Zehn Thesen zum Staat

01.07.2017

Positionspapier der Geschäftsleitung zuhanden der Delegiertenversammlung der JUSO Schweiz vom 1. Juli 2017

Der Staat ist, wie er heute funktioniert, eine eher junge europäische Erfindung und hat einen dynamischen Entwicklungsprozess durchlebt. Dieses Thesenpapier soll Antworten geben auf die Fragen, was die Linke für ein Verhältnis zum Staat hat und wie sich Demokratie und Staat vertragen.

1. Staat und Kapitalismus stützen sich gegenseitig

Der Staat dient in seiner Gesamtheit heutzutage der Absicherung der Klassenverhältnisse, indem er das Privateigentum an Produktionsmitteln und die Interessen der Herrschenden schützt. Dadurch, dass der Nationalstaat zum Spielball einer globalisierten Weltwirtschaft geworden ist, ist dieser eine Grundlage für das Fortbestehen des Kapitalismus. Durch den andauernden Standortwettbewerb auf sämtlichen Ebenen ist es für einen Staat beinahe nicht möglich, sich diesem zu entziehen. Im Gegenteil: Einige Staaten treiben in der Hoffnung, an erster Stelle zu stehen, diese Entwicklung sogar noch an.

2. Der Staat ist Ausdruck der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse

Der Staat als Ausdruck der politischen Ordnung ist kein statisches Konstrukt, er unterliegt fortwährenden Veränderungsprozessen. Einen wichtigen Ausgangspunkt für das heute dominierende westeuropäische Staatskonzept bildete die Französische Revolution, welche mit dem bürgerlichen Staat die Feudalherrschaft überwand. Dieser bürgerliche Staat ist seitdem von der herrschenden kapitalistischen Klasse zur Durchsetzung und Verteidigung ihrer (Eigentums-)Interessen genutzt worden. Gleichzeitig hat sich der bürgerliche Staat als flexibel bei der Aufnahme von Forderungen aus geänderten gesamtgesellschaftlichen Machtverhältnissen erwiesen. Im letzten Jahrhundert wurden sowohl die erstarkende Arbeiter*innenbewegung als auch die feministische Bewegung an vielen Orten in die Institutionen des bürgerlichen Staates integriert. Der Staat ist so als Ausdruck der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu begreifen.

3. Die Widersprüchlichkeit des Staates verstehen und nutzen

Der Staat stützt auf der einen Seite die globalen Klassenverhältnisse, indem er das Privateigentum und die Interessen der Herrschenden schützt. Andererseits sichert der Staat aber auch vielen Menschen ein Mindestmass an sozialer Teilhabe, an Sicherheit oder demokratischer Partizipation. Für die Linke heisst das, den Staat in seiner Widersprüchlichkeit zu verstehen und die sich daraus ergebenden Handlungsspielräume zu nutzen: Genauso wie es der bürgerliche Staat war, der die Trennung einer öffentlichen und privaten Sphäre konstituierte und damit eine wesentliche Bedingung für patriarchale Strukturen schuf, ist der Staat ein zentraler Akteur, wenn es um feministische Forderungen wie Gleichstellung oder die Bezahlung von Care-Arbeit geht.

