No borders, no nations

11.03.2017

Positionspapier Migration JUSO Schweiz verabschiedet an der Jahresversammlung 2017 in Bern

Kaum ein Thema polarisiert die Bevölkerung in Europa und in der Schweiz so sehr wie das Thema Migration. Rechtspopulistische Parteien haben sich in den letzten Jahrzehnten darauf verstanden, die Migration zur grossen Bedrohung für die einheimische Bevölkerung zu erklären, und die dadurch erzeugten Ängste als Nährboden zu nutzen. Während die Linke es komplett verpasste, eine sinnvolle, solidarische und konsequente Position aufzustellen, gaben die Rechten mit ihren von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit geprägten Abschottungsfantasien den Anschein, kohärente und realistische Lösungen bieten zu können. Es braucht eine neue Sicht und Vision von Migration, die vom Angst- und Sicherheitsdiskurs wegkommt. Dieses Papier verfolgt das Ziel, eine antikapitalistische und antinationalistische Antwort auf die Migrationsthematik zu geben und diese Antwort in der Linken in der Schweiz wie auch international zu verankern.

Dieses Papier liefert eine Analyse der heutigen Situation, gefolgt von der sozialistischen Vision einer Alternative. Konkrete Forderungen runden es ab und zeigen auf, wie diese Vision verwirklicht werden muss. Als Konkretisierung wird ein detaillierter Massnahmenplan folgen, der in einem zweiten Schritt ausgearbeitet und diskutiert werden soll.

Zusammenhänge zwischen globalem Kapitalismus und unfreiwilliger Migration

Im öffentlichen Diskurs um die Migrations- und besonders die Asylpolitik wird heute oft unterschieden zwischen „echten“ Flüchtlingen und sogenannten „Wirtschaftsflüchtlingen“, in gute und schlechte Migrant*innen. Dieses Weltbild ist nicht nur vollkommen unmenschlich und beschränkt, sondern zeigt die bürgerliche Tendenz, Menschen nach einem fiktiven und vereinfachten Modell von Push- und Pullfaktoren zu kategorisieren. Diese Vereinfachung kann unmöglich stimmen. Die Mechanismen der Migration sind vielschichtig und komplex. Bei einer ganzheitlichen Betrachtungsweise fallen hingegen Parallelen auf, die sich nur durch einen tiefer liegenden, systemischen Ursprung erklären lassen.

Zum einen ist die globale Ungleichheit trotz der Zunahme des allgemeinen Wohlstandes noch immer immens. Das Kapital akkumuliert sich bei einer Gruppe, die immer kleiner und exklusiver wird, währenddessen immer noch 795 Millionen Menschen an Hunger leiden.[1] Damit die Reichen reich sein können, müssen die Armen systembedingt arm sein, deshalb scheitert der Kapitalismus darin, allen Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen, wie es uns seine Anhänger*innen immer gepredigt haben. Um der Armut zu entkommen, sind viele gezwungen, dem Kapital dorthin nachzuziehen, wo es sich aufgrund des Systems akkumuliert hat. Mit ihrer aggressiven Steuerdumpingpolitik fördert die Schweiz die Kapitalflucht, vernichtet Arbeitsplätze im Ausland und holt sie hierher. Dadurch verschärft sie dieses Problem – den Zwang zur Arbeitsmigration – noch zusätzlich.

Zum anderen darf nicht vergessen werden, dass unser heutiges Wirtschaftssystem nicht nur die Menschen, sondern auch die Umwelt ausbeutet. Die Steigerung des globalen BIPs ist direkt mit einem erhöhten Energiekonsum verbunden.[2] Diese Steigerung lässt ihrerseits die Treibhausgas-Emissionen in die Höhe schiessen, welche massgeblich am Klimawandel beteiligt sind. Die Folgen davon, wie Dürren, der Anstieg des Meeresspiegels und Naturkatastrophen, aber auch Überfischung und Land-Grabbing werden Millionen von Menschen in prekäre Situationen bringen oder ihre bestehenden Lebensbedingungen weiter verschlechtern. Ihnen wird die Existenzgrundlage genommen, sodass in vielen Fällen Migration als naheliegender Ausweg aus dem Elend übrig bleibt.

