Positionspapier der JUSO Schweiz verabschiedet an der Delegiertenversammlung vom 24. Juni 2023 (Neuchâtel)
Trotz einiger Erfolge in den letzten Jahrzehnten sind feministische Kämpfe weiterhin grundlegend notwendig. Fortschritte in der Gleichstellung werden immer wieder angegriffen. So werden etwa in den USA oder Polen körperliche Selbstbestimmungsrechte immer stärker eingeschränkt und Abtreibungen kriminalisiert. Es gibt regelrechte Hetzkampagnen gegen trans Menschen und Gesetze, welche ihre Rechte, beispielsweise bei medizinischen Transitionen aktiv einschränken. Auch in der Schweiz sind solche Entwicklungen zu beobachten. Es wurden zwei Initiativen lanciert, die Abtreibungsrechte einschränken sollen und mit der AHV21 wurde das Rentenalter der Personen mit weiblichem Geschlechtseintag gegen deren Willen erhöht. Wer sich für gesellschaftliche Emanzipation und somit beispielsweise auch für LGBTQIA*-Rechte einsetzt, wird von der reaktionären Rechten als “woke” betitelt und als “wahnsinnig” oder “männerfeindlich” abgetan. Ein revolutionärer Feminismus ist heute also wichtiger denn je. Wir müssen Kämpfe verbinden, denn wir sind erst frei, wenn alle frei sind. Die Mächtigsten unserer Gesellschaft wollen uns spalten und entmachten - unsere Antwort darauf ist Solidarität und Zusammenhalt. Wir kämpfen für eine gerechte Welt ohne jegliche Ausbeutungs- und Diskriminierungsstrukturen und zwar zu unseren Lebzeiten!
Unsere Vorkämpfer*innen haben enorme Arbeit geleistet. Sie haben das Frauenstimm- und wahlrecht, Abtreibungsrechte, viele weitere elementare Selbstbestimmungsrechte und emanzipatorische Fortschritte erkämpft. Der Weg hin zu einer egalitären Gesellschaft ist noch lang und die Fortschritte zaghaft. Heute besteht in der Schweiz noch immer ein Gender Pay Gap von 18%,(1) insgesamt haben Frauen in ihrem Leben mehr als 43% weniger Einkommen als Männer.(6) Der Grossteil der unbezahlten Care-Arbeit wird von FLINTA-Personen verrichtet, Altersarmut ist weiblich. Nicht-binären Menschen wird die Existenz aberkannt und jede zweite Woche wird ein Femizid(2) verübt. Das sind nur einige Symptome der vorherrschenden patriarchalen Strukturen.[15] Nach dem Höhepunkt der COVID-Pandemie wurden Gleichstellungsfortschritte zusätzlich in vielen Bereichen über den Haufen geworfen oder enorm verlangsamt.(3) Das alles werden wir nicht hinnehmen, wir wurden schon lange genug vertröstet. Dieses Positionspapier soll als Fundament unserer Vision für eine feministische Revolution dienen. Um diesen Kampf angemessen führen zu können, müssen wir patriarchale Strukturen erkennen und benennen. Dafür braucht es eine entsprechende Analyse. In diesem Papier wagen wir einen Versuch einer solchen Auslegeordnung.[1] Diese ist jedoch keinesfalls statisch, sondern wird sich mit der feministischen Bewegung weiterentwickeln. Das Ziel ist uns bekannt, nun müssen wir den Weg dorthin aufzeigen können.
Die feministischen und linken Akteur*innen sind divers in Bezug auf ihr Alter, ihr Geschlecht und die Form ihres Engagements, sei es in Parteien, Vereinen oder sozialen Bewegungen. Sie alle kämpfen für die Befreiung von FLINTA-Personen, werden aber oft in einen künstlichen Konflikt gedrängt: den einer Hierarchisierung von Problemen. So wird zum Beispiel der Kampf um die Kaufkraft von Familien dem Kampf um die Lebensbedingungen von queeren Menschen entgegengestellt und dieser wird dann als Identitätspolitik abgetan. Diese Aufteilung in "falsche" und "richtige" Probleme ist jedoch eine von der Rechten inszenierte Darstellung, ebenso wie der Konflikt um Sichtbarkeit oder um vorhandene Ressourcen. Unser Kampf muss unser gemeinsames Ziel verfolgen: ein Wirtschaftssystem, das auf der Ausbeutung von FLINTA-Personen innerhalb des heterosexuellen Familienmodells beruht und von starren Geschlechterkategorien abhängig ist zu bekämpfen und das Patriarchat zu stürzen. Es ist daher unsere Verantwortung, unsere Kräfte zu bündeln, um die feministische und antikapitalistische Offensive zu organisieren.