4. Der Staat besitzt sowohl eine emanzipatorische wie auch eine repressive Seite

Der Staat entwickelte auch aufgrund der Kämpfe auf der Strasse im Laufe der Zeit einen durchaus ausgeprägten Minderheitenschutz. Sozialversicherungen sind das beste Beispiel dafür. Dabei ist der Staat nicht aktiver Akteur, welcher progressive Entwicklungen fördert. Er hat oftmals vielmehr in einem ersten Moment einen passiven, bewahrenden Charakter, welcher den Status Quo erhalten will. Zu Beginn einer emanzipatorischen Entwicklung stand deshalb oftmals der Kampf auf der Strasse: Die Frauen*bewegungen, die Bürgerrechtsbewegungen, die Arbeiter*innenkämpfe. Teilweise konnten diese Forderungen aber mithilfe des Staates im Anschluss institutionalisiert werden. Diese staatliche Institutionalisierung emanzipatorischer (Strassen-)Kämpfe ist eine wichtige Eigenschaft des Staates. Dass der Staat so auch ein progressiver Vorreiter sein kann, zeigt sich heute in vielen Städten, z.B. mit Projekten zur Legalisierung von Sans-Papiers. Auf der anderen Seite hat der Staat einen ausgebauten Repressionsapparat. Dieser Apparat schützt primär die Herrschenden und ihre Interessen, wenn nötig auch mit Gewalt. Neben der Polizei, welche eine ambivalente Funktion im Staat einnimmt und einerseits wichtige Aufgaben wie beispielsweise die Kriminalitätsbekämpfung übernimmt und andererseits ebenfalls zur Verteidigung der Interessen der Herrschenden eingesetzt werden kann (z.B. politische Repression, Ausschluss von Migrant*innen), wird der repressive Charakter des Staates z.B. beim Geheimdienst und der Armee ersichtlich. Dieser repressive Charakter des Staates muss eingeschränkt werden. Versammlungsfreiheit, Meinungsäusserungsfreiheit und die politische und gesellschaftliche Partizipation sind wichtige Pfeiler eines demokratischen Staates und müssen unter allen Umständen garantiert werden.

5. Der Neoliberalismus hat die repressive Seite des Staates gestärkt

Im Zuge der Neoliberalisierung der Gesellschaften wurde die potentiell emanzipatorische Seite des Staates geschwächt. Gleichzeitig wurden die repressiven Aspekte des Staates gestärkt. Diese Entwicklung wurde durch den “War on Terror“ seit Beginn des 21. Jahrhunderts im Bereich der Sicherheitspolitik, Stichwort Überwachung, verstärkt. Mit dieser Stärkung der repressiven Aspekte teilweise einher gingen Privatisierungen gewisser emanzipatorischen Errungenschaften des Staates im Service Public, beispielsweise in der Gesundheit oder auch der Bildung. Diese Privatisierungen stärken die Interessen der Herrschenden, indem vormals gemeinschaftlich organisierte Lebensbereiche der profitorientierten Kapitalverwertungslogik überführt werden.

6. Das Konzept des “Nationalstaates“ hat ausgedient

147 Konzerne bestimmen heutzutage die gesamte Weltwirtschaft[1]. Diese Konzerne lassen sich von nationalstaatlichen Regelwerken kaum aufhalten. Wenn ihnen die Bedingungen in einem Land nicht passen, können sie ins nächste ziehen oder bezahlen mithilfe von internationalen Steuervermeidungsstrategien gar keine Steuern mehr. Mithilfe von Schiedsgerichten können Konzerne ihre Profitinteressen gegen die Bedürfnisse der ansässigen Bevölkerung einklagen. Internationale Handelsabkommen führen zu einer weiteren Verrechtlichung dieser Konzerninteressen und schränken die demokratische Gestaltungsmacht von Staaten weiter ein. Zwar kann die Linke im nationalstaatlichen Kontext noch immer die Macht erobern, doch die kapitalistische Weltordnung schränkt die Handlungsmöglichkeiten nationaler Politik in wesentlichen Bereich ein. Gerade in Staatenbündnissen wie der EU bringt eine linke Regierungsmehrheit in einem einzigen Nationalstaat oft wenig, wenn die supranationalen Strukturen neoliberal beherrscht bleiben. Eine auf den Nationalstaat begrenzte linke Politik ist deshalb zum Scheitern verurteilt. Für die Linke ist klar: Die Trennlinien in unserer Gesellschaft verlaufen nicht zwischen Nationalstaaten, sondern zwischen den 99% Lohnabhängigen und dem 1%, das von der Arbeit anderer profitiert.