Zu diesen beiden Faktoren kommen die imperialistischen Einflüsse[3] des globalen Kapitalismus. Um das für den Kapitalismus überlebenswichtige Wachstum zu ermöglichen, ist eine stetige Erweiterung der Absatzmärkte notwendig. Zur Durchsetzung dieser wirtschaftlichen Interessen schrecken kapitalistische Grossmächte auch nicht vor bewaffneten Konflikten zurück. Beispiel dafür ist der Irak-Krieg der 2000er-Jahre, welcher der Rüstungsindustrie Milliardengewinne bescherte, den IS hervorbrachte, die Region destabilisierte und die einheimische Bevölkerung zur Flucht gezwungen hat. Auch für nicht involvierte Länder sind solche Kriege lukrativ, da sie beispielsweise durch Waffenexporte direkt davon profitieren können. So fördert der Kapitalismus nicht nur Gewalt zur Durchsetzung von wirtschaftlichen Interessen, sondern ermöglicht dem militärisch-industriellen Komplex zusätzlich, aus diesem Elend Kapital zu schlagen.

Die Analyse zeigt, dass die grundlegende Ursache der Fluchtmigration die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist. Die Auswirkungen dieses Systems gehen jedoch noch weiter. Der Kapitalismus übt nicht nur einen direkten Einfluss auf Flucht- und Migrationsursachen aus, sondern auch auf die Wahrnehmung des Phänomens „Migration“ in der Gesellschaft an sich. Die rassistisch motivierte Problembewirtschaftung der Arbeitsmigration dient hierbei als Instrument zur Teilung der Arbeiter*innenklasse: Menschen ohne werden gegen solche mit einheimischen Pässen ausgespielt, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt wo durch eine Benachteiligung der Menschen ohne Schweizer Pass oder Lohndumping die Konkurrenz verschärft wird. Dahinter stecken wirtschaftliche Interessen. Das Migrationsregime[4] dient daher in erster Linie als Instrument der Unterdrückung.

Autonomie der Migration

Migration besteht nicht nur aus systematischen Aspekten, denn Migrant*innen sind nicht bloss Spielobjekte von Staat, Politik und Ökonomie, sondern Subjekte mit individuellen Bedürfnissen und Zielen. Migrant*innen passen sich Migrationsregimen an und entwickeln neue Strategien. Wenn ein Staat aus politischen Motiven die Grenzen schliesst, finden Migrant*innen einen anderen Weg. Die Migrationsregime ihrerseits antworten mit repressiven Massnahmen. Migration lässt sich dadurch aber nicht verhindern, vielmehr wird sie in den Untergrund gedrängt und verläuft zum Beispiel über Schlepper*innen, die Migrant*innen über lebensgefährliche Wege nach Europa bringen. Dieses Zusammenspiel von repressiven Massnahmen der Migrationsregime und immer neuen Fluchtrouten und -arten der Migrant*innen wird auch als „Autonomie der Migration“ bezeichnet.

Im gegenwärtigen Diskurs über Migration, wird meist nur Migration über nationalstaatliche Grenzen angesprochen. Migration kann aber auch innerhalb der Staatsgrenzen stattfinden. Schon immer beinhaltete der Migrationsprozess auch das Überschreiten von kulturellen, sozialen und religiösen Grenzen. Diese Grenzüberwindungen führen zur Herausbildung von Gesellschaften, Gemeinschaften und Kulturen. Da die zentrale Strategie für die Entwicklung der Nationalstaaten in Europa die Homogenisierung von Sprache, Bildung und Lebensform war, gerät diese durch Migration in eine Definitionskrise. Auch der interkulturelle Austausch, aufgrund der Migration, schafft neue gesellschaftliche Werte.

Die „Autonomie der Migration“ veranschaulicht, dass die Vorstellung von einem homogenen Menschenstrom nicht richtig ist. Bei der Migration bewegen sich individuelle Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Wünschen und Bedürfnissen. Diese Analyse der Migration stellt Migrationspolitiken und –regime in Frage.