2019 konnten wir am 14. Juni über 500’000 Menschen für feministische Anliegen auf die Strasse mobilisieren. Vier Jahre später - und die Fortschritte halten sich in Grenzen. Das Patriarchat unterdrückt FLINTA-Personen schon lange genug, dieser Zustand ist endlich, denn wir werden uns holen, was uns zusteht: Freiheit und Gerechtigkeit.
Das Patriarchat gestern und heute
Wir kämpfen für die Überwindung des Patriarchats, doch was verstehen wir überhaupt unter diesem Begriff? Diese Frage müssen wir uns notwendigerweise stellen. Eine pauschale Definition zu finden scheint unmöglich und es wird schnell klar, dass Theoretiker*innen, Politiker*innen und Wissenschaftler*innen abhängig von Zeit und Ort jeweils etwas anderes unter diesem Begriff verstehen.(4) Als linke Feminist*innen beziehen wir uns mehrheitlich auf Definitionen der feministischen Theorie, welche versucht diesen Begriff möglichst vollumfänglich und auf verschiedene Epochen und Orte anwendbar zu definieren. Somit sollen möglichst viele Unterdrückungsformen in allen Gesellschaften aufgezeigt werden können. Auf einer abstrakten Ebene würde das laut der Soziologin Sylvia Walby heissen: “patriarchy is a system of social structures and social practices in which men dominate, oppress and exploit women”.(5) Weil das Patriarchat die Vorherrschaft einer heterosexuellen und cis- männlichen Norm etabliert hat, werden nicht nur Frauen unterdrückt, sondern alle Menschen, die dieser Norm nicht entsprechen, nämlich auch lesbische, schwule, bisexuelle, trans, inter, non-binäre, agender und queere Personen.
Seit der Entstehung des Patriarchats gibt es auch Widerstand dagegen. Im Zuge der Französischen Revolution standen die Ideale “Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit” im Zentrum. Jedoch sollten nur Männer vor dem Recht gleich sein, was Feministinnen wie Olympe de Gouges öffentlich kritisierten.(7) Nicht selten wird diese Zeit im europäischen Raum als Anfangspunkt von sichtbaren und belegbaren feministischen Bestrebungen genannt. So auch bei der sogenannten Wellentheorie, einem Modell, welches heute oft für die Veranschaulichung der historischen Entwicklungen der feministischen Bewegung verwendet wird. Dabei wird die feministische Bewegung in drei Wellen unterteilt. Diese Wellentheorie bietet einen vereinfachten Überblick über Kämpfe und Errungenschaften der feministischen Bewegung in Westeuropa und Nordamerika seit dem 19. Jahrhundert. Diese Theorie hat jedoch nur eine beschränkte Aussagekraft, legt den Fokus auf Ereignisse rund um weisse privilegierte Feminist*innen im sogenannten Globalen Norden und blendet Kämpfe von Feminist*innen aus dem sogenannten Globalen Süden praktisch komplett aus. Diese Theorie passt auch zu einem grossen Teil nicht zu den europäischen Ländern des Ostblocks, deren Regierungen für die Vergrösserung der Arbeitskraft auf die Frauenemanzipation setzten. In diesem Rahmen wurde eine Reihe der Forderungen der westlichen zweiten Welle durch die Ostblock-Regierungen eingeführt. So ermöglichte die Russische Revolution nicht nur die Einführung des Frauenstimmrechts, eine Kernforderung der 1. Welle, sondern auch die Einführung des Abtreibungsrechts, eine typische Forderung der 2. Welle. Diese Fortschritte fanden jedoch unter Stalin ein Ende, der auf ein traditionelles Familienmodell setzte, Abtreibung illegalisierte, Scheidungen erschwerte und Homosexualität kriminalisierte. Weitere Errungenschaften, die üblicherweise mit der 2. Welle in Verbindung gebracht werden, sind nach der Einführung des Marktkapitalismus und dem damit vebundenen Erstarken rechtskonservativer Kräfte in Osteuropa seit den 90er Jahren wieder abgeschafft.
