistischen Transformation vermindert werden. Täglich werden Flüchtende unter unmenschlichen Bedingungen in Ausschaffungshaft gezwungen, Gerichtsprozesse werden zu Unrecht verloren, Betroffene von sexualisierter Gewalt werden traumatisiert, Menschen in die Armut gezwungen – kurzum: heute verschärft das Justizsystem Ungerechtigkeit und kostet nicht selten Menschenleben.
Dieses Leid muss möglichst schnell und effizient eingedämmt werden. Kurzfristig muss der Zugang zu Recht für alle Menschen verbessert und vereinfacht werden. Beispielsweise braucht es Informationen in leichter Sprache und Übersetzung der Informationen in verschiedene Sprachen, kostenlose Beratungsangebote sowie eine Abschaffung der umfassenden Beistandschaft. Marginalisierte Gruppen müssen geschützt und deren Rechte gestärkt werden. Insbesondere für die Polizei braucht es unabhängige Ombudsstellen. Zusätzlich muss auch die Kriminalisierung von Gruppen gestoppt werden, das gilt beispielsweise für rassifizierte Personen und Menschen ohne Schweizer Pass. Für alle Menschen muss das gleiche Recht gelten, mit dem Asylregime muss entsprechend gebrochen werden, wie das in unserem Rassismuspapier[14], im Migrationspapier[16] und verschiedenen Resolutionen zur Thematik dargelegt wird. Racial Profiling und Alltagsdiskriminierung müssen bekämpft werden, denn auch gleiche Rechte bedeuten noch lange nicht gleiche Rechtsauslegung und schon gar nicht Gerechtigkeit. Darüber hinaus ist in vielen Bereichen eine Änderung der Rechtsgrundlagen dringend erforderlich, denn wenn das Gesetz selbst diskriminierend gestaltet ist, hat die Herstellung von Gerechtigkeit bereits im Ansatz keine Chance. Auch die Gesetzesauslegung muss schnellstmöglich anders erfolgen. Die Gerichte, die wichtigsten Institution der Gesetzesauslegung, müssen einer stärkeren demokratischen Kontrolle unterliegen. Die Institutionen der Strafverfolgung, darunter insbesondere die Staatsanwaltschaften, müssen vom Zwang zur Effizienz befreit werden. Es darf nicht sein, dass nur jene mit Sicherheit angemessene Untersuchungen erhalten, die mit einem Heer von Anwält*innen jede Nicht-Anhandnahme anfechten können. Auch braucht es Mittel, um Einzelpersonen in ihrem rechtlichen Verhältnis zu Kapitalist*innen und Grosskonzernen zu schützen. Personen (juristisch oder natürlich), die über grosse finanzielle Mittel verfügen, sollten bei Prozessen auch eine grössere finanzielle Last tragen, egal wie der Prozess ausgeht. Die Wiedereingliederung von Straftäter*innen muss gefördert werden. Gleichzeitig soll Täter*innenprävention ausgebaut werden. Zur weiteren Vorbeugung von Straftaten muss die soziale Sicherheit ausgebaut werden.
Der lange Weg hin zu Gerechtigkeit
Mit der Überwindung des Kapitalismus fällt das Kernelement des heutigen Justizsystems weg: Die Aufrechterhaltung der Herrschaft der kapitalistischen Klasse und der Schutz und Erhalt ihrer Produktionsmittel. Auch die Beseitigung aller Unterdrückungsstrukturen innerhalb der Gesellschaft entzieht vielen Konflikten das Fundament und hat eine Auswirkung auf die Justiz. Mit der grundlegenden Transformation unserer Gesellschaft muss ein neues Verständnis von Sicherheit, Ordnung und des Zusammenlebens einhergehen.
Konflikte und Gewalt können wir wohl aber niemals ganz aus einer Gesellschaft verbannen, weswegen wir eine neue kollektive Praxis für die Schaffung von Gerechtigkeit benötigen, fernab von Strafe und Vergeltung. Ein Ansatz dafür stellt das Konzept der Restorative Justice dar, ein uralter Ansatz der Konfliktbewältigung, bei dem die Wiedergutmachung anstelle von Strafe im Zentrum steht. Der Ursprung dieser Praxis liegt u.a. bei indigenen Gruppen in Neuseeland und Nordamerika und erlebt seit 30 Jahren global einen Aufschwung[17].
Mit der Restorative Justice können wir mittelfristig gerichtliche Verfahren schrittweise ersetzen. Bereits heute beinhalten die Rechtsordnungen von Ländern wie Österreich oder Deutschland mit dem “Tatausgleich”/”Täter-Opfer-Ausgleich”[18] Ansätze der Restorative Justice. Auch die JUSO Schweiz arbeitet bei der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt nach solchen Ansätzen. In Restorative Justice Verfahren suchen Opfer, Täter*in und/oder weitere Gemeinschaftsmitglieder, die auch durch das Geschehene betroffen sind, gemeinsam Lösungen und Strategien, um mit den Folgen der Tat umzugehen. Der Prozess kann auch von einer unparteiischen dritten Instanz begleitet werden. Bei den Verfahren werden Gewalt und Unrecht auch auf Gemeinschaftsebene analysiert und entsprechende Lösungsansätze dafür gesucht[19]. Mit der Restorative Justice können wir kontinuierlich gerichtliche Verfahren ersetzen, bis die Überwindung des aktuellen Justizsystems komplett gelungen ist. Man muss jedoch bedenken, dass auch die Restorative Justice, solange wir in einem kapitalistischen System leben, von der diesem sozioökonomischen System innewohnenden Unterdrückungsdynamik beeinflusst wird.