Grenzregime als Instrumente der herrschenden Klasse

Eine wichtige Veränderung, die sich durch die beschleunigte Globalisierung[5] seit den 70er-Jahren ergeben hat, ist die Verschiebung von Grenzen nach aussen (‘Externalisierung’) sowie nach innen (stärkere Überwachung und Spaltung). So fielen mit der Personenfreizügigkeit die innereuropäischen Grenzkontrollen weg und damit der Grenzschutz des nationalstaatlichen Territoriums. Im Gegenzug wird die Bevölkerung verstärkt überwacht, die individuellen Daten der Bürger*innen werden gesammelt und Migrant*innen werden abschreckend sanktioniert (Ausschaffungspraktika). Die Grenzschutz-Agentur Frontex und Abkommen mit Gatekeeper-Ländern versuchen die Migration übers Mittelmeer zu verhindern. Diktatoren wie Erdogan oder früher Gaddafi beziehen von der EU grosse Geldsummen und politische Zugeständnisse, solange sie die Migrationsbewegungen nach Europa bremsen. Entwicklungshilfe wird ausserdem verstärkt an Rücknahmeabkommen gekoppelt. Die legale Einreise von Flüchtlingen wird durch Visapflicht und Carrier-Sanctions[6] verunmöglicht.

Seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ im Sommer 2015 wird der freie Personenverkehr immer stärker infrage gestellt. Als Massnahme zur Abwehr von Flüchtlingen haben mehrere europäische Länder die Grenzkontrollen erneut eingeführt. Staatsbürger*innen des Schengenraums werden dabei nicht an der Einreise gehindert, was die Unvollständigkeit der europäischen Offenheit klarmacht: Für Menschen ausserhalb des Schengen-Raums gelten immer noch Kontingentregelungen. Dies bedeutet, dass Aufenthaltsbewilligungen nur an Hochqualifizierte vergeben werden oder an Reiche, welche sich die Aufenthaltsbewilligung kaufen können.

Asyl als Alternative ist in vielen Fällen nicht erfolgversprechend. Der Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention ist sehr eng gefasst und anerkennt bloss individuelle Fluchtgründe. Kollektive Fluchtursachen wie Krieg, Umweltkatastrophen oder wirtschaftliche Perspektivlosigkeit werden ausgeschlossen. Trotz grossen Unzulänglichkeiten muss die Linke alles daran setzen, dieses Regelwerk zu erhalten, massiv auszubauen und verbindlich zu machen. Doch viele Länder, wie insbesondere auch die Schweiz mit ihrem oft revidierten und stets verschärften Asylgesetz, unterwandern und verletzen die Genfer Konvention. So werden unterschiedliche Kategorien von Menschen geschaffen, die andere Rechte und Pflichten haben und somit vor dem Gesetz nicht mehr gleich sind. Dies dient nur den Mächtigen, denn es macht uns erpressbar.

Analyse des Schweizer Grenzregimes

Auch das Grenz- und Migrationsregime der Schweiz folgen den Interessen der Kapitalverwertung. Sie richten sich dabei nicht nur nach dem wirtschaftlichen Bedürfnis nach Arbeitskräften, sondern werden auch durch den (reaktionären) Diskurs und die Widerstandspraxis geprägt. Während vor der Einführung der innereuropäischen Personenfreizügigkeit die temporäre Migration von Arbeitskräften im Fokus stand, ist es heute die „Integration“ der in die Schweiz migrierenden Personen. Beide Regime prekarisieren viele Migrant*innen.

Die temporäre Migration war von starken Vorurteilen und dem Wunsch einer möglichst klaren Trennung zwischen der ständigen Schweizer Wohnbevölkerung und den migrierenden Arbeitskräften geprägt. Diese Menschen wurden entsprechend zumeist in Baracken einquartiert um sie möglichst gut kontrollieren und bei Bedarf wieder ausweisen zu können. Da die Aufenthaltsbewilligung (ausser im Fall von Asyl) stets an Erwerbstätigkeit geknüpft war, war der Verlust der Arbeitsstelle oder eine unfall- oder krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit für die schweizerischen Behörden Grund genug, die Arbeiter*innen wieder abzuschieben.

Die Einführung der innereuropäischen Personenfreizügigkeit markierte die Abkehr vom vorrangigen Ziel, die Migration temporär zu halten. Die negativen Auswirkungen der Bilateralen Verträge von 1999 für die Arbeiter*innen konnte die Linke mit den Flankierenden Massnahmen (FlaM[7]) etwas abfedern, doch sind auch die FlaM ein protektionistisches Instrument, das es nicht schafft, den nationalistischen Denkrahmen der Migrationsdebatte zu durchbrechen. Seither hat sich die „Integration“ der Migrant*innen als politischer Fokus etabliert. Menschen, welche sich einer künstlich heraufbeschworenen „Leitkultur“[8] nicht in ausreichendem Mass anpassen wollen, gelten als integrationsunwillig. Ihnen wird der dauerhafte Verbleib in der Schweiz beispielsweise durch verwehrte Einbürgerungen möglichst erschwert.