In der ersten Welle kämpften Feminist*innen vorrangig für bürgerliche und politische Rechte, wie beispielsweise das Frauenstimm- und Wahlrecht. Bekannt dafür wurden dafür unter anderem die Suffragetten [2], eine Gruppe Feministinnen, die Ende des 19. und frühen 20. Jahrhunderts für bürgerliche Frauenrechte in Grossbritannien kämpften. In der Schweiz gab es Ende des 19. Jahrhunderts erste Ansätze einer organisierten Frauenbewegung in Form von Frauenorganisationen. Sie intervenierten – meistens vergeblich – bei anstehenden Revisionen von Verfassung und Privatrecht, um ihre zivilrechtliche Stellung oder Handlungsfähigkeit zu verbessern.(8) In den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts entstanden diverse landesweite Frauenverbände.[3] Diese setzten sich im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 für die zivil- und arbeitsrechtliche Gleichstellung der Frauen ein, blieben dabei aber ziemlich erfolglos und lösten sich bald darauf wieder auf. Neben den bürgerlichen staatstreuen Frauenverbänden der Oberschicht erstarkten bald darauf auch Arbeiter*innenbewegungen, in der sich auch Frauen aktiv engagierten, obwohl die Partei- und Gewerkschaftsstrukturen insgesamt auch sehr von Männern dominiert wurden.[4] Im Rahmen des Landesstreiks von 1918 engagierten sich zahlreiche Frauen aus der Arbeiter*innenbewegung und Sozialdemokratie, darunter an vorderster Front die Sozialistin Rosa Bloch, die als einzige Frau im Oltener Aktionskomitee war. Die Forderung nach dem Frauenstimmrecht gewann als eine der Hauptforderungen des Landesstreiks an Aufwind.(9) Die Einführung des Frauenstimmrechts 1971 liess allerdings deutlich länger auf sich warten als manche andere Landesstreikforderungen des Oltener Aktionskomitees: So konnte die 48-Stunden-Woche 1919/20 durchgesetzt werden und bereits wenige Wochen nach dem Landesstreik begannen die Arbeiten für die Einführung einer Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV).(10) Mit der Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre und der wachsenden Bedrohung durch den Faschismus entwickelte sich ein verstärkter gesellschaftlicher Konservativismus, in dem feministische Anliegen einen schweren Stand hatten.
Ab den 1960er-Jahren ist der Start der zweiten Welle angesiedelt. Die feministische Bewegung gewann an Aufwind und konnte einige bedeutende Fortschritte verbuchen. Präsente Themen waren unter anderem Schwangerschaft, Abtreibung, Sexualität und Gewalt gegen Frauen. Die Erkämpfung der einzelnen Rechte gestaltete sich nach wie vor zäh, schritt aber stetig voran. So wurde der Gleichstellungsartikel am 14. Juni 1981 in die Bundesverfassung aufgenommen [5], Mutterschaftsurlaub und der straffreie Schwangerschaftsabbruch liessen noch 20 Jahre länger auf sich warten.
Trotz dieser Errungenschaften setzte sich ein Grossteil dieser feministischen Bewegung in Europa und der Schweiz primär für die Anliegen von weissen, bürgerlichen cis Frauen ein. Neben diesem exklusiven Feminismus entstanden diverse intersektionalere Feminismen, die Frauen of Color, trans Frauen und lesbische Frauen nicht aus ihrem Feminismus ausschlossen. Leider finden diese exklusiven Feminismen auch heute immer noch Anklang und spiegeln sich beispielsweise in der TERF Bewegung wieder.