7. Es braucht eine Demokratisierung des Staates

Staat und Demokratie stehen in einem ambivalenten Verhältnis, da staatliche Institutionen einerseits emanzipatorische Errungenschaften absichern, andererseits oftmals Kämpfe für mehr Demokratie schwächen oder untergraben (z.B. durch Überwachung oder durch die Absicherung des Privateigentums an den Produktionsmitteln). Es braucht deshalb eine Demokratisierung des Staates. Kurzfristig zählen hierzu Dinge wie das Stimmrecht für Menschen ohne Schweizerpass, aber eben auch das Recht auf anständige Arbeitsplätze. Längerfristig kann echte Demokratie aber nur über die Demokratisierung aller Lebensbereiche und insbesondere über die Demokratisierung der Wirtschaft, des Bodens und der Produktionsmittel erlangt werden.

8. Eine sozialistische Transformation bedingt eine grenzüberschreitende Perspektive

Die sozialistische Transformation[2] beschränkt auf den Nationalstaat ist aussichtlos (siehe These 5). Soll ein sozialistischer Transformationsprozess von Erfolg gekrönt werden, muss zuerst das Diktat des Kapitals überwunden werden. Diese Überwindung des Kapitalismus funktioniert nur grenzüberschreitend. Dies bedeutet jedoch nicht, dass im Nationalstaat revolutionäre Kämpfe keinen Sinn ergeben, denn internationale Bewegungen entstehen nicht von heute auf morgen, sondern brauchen zwingend regionale und lokale Verwurzelung. Auch deshalb muss die Eroberung der Staatsmacht ein linkes Ziel bleiben, da es nur durch die Organisation im Staat nachhaltig möglich ist, reale Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen und Raum für Alternativen zu schaffen. Und dies ist wiederum die Voraussetzung dafür, um Menschen, die eine postkapitalistische Gesellschaft anstreben, international miteinander zu vernetzen. Global denken – lokal handeln!

9. Eine sozialistische Transformation bedingt eine Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche

Das Kernprogramm einer sozialistischen Transformation ist die Überwindung von kapitalistisch-bürgerlichen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen durch eine Demokratisierung aller Lebensbereiche. Dies bedeutet, dass insbesondere die Wirtschaft aber beispielsweise auch die Bildung demokratisiert werden müssen. Lohnabhängige müssen an ihrem Arbeitsort ein Mitentscheidungsrecht und eine Gewinnbeteiligung erhalten (zu Eigentumsansprüchen siehe These 10) und Schüler*innen über die Gestaltung ihrer Bildung mitentscheiden können. Erst diese vielen kleinen und grösseren Kämpfe für mehr Demokratie und eine Abschöpfung des erarbeiteten Mehrwerts ermöglichen es, eine gut organisierte Klasse der Lohnabhängigen zu bilden, welche imstande ist, einer sozialistischen Transformation zum Durchbruch zu verhelfen.

10. Eine sozialistische Transformation bedingt eine Demokratisierung des Eigentums

Eine erfolgreiche sozialistische Transformation der Gesellschaft bedingt die Konfrontation mit der Eigentumsfrage: Das Privateigentum an den Produktionsmitteln muss durch eine Demokratisierung des Eigentums überwunden werden. Als Voraussetzung dafür muss eine sozialistische Transformation a) trans- oder international verbreitet sein und b) die Demokratisierung vieler Lebensbereiche zu einer gut organisierten Klasse Lohnabhängigen geführt haben. Erst dann ist die Linke genügend stark, um die Eigentumsverhältnisse zugunsten einer demokratischen Wirtschaft und Gesellschaft zu transformieren.


[1] https://arxiv.org/PS_cache/arxiv/pdf/1107/1107.5728v2.pdf

[2] Sozialistische Transformation: Unter einer sozialistischen Transformation wird ein Prozess verstanden, welcher am Ende zu einer sozialistischen Gesellschaft führt. Dieser Prozess funktioniert auf einer ausserparlamentarischen und parlamentarischen Ebene und beschränkt sich nicht nur auf den Nationalstaat, sondern findet überall statt: Am Arbeitsplatz, in der Schule, im Sitzungszimmer, etc.!