Wer das Grenzregime „illegal“ überwunden hat oder nicht dessen Kriterien entspricht, dem_der bleibt nur noch die Möglichkeit des irregulären Aufenthalts als Sans-Papier. Dieser Status erzeugt bei den Betroffenen weitgehende Rechtlosigkeit, Unsicherheit und hemmt die Bereitschaft zu Widerstand. Die prekäre Situation verschärft die gesellschaftliche Spaltung und eröffnet weitere Möglichkeiten der Ausbeutung.

Der Geburtsort ist willkürlich bestimmt. Rechte, Lebensbedingungen und Chancen eines Menschen werden in der heute herrschenden Ordnung grundlegend von diesem Ort beeinflusst. Grenzen dienen dazu, Unterschiede zu legitimieren und die Arbeiter*innenschaft zu teilen. Für uns als Linke ist daher klar, dass jegliche Formen von nationalen Grenzen und Gesetzen, welche diese erzwingen, zu bekämpfen sind.

Überwindung aller Nationalstaaten - eine notwendige Utopie

Menschen aufgrund ihres zufälligen Geburtsortes oder dem ihrer Eltern einzuteilen, ist weder logisch, noch dient es dem Kampf für eine bessere, solidarische Gesellschaft. Daher kann eine linke Utopie nur antinational sein. Dabei ist das Konzept der globalen Niederlassungsfreiheit - welches Menschen ermöglicht ihren Aufenthaltsort frei zu wählen - ein Schritt in die richtige Richtung. Dennoch stösst es rasch an seine Grenzen: es überwindet Unterschiede, zum Beispiel im Arbeitsrecht, nicht. Somit bleibt der Konkurrenzkampf zwischen den Nationen bestehen.

Der antinationale Diskurs ist ein Gegenpol zur protektionistischen Strömung der Bürgerlichen. Aktuell wird durch nationalistische Diskurse von den wirklichen Ursachen der Probleme, die Menschen beschäftigen, abgelenkt. Dadurch, dass die Sündenböcke oft hinter dem fiktiven Vorhang der nationalen Grenzen platziert werden, gelingt es den wenigen vom System profitierenden Menschen, eine grenzübergreifende Organisation der Arbeiter*innen zu verunmöglichen. Kampf für Bewegungsfreiheit und Klassenkampf sind daher unmittelbar mit der Überwindung der nationalistischen Ideen verbunden.

Erst wenn alle Formen von nationalen Zugehörigkeitsgefühlen in den Abfalleimer der Geschichte geschickt werden, können künstliche Barrieren endlich und endgültig begraben werden!

Hinter Krieg und Krise steckt das Kapital: Für den Kampf gegen Fluchtursachen Ende von bewaffneten Konflikten und Profiten der Waffenindustrie!

Wer Waffen in Krisengebiete exportiert, Waffenproduzenten finanziert, oder militaristisch-interventionistische Kriegstreiberei betreibt, verantwortet direkt den Tod von Menschen. Diese Kriegsgeschäfte kreieren ein Interesse an Krieg und Zerstörung und müssen daher verboten werden. Deswegen fordert die JUSO:

  • einen sofortigen Stopp aller Kriegsmaterialexporte
  • ein Verbot der Finanzierung von Kriegsmaterialproduzenten
  • eine Positionierung der internationalen Linken gegen militaristisch-interventionistische Kriegstreiberei
  • einen Austritt der Schweiz aus der Partnership for Peace (PfP)[9] und stattdessen einen Einsatz auf internationaler Ebene für diplomatisch-zivile Konfliktlösungen

Konzerne an die Leine nehmen!

Genau so verheerend wie die Unterdrückung von Menschen durch physische Gewalt kann der ökonomische Druck sein. Im Rahmen der Nationalstaaten können dagegen lindernde Massnahmen im internationalen Kontext getroffen werden. Die JUSO fordert deswegen:

  • Konzerne sollen mit politischen Rahmenbedingungen an die Leine genommen und zur Verantwortung gezogen werden für das Elend, welches sie verursachen oder von dem sie profitieren
  • ein gerechtes und solidarisches internationales Steuersystem mit vollkommener Steuertransparenz, das den Steuerdumpingwettbewerb und die Kapitalflucht beendet
  • die Regierungen oder internationale Organisationen müssen international agierende Konzerne zwingen, die Menschenrechte und Umweltstandards weltweit zu achten.