Trotz Niederlagen und dem mühseligen Vorankommen kämpfte die feministische Bewegung weiter. Zehn Jahre nach der Annahme des Gleichstellungsartikels, am 14. Juni 1991, organisierten Feminist*innen im Rahmen des Frauenstreiktages schweizweit die teilnehmer*innenträchtigsten Demonstrationen seit dem Generalstreik von 1918.(11) 500‘000 FLINTA-Personen und zahlreiche solidarische cis [6] Männer gingen auf die Strasse, um für Forderungen wie die Lohngleichheit und Vereinbarkeit von Erwerbs- und Hausarbeit zu kämpfen. Die Fristenlösung zur Entkriminalisierung von Abtreibungen wurde 2002 per Volksabstimmung angenommen, ebenso 2004 das Modell einer Mutterschaftsversicherung. Mit den Fortschritten wurde die rechtliche (nicht aber gesellschaftliche) Gleichberechtigung von Männern und Frauen zu grösseren Teilen erreicht, weshalb sich der Glaube, dass der Feminismus seine Ziele erreicht habe und obsolet sei, in der Bevölkerung und unter liberalen Feminist*innen schnell verbreiten konnte. Die rechtliche Gleichstellung von genderqueeren und trans Menschen lässt noch immer auf sich warten. Aus Widerstand gegen den liberalen Feminismus zeichnete sich in den 1990er Jahren die dritte Welle der Frauenbewegung ab, die sich gegen diesen Antifeminismus stellte und die Ideen der zweiten Welle auf moderne Umstände angepasst fortführte.
Mit dem feministischen Streik von 2019 gab es, rund 30 Jahre nach dem ersten Frauenstreik, ein Wiedererwachen und Erstarken der feministischen Bewegung in der Schweiz. Die Forderungen “Lohn, Zeit, Respekt” bildeten am 14. Juni 2019 eine gemeinsame Basis der dutzenden lokalen Streikkollektive, Gewerkschaften und linken Parteien, die erneut rund eine halbe Million Menschen auf die Strasse mobilisieren konnten. Nicht zuletzt als Folge dieser Mobilisierung gewannen verschiedene feministische Kämpfe in der Politik und der Wirtschaft, auch in bürgerlichen Kreisen, an Relevanz. Durch die Arbeit und Vernetzung in den Kollektiven gewann der Prozess und das Streben nach einem intersektionalen Feminismus, der nicht nur weisse, bürgerliche cis Frauen berücksichtigt in der feministischen Bewegung der Schweiz an Bedeutung.
Patriarchat und Kapitalismus: eine Verknüpfung sondergleichen
Es gibt nicht den einen Feminismus, sondern eher verschiedene Feminismen und feministische Strömungen, die sich grundlegend unterscheiden können. Während beispielsweise liberale Feminismen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse nicht verändern wollen, streben sozialistische und marxistische Feminist*innen danach, jegliche Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen, allen voran den Kapitalismus, zu überwinden. Es gibt in den sozialistisch feministischen Strömungen diverse Theorien zur Entstehung des Patriarchats, sowie zum Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Patriarchat. Eine grundlegende Frage ist dabei, ob das Patriarchat ein eigenständiges System innerhalb des Kapitalismus sei. Es lassen sich diverse soziale Phänomene beschreiben, bei denen ein Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Geschlechterunterdrückung besteht. Eine theoretische Erklärung dafür zu finden, weshalb im Allgemeinen ein Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Geschlechterunterdrückung besteht, erweist sich als schwieriger. Die folgenden linken Feminismustheorien stellen verschiedene Hypothesen dazu auf:
Laut der dual oder triple system theory sind Geschlechterverhältnisse ein eigenständiges System. Dieses System der Geschlechterverhältnisse ist mit dem Kapitalismus verflochten. Durch die Verflechtung des Kapitalismus und der Geschlechterverhältnisse entsteht eine Wechselwirkung. Das heisst, Geschlechterverhältnisse beeinflussen Klassenverhältnisse und umgekehrt.