Die zentralen Elemente von Restorative Justice sind das gemeinsame Suchen nach Lösungen und Wiedergutmachung. Genau auf diese Elemente setzen wir auch beim Lösen von zwischenmenschlichen Konflikten ausserhalb von Gerichten und Prozessen. Wir wollen hin zu einer Gesellschaft, die ohne Unterdrückung und Ausbeutung funktioniert und die das Vertrauen in die Menschen ins Zentrum des gesellschaftlichen Zusammenlebens stellt. Für diese Vision lohnt es sich zu kämpfen.
Bibliografie
- das fordern wir auch in unserem Positionspapier “Manifest für freie Menschen in einer freien Welt”, online unter: https://juso.ch/de/positionspapiere/manifest-fur-freie-menschen-einer-freien-welt/
- Gramsci, Antonio: Gefängnisheft, Band 7. Hrsg. von Bochmann, Klaus [et al.], Hamburg 1991-2002.
- ebenda
- Nagel, Lara-Alexa: Die Väter aller Probleme. Zur Maskulinisierung von Staat und Gesellschaft, in: Forum Recht (01/19): Rechtsphilosophie. Allgemeine Geschäftsbedingungen, S. 25/26. Frankfurt am Main 2019, S. 25.
- Gerhard, Hans (2004) : Rückfalluntersuchungen nach Restorative JusticeProgrammen : ein kritische Überblick, CSLE Discussion Paper, No. 2004-10, Universität des Saarlandes, Center for the Study of Law and Economics (CSLE), Saarbrücken.
- Kommentare sind in der juristischen Forschung Ausführungen zu jedem einzelnen Artikel in den wichtigsten Gesetzen.
- Racial Profiling bezeichnet alle Polizeimassnahmen, die dazu führen, dass Personengruppen willkürlich oder unverhältnismässig behandelt werden, weil sie ethnisch-kulturell, religiös oder aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe als «fremd» wahrgenommen werden oder als nicht gleichberechtigt gelten. https://www.stop-racial-profiling.ch/#:~:text=Racial%20Profiling%20bezeichnet%20alle%20Polizeimassnahmen-,oder%20als%20nicht%20gleichberechtigt%20gelten
- gfs.bern: Sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt an Frauen sind in der Schweiz verbreitet. https://cockpit.gfsbern.ch/de/cockpit/sexuelle-gewalt-in-der-schweiz/, Zugriff am 07.01.2024.
- Bundesamt für Statistik (bfs): Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen SILC, Vertrauen in Institutionen, 2021, Bern 2023.
- Schöni, Basil: Die Polizei ist eine Art Fremdkörper in der Demokratie, in: Republik (30.08.2022), https://www.republik.ch/2022/08/30/die-polizei-ist-eine-art-fremdkoerper-in-der-demokratie, Zugriff am 07.01.2024.
- humanrights.ch: Was ist die Polizei? (27.10.2023), https://www.humanrights.ch/de/ipf/menschenrechte/polizei/dossier-polizei/begriffsdefinition-polizei/, Zugriff am: 07.01.2024.
- Gamp, Roland: Die meisten Beamten kommen ohne Strafe davon, in: Sonntagszeitung (01.06.2018),https://www.humanrights.ch/cms/upload/pdf/2018/180710_Die_meisten_Beamten_kommen_ohne_Strafe_davon.pdf, Zugriff am 07.01.2024, S. 6.
- Ebnöther, Christoph: Polizei, in: Historisches Lexikon der Schweiz (28.09.2010), https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009638/2010-09-28/#HDieABgutePoliceyBBimAncienRE9gime, Zugriff am: 07.01.2024.
- JUSO Schweiz: Rassismus erkennen und bekämpfen. In der Gesellschaft und der Linken, Positionspapier Rassismus (JV 19.02.23), Bern 2023.
- (28.09.2010), [https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009638/2010-09-28/#HDieABgutePoliceyBBimAncienRE9gime], Zugriff am: 07.01.2024.
Behr, Rafael. 2000. Cop Culture - Der Alltag des Gewaltmonopols. Opladen: Leske + Budrich.
Flörsheimer, Florian. 2020. «Wie tickt die Polizei?» Gegenhalten, Luxemburg. Gesellschafts-analyse und linke Praxis, 2 (2020): 102–7.
- JUSO Schweiz: No Borders, No Nations, Positionspapier Migration (JV 2017), Bern 2017.
- Van Ness, Daniel W.: An Overview of Restorative Justice around the World, Workshop 2, Eleventh United Nations Congress on Crime Prevention and Criminal Justice, Bangkok 2005.
- Pelikan, Christa: Was ist Restorative Justice? In: Sustainable Austria (Nr. 51): Muss Strafe sein?, Wien 2010.
- Europarat: On Mediation in Penal Matters. Empfehlung No. R 99 (angenommen vom Ministerkomitee des Europarates am 15.09.1999), Strasbourg 2000.