Ausbeutung der Umwelt stoppen!

Der Klimawandel sowie weitere Schäden an unserem Planeten führen dazu, dass in den nächsten Jahrzehnten die Häufigkeit und das Ausmass von Naturkatastrophen zunehmen werden. Dieser Umstand wird erstens oft vernachlässigt - Klimaflüchtlinge sind heute beispielsweise noch kaum ein Thema - und zweitens ist er eng mit unserer Wirtschaftsordnung verbunden. Die JUSO fordert darum:

  • weitreichende Massnahmen zum Schutz der Umwelt
  • eine erneuerbare Energieversorgung
  • eine strikte Kontrolle der Förderung von natürlichen Ressourcen.

Brick by brick, wall by wall, let the fortress Europe fall: Für den Kampf gegen die Festung Europa

Die Bekämpfung von Fluchtursachen allein reicht nicht. Es braucht ein anderes Europa, um dem Leid an den europäischen Aussengrenzen ein Ende zu setzen. Die JUSO setzt sich nicht nur für die Menschen ein, welche die Flucht bis in die Schweiz oder nach Europa schaffen, sondern für alle Flüchtenden.

Fortführung und Stärkung der innereuropäischen Personenfreizügigkeit

Die Personenfreizügigkeit in Europa soll fortgeführt und laufend ausgeweitet werden. Damit dies nicht zu einem verstärkten Konkurrenzkampf führt, müssen Arbeiter*innenrechte und soziale Absicherung diskriminierungsfrei auf europäischer Ebene gesichert und gestärkt werden. Deshalb fordert die JUSO:

  • die Erhaltung der Bilateralen Verträgen
  • die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf weitere Länder
  • den Ausbau von flankierenden Massnahmen
  • die laufende Harmonisierung der Arbeitsbedingungen und der sozialen Absicherungen in ganz Europa, wobei sich die Harmonisierung am höheren Standard orientiert.

Abschaffung der europäischen Aussengrenzen

Die Festung Europa muss fallen. Die JUSO fordert daher:

  • Eine Entmilitarisierung der europäischen Aussengrenzen
  • Die Abschaffung von Frontex
  • Die Etablierung von einer Seenotrettungs-Mission im Mittelmeer
  • Eine Aufkündigung von Abkommen mit Gatekeepern zur Migrationsverhinderung
  • Keine Kopplung von Entwicklungshilfe mit Rückführungsabkommen

Sichere und legale Fluchtwege ermöglichen

Gleichzeitig müssen aber auch sichere Fluchtwege geschaffen werden. Besonders Frauen*, Minderjährige und queere Menschen müssen während der Flucht an Leib und Leben geschützt werden und sicher ihre Ziele erreichen können. Die JUSO fordert:

als kurzfristige Massnahmen

  • eine verstärkte Vergabe von Humanitären Visa
  • Die Wiedereinführung des Botschaftsasyls
  • Grössere Kontingente für das Resettlement-Programm der UNHCR[10]

als langfristige Massnahmen

  • Die Abschaffung der Visapflicht
  • Die Garantie von sicheren Fluchtwegen für alle

Reform des Dublin-Systems

Die aktuelle Situation zeigt das Scheitern des Dublin-Systems deutlich auf. Damit eine europäische Koordination weiterhin bestehen kann, muss das Abkommen grundsätzlich reformiert werden. Darum fordert die JUSO:

  • die freie Wahl des Ziellandes für Flüchtende
  • Einen finanziellen Ausgleich zwischen den Ländern, die viele Flüchtlinge aufnehmen und denjenigen, die dies nicht tun. Dabei muss sowohl Grösse wie auch Wirtschaftsleistung der Länder berücksichtigt werden
  • die Einhaltung und Stärkung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in ganz Europa als Voraussetzung für dieses System