Diese Theorie drückt ein streng ökonomisches Verständnis von Klassenverhältnissen aus. Erst die Interaktion mit dem Patriarchat und dem Rassismus verleihen den Klassenverhältnissen eine Dimension, die über die rein wirtschaftliche Ausbeutung hinausgeht.(12)
Die Hypothese des «gleichgültigen Kapitalismus» geht davon aus, dass Unterdrückung und Geschlechterungleichheit ein Überbleibsel einer früheren Zeit sind. Nach dieser Theorie stammen Unterdrückung und Geschlechterungleichheit von der patriarchalen Organisation der Produktion, die zu einer starren geschlechtlichen Arbeitsteilung führte. Der Kapitalismus ist in dieser Theorie dem Patriarchat gegenüber gleichgültig und könnte auch ohne Geschlechterunterdrückung auskommen. Gemäss dieser Theorie nutzt der Kapitalismus die Geschlechterungleichheit, wenn sie für ihn nützlich ist und bringt sie in Krise, wenn sie ihm schadet.
Die linke Feminismustheorie «unitary theory» setzt am richtigen Punkt an: Patriarchale Systeme existieren im Kapitalismus nicht völlig unabhängig vom Wirtschaftssystem. Die unitary theory erklärt Geschlechterunterdrückung nicht rein wirtschaftlich oder sieht sie als direkte, mechanische Folge des Kapitalismus. Kapitalismus wird in der unitary theory nicht nur als Wirtschaftssystem angesehen, sondern als komplexes und gegliedertes Gesellschaftssystem, welches in sich Ausbeutungs-, Herrschafts- und Entfremdungsbeziehungen trägt. Die kapitalistische Akkumulation und Ausbeutung führt ständig zur Entstehung, Aufrechterhaltung und Transformation von hierarchischen Beziehungen und Unterdrückungsformen. Die Überwindung des Kapitalismus reicht folglich nicht aus, um auch patriarchale Strukturen zu zerstören.
Die Verflechtung zwischen Kapitalismus und Patriarchat zeigt sich unter anderem an der Dynamik der Care-Arbeit, die mehrheitlich von Frauen geleistet wird. Denn die unbezahlte oder sehr schlecht bezahlte Care-Arbeit - das Erziehen von Kindern, die Pflege von kranken und älteren Personen, das Verrichten von Hausarbeit, Kochen, Putzen - ist für den Kapitalismus überlebensnotwendig. Marx ging davon aus, dass das, was er «Reproduktionsarbeit» nannte, in erster Linie dem Erhalt der Lohnarbeit diene: Eine kapitalistische Gesellschaft braucht die Reproduktionsarbeit, um die arbeitende Bevölkerung zu «erhalten» und es anderen Mitgliedern der Gesellschaft zu ermöglichen, arbeiten zu können. Da Marx in seinen Werken die Grundlagen für das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft anschaute, fehlt in seiner Analyse die Folge der Verschiebung der Reproduktionsarbeit in den privaten Bereich, nämlich ihre fehlende gesellschaftliche Anerkennung. Es ist jedoch klar, dass die Care-Arbeit keineswegs am Rande des kapitalistischen Systems steht, sondern zu dessen Fundament gehört. Der Kapitalismus kann ohne unbezahlte Care-Arbeit nicht existieren.[7]
Die feministische Ökonomin Mascha Madörin hat aufgezeigt, dass in der Schweiz – und das ist im internationalen Vergleich nicht anders – die geleistete unbezahlte Sorgearbeit die geleistete Erwerbsarbeit bei weitem übersteigt. Wenn die grösstenteils Frauen, welche diese Sorgearbeit leisten, dafür marktüblich entlohnt würden, würde das 242 Milliarden Franken kosten.(13) Das entspricht etwa einem Drittel des BIP. Der Kapitalismus und das Patriarchat bedingen sich zwar gegenseitig, aber eine Abschaffung des Kapitalismus bedeutet nicht automatisch die Befreiung aller Geschlechter. Denn ein Kampf, der sich lediglich um die bezahlte Lohnarbeit dreht, ist reaktionär und führt nur zur Befreiung derjenigen, die bereits heute in der vergleichsweise privilegierten Position sind, Geld für ihre Arbeit zu erhalten.