Recht auf Migration

Das Recht auf Migration ist ein liberales Recht und sollte für alle gewährleistet werden. Um insbesondere die Rechte aller Schutzsuchenden garantieren zu können, muss die Definition des Flüchtlingsbegriffs in der Genfer Konvention ausgeweitet werden. Wir fordern daher:

als kurzfristige Massnahmen

  • die Aufnahme von Verfolgung aufgrund von sexueller Orientierung und/oder Identität sowie Desertion als Fluchtgründe in die Genfer Konvention
  • die Aufnahme von kollektiven Fluchtursachen wie Krieg, Klimakatastrophen und existentieller Armut in die Genfer Konvention.
  • die Anerkennung von Menschen mit subsidiärem Schutz (vorläufig Aufgenommene) als Flüchtlinge

als langfristige Massnahme

  • das Recht auf Niederlassungs- und Bewegungsfreiheit

Viele Menschen suchen in Europa und in der Schweiz nicht nach Schutz, sondern nach Perspektiven. Die JUSO Schweiz fordert deshalb:

  • die Abschaffung von Kontingenten
  • die Abschaffung aller beruflichen Auflagen für Migrant*innen
  • die Überwindung der Trennung zwischen „echten“ Flüchtlingen und „Wirtschaftsflüchtlingen“, welche in der Sprache beginnen muss.[11]

Kein Mensch ist illegal

Ein Leben in Würde und Zugang zu Recht sind Menschenrechte. Sogenannten „illegalisierten Migrant*innen“ werden diese Rechte jedoch oft verweigert. Illegalität ist kein natürlicher Zustand gewisser Menschen, sondern das Ergebnis von Ausgrenzungsprozessen des Nationalstaats und ihrer Festschreibung im Recht. Darum fordern wir:

  • die kollektive Regularisierung von Sans-Papiers
  • das Verbot von jeglichen Ausschaffungen

Auf ein friedliches Zusammenleben: Für den Schutz und die Partizipation von Migrant*innen

Unter dem Deckmantel der Integration werden Menschen ohne Schweizer Pass mit Androhung der Ausschaffung genötigt, sich „unserer Kultur“ anzupassen. Gleichzeitig wird ihnen vehement verweigert, in irgendeiner Form an der Gesellschaft teil zu haben. Doch ohne Partizipation kann ein gemeinsames Zusammenleben nicht stattfinden.

Für eine internationale Arbeiter*innenklasse

Oftmals wird die einheimische Arbeiter*innenklasse gegen Migrant*innen aufgehetzt - nach dem Motto, dass einheimische Arbeit an ausländische Arbeiter*innen verloren geht. Deshalb muss die Linke in der Schweiz und international die Arbeiter*innen aller Nationen einen und organisieren, um die Konfliktlinie von einer nationalistischen zu einer klassenkämpferischen zu verschieben. Die JUSO fordert daher:

  • den Einsatz für eine starke, linke, durchsetzungsfähige Internationale und die dementsprechende Reform existierender Bündnisse, die weltweite Ratifizierung und Durchsetzung aller ILO-Regelungen,[12] den Ausbau der Arbeiter*innenrechte, ungeachtet deren Herkunft
  • rigide Kontrollen, um Lohndumping und schlechte Sozialleistungen zu beseitigen
  • Flächendeckende Gesamtarbeitsverträge in allen Branchen
  • Keine Verknüpfung von Aufenthaltsstatus und Arbeitsvertrag

Die wirtschaftliche Partizipation für alle

Migrant*innen werden weitere Steine in den Weg gelegt, indem ihre Arbeitserfahrungen, Ausbildungs- und Studienabschlüsse aus dem Ausland oft nicht anerkannt werden. Wir fordern deshalb unter anderem:

  • den Zugang von Migrant*innen zu Universitäten und anderen Bildungsinstitutionen.
  • staatlich finanzierte Kurse für Arbeiter*innen, damit sie auch in der Schweiz ihre im Ausland gelernte Tätigkeit weiterführen können.

Die politische Partizipation für alle

Obwohl ein grosser Teil der migrierten Bevölkerung seit Jahren in der Schweiz lebt und den Alltag mitgestaltet, werden sie von politischen Mitgestaltungsmöglichkeiten ausgeschlossen, nur weil sie keinen Schweizer Pass besitzen. Daher fordern wir unter anderem:

  • Politische Rechte für Menschen ohne Schweizer Pass
  • die Einführung des ius solis als kurzfristige lindernde Massnahme[13]
  • Erleichterung und Vereinheitlichung der Auflagen zur Einbürgerung

Die gesellschaftliche Partizipation für alle

Leitkulturen gibt es nicht, denn Kultur ist weder homogen noch statisch. Dementsprechend sinnlos ist es Menschen ohne Schweizer Pass durch Zwangsintegration „unsere Kultur“ aufzuzwingen. Wir fordern daher eine Abkehr vom Zwang zur Integration hin zu Massnahmen, die der gesellschaftlichen Partizipation dienen. Daher fordern wir unter anderem:

  • die staatliche Finanzierung von Landessprachkursen
  • Einen Erwerbsersatz während Sprachkursbesuch, damit sich das Erlernen einer Landessprache nicht negativ auf die Erwerbstätigkeit auswirkt
  • Rahmenbedingungen für den interkulturellen Austausch
  • die finanzielle und ideologische Unterstützung von Inklusionsprojekten

Eine Urban Citizenship[14] für alle Menschen, die in einer Stadt wohnen, unabhängig ihrer Aufenthaltskategorien

Die Bereitstellung von Ressourcen für Flüchtende

Wenn Menschen in andere Länder kommen, dann ist es klar, dass diese Unterstützung brauchen. Für Flüchtende fordert die JUSO unter anderem:

  • Die systematische Erfassung der vor der Flucht ausgeführten Arbeit
  • Die Bereitstellung von Unterstützungsmassnahmen, um Flüchtende in ihre angestammte Arbeit im Ankunftsland zu führen
  • Die Bezahlung der Arbeit von Flüchtenden zu einem im Ankunftsland der Norm entsprechenden Lohn
  • Die Öffnung sämtlicher Ausbildungsmöglichkeiten für alle Menschen und die Ermöglichung des kostenlosen Besuchs dieser Ausbildungsmöglichkeiten
  • Die Bereitstellung von Unterkünften gemäss der im Ankunftsland für die dort ansässige Wohnbevölkerung üblichen Norm
  • Die finanzielle und logistische Unterstützung von Flüchtenden
  • Die Unterstützung von Ländern, die Flüchtende aufnehmen, durch die internationale Gemeinschaft, wenn diese ressourcentechnisch die oben aufgeführten Punkte nicht umsetzen können und das Ergreifen von Sanktionen, wenn diese trotz genügender Ressourcen nicht willens sind, die oben aufgeführten Punkte umzusetzen

Völker, hört die Signale!

Im Zuge der Migrationsströme der letzten Jahre haben sich Tausende von Menschen freiwillig engagiert. Diese (meist) unorganisierte individuelle Freiwilligenarbeit kann als Ausdruck des Versagens der (linken) Politik gewertet werden. Die Linke in Europa ist seit Jahren in der Defensive, gefangen in dem für sie scheinbar unüberwindbaren Widerspruch zwischen dem Schutz der ansässigen Arbeiter*innen und dem Recht auf globale Niederlassungsfreiheit.

Dabei übersieht sie, dass es sich nicht um zwei unterschiedliche Gruppen handelt, die konkurrieren, sondern um ein und dieselbe, die systematisch in diese Konkurrenzsituation gezwungen wird - die Arbeiter*innenklasse.

Das Versagen der Linken in diesem Kernanliegen ist umso gravierender, da sie die einzige Kraft wäre, die eine Alternative zu den Botschaften der Rechtspopulisten bieten könnte. Es ist nicht tolerierbar, dass die SVP in der Schweiz die Hegemonie über die Bedeutung und Interpretation von Migration besitzt – die Partei, deren Exponenten jeden Monat einen neuen rassistischen „Ausrutscher“ oder „Einzelfall“ bieten. Die Linke muss wieder in der Lage sein, dem Hass und der Trennung, die von rechten Parteien bewirtschaftet und Boulevardzeitungen gierig verbreitet werden, Paroli zu bieten. Die Lösung dazu ist klar:

“Proletarier aller Länder vereinigt euch”, schrieben Marx und Engels vor nun über 160 Jahren. Dieser Aufruf hat weder an Aktualität noch an Richtigkeit verloren. Dennoch scheinen Gewerkschaften, Parteien aus der sozialdemokratischen Familie aber auch andere linke Organisationen den Internationalismus begraben zu haben. Nur mit einer konsequenten antikapitalistischen und antinationalistischen Haltung können wir endlich das Massensterben auf den Fluchtrouten beenden und den Konkurrenzgedanken zwischen den Menschen zugunsten echter Solidarität überwinden. Nur wenn wir uns über die künstlichen Grenzen hinweg verbünden und die Menschen einbeziehen, die heute desillusioniert sind, können wir als Linke wieder in die Offensive gehen und an Schlagkraft gewinnen.

Wer anders handelt, macht sich der Beihilfe zum Mord an Tausenden von Menschen auf der Flucht schuldig. Darum: Völker, hört die Signale! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!


[1] Food and Agriculture Organization of the United Nations (2015): The State of Food Insecurity in the World.

[2] Bundesamt für Umwelt (2005): Wachstum und Umweltbelastung: Findet eine Entkoppelung statt?

[3] Imperialismus: Einflussnahme durch eine politische/wirtschaftliche Kraft in einem fremden Gebiet. Dies dient oft der Durchsetzung von Handelsinteressen oder Landansprüchen, und kann bis hin zu einer vollständigen Machtübernahme gehen. (vgl. Faber, Richard (2004): Imperialismus in Geschichte und Gegenwart, S. 22f.)

[4] Migrationsregime: Zusammenfassung der institutionalisierten Praktiken und Strukturen, welche das politische Feld der Migration kontrollieren. (vgl. Müller, Doreen (2010): Flucht und Asyl in europäischen Migrationsregimen, S. 24f.)

[5] Globalisierung: sozialer Prozess der Internationalisierung. Sie verweist auf Prozesse, die weltweit wirken, dabei nationale Grenzen durchschneiden und die Welt so stärker miteinander verbinden. (vgl. Hall, Stuart (1999): Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 393f.)

[6] Carrier-Sanctions: Strafen für Transportunternehmen, die Personen ohne gültige Einreisepapiere transportieren. (vgl. D‘Amato, Gianni et al. (2005): Menschenschmuggel und irreguläre Migration in der Schweiz. SFM - Forschungsbericht 37, S. 21f.)

[7] Flankierende Massnahmen: Massnahmen zum Schutz vor Lohndumping, die allerdings heute nur schwach kontrolliert werden. (vgl. Gaillard, Serge/Trunz, Christian (2005): Flankierende Massnahmen zum freien Personenverkehr. Dossier 32 SGB, S. 5f.)

[8] Leitkultur: Begriff für ein hierarchisches Verhältnis zwischen verschiedenen Kulturen, bei der sich eine Kultur einer einheimischen unterordnen soll. Meist in polemischer Weise gegen Migration und Parallelgesellschaften genutzt. (vgl. GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (2015): Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten – Leitkultur.)

[9] Partnership for Peace (PfP): politische Initiative, die von den 28 Nato- und 22 Partnerstaaten getragen wird, und oft den Zwecken und Zielen der Nato folgt und gemeinsame militärische Übungen fördert („friedenserzwingende Kriegseinsätze“) (vgl. Keel, Irine (2000): Sie reden von Frieden und meinen Krieg. In: Vorwärts – Die sozialistische Zeitung, 03.11.00)

[10] Resettlement-Programm: UNO-Programm, bei dem jährlich 80‘000 besonders verletzliche Menschen aus Krisengebieten als Flüchtlinge in einwilligende Drittstaaten gebracht werden. (vgl. UNHCR (2011): Resettlement.)

[11] Die sprachliche Unterscheidung zwischen (Arbeits-)Migrant*innen Flüchtlingen ist auch in diesem Abschnitt vorhanden. Der Begriff Flüchtling wurde deshalb verwendet, weil er durch die Genfer Flüchtlingskonvention eine juristische Bedeutung hat.

[12] ILO-Regelungen: Acht Übereinkommen von 183 Staaten zu grundlegenden Prinzipien und Rechten bei der Arbeit, wie Kinderarbeit, Zwangsarbeit und Diskriminierung. (vgl. Scherer, Andreas (2003): Multinationale Unternehmen und Globalisierung, S.211f.)

[13] Ius solis: Bürgerrecht, das nicht über Verwandtschaft, sondern über den Geburtsort vergeben wird. (vgl. Staatssekretariat für Migration SEM (2012): Erwerb des Schweizer Bürgerrechts.)

[14] Urban Citizenship: Stadtbürgerschaft durch die Anpassung politischer Instrumentarien. Dabei wird nicht Migration, sondern die ungleiche Verteilung sozialer Rechte und damit der ungleich verteilte Zugang zu Ressourcen als Problem adressiert. (vgl. Morawek, Katharina: Städte statt Staaten. In: WOZ – die Wochenzeitung, 09.07.15