Scheinlösungen im bürgerlichen Feminismus
Der bürgerliche Feminismus sieht die Antwort auf das Problem der Aufteilung der Care-Arbeit in der individuellen Zeiteinteilung.(14) Dabei wird von bürgerlichen Feminist*innen oft auf die Auslagerung der eigenen Care-Arbeit wie Reinigung, Kindererziehung und Haushaltsarbeiten auf private Angestellte gesetzt. Doch die Arbeitsbedingungen im bezahlten Care-Arbeit-Sektor sind oft prekär, der ganze Pflege- und Betreuungssektor ist von einem gravierenden Personalmangel und massiven Verteuerungen betroffen. Care-Arbeit auf schlecht bezahlte Arbeiter*innen zu verlagern, ist eine Grundlage des bürgerlichen Feminismus. Dieser schafft Hierarchien zwischen jenen Frauen, die es sich leisten können, innerhalb des kapitalistischen Systems wirtschaftliche und soziale Gleichstellung mit den Männern zu erreichen, und jenen Frauen, denen das nicht möglich ist. Nebst den schlechten Arbeitsbedingungen sind im Care-Sektor oft Migrant*innen und Sans- Papiers tätig, die sich in einer noch prekäreren Situation befinden. Viele Sans- Papier-Frauen arbeiten in Privathaushalten.(15) Die Kriminalisierung durch ihren nicht vorhandenen Aufenthaltsstatus setzt insbesondere Sans-Papier-Frauen illegalen Arbeitsverhältnissen und krasser Ausbeutung aus, gegen welche sie sich kaum wehren können.
Bürgerliche Feminist*innen halten den Fakt, dass die Erwerbstätigkeit der Frauen seit den 1970er Jahren stetig steigt, als grossen feministischen Fortschritt hoch. Selbst wenn diese bei vielen Frauen zu einer höheren finanziellen Unabhängigkeit und dadurch zu einer grösseren gesellschaftlichen Freiheit geführt hat, ist diese Entwicklung durchaus kritisch zu betrachten.(16) Auch wenn Frauen nun vermehrt erwerbstätig sind, arbeiten sie mehrheitlich in Teilzeitanstellung und befinden sich so in einem benachteiligten Arbeitsverhältnis. Ausserdem sind berufstätige Frauen heute meist mit einer enormen Doppelbelastung konfrontiert: Das Ausmass der unbezahlten Care-Arbeit, welche sie leisten, ist fast unverändert hoch und die Gesamtheit der geleisteten unbezahlten und bezahlten Arbeit ist entsprechend höher. Im Jahr 2020 verdienten Frauen in der Schweiz pro Kopf durchschnittlich 1’500 Franken pro Monat weniger als Männer.(17) Das «Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Mann und Frau» unterscheidet häufig zwischen einem «erklärbaren» und einem «nicht erklärbaren» Anteil an der Lohndifferenz. Der sogenannte «erklärbare» Lohnunterschied rührt daher, dass viele Frauen in Branchen wie dem Gesundheitsbereich arbeiten und dort weniger verdienen, dass viele Frauen Teilzeit arbeiten und dass viele Berufe im Niedriglohnsektor häufig traditionell weiblich konnotiert sind – darunter etwa der Detailhandel, die Gastronomie, die Reinigungsbranche sowie Pflegeberufe. Nicht erklärbar seien hingegen nur Lohnunterschiede von Frauen und Männern im gleichen Job. Diese “logischen Erklärungen” sind auf patriarchale Diskriminierungsstrukturen zurückzuführen. Ob erklärbar oder nicht erklärbar, es gibt keine Rechtfertigung für Lohnunterschiede. Deshalb ist diese statistische Unterscheidung problematisch. Dass mehr als die Hälfte der erwerbstätigen Frauen Teilzeit arbeitet – und nur 20% der arbeitenden Männer – ist kein Zufall: Frauen übernehmen nach wie vor die Hauptverantwortung bei der Kinder- und Haushaltsbetreuung.
Die logische Folge des Lohngefälles ist dann auch ein Rentengefälle, der sogenannte «Gender Pension Pay Gap». Dieses Gefälle trifft mehrfachdiskriminierte Menschen besonders stark – Migrant*innen, die nicht während ihres gesamten Erwerbslebens in der Schweiz Beiträge zahlen konnten oder FLINTAs mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten, die nicht ihr ganzes Leben so arbeiten konnten, wie von diesem System verlangt wird, um nur zwei Beispiele zu nennen. Oft sind es Hausfrauen, die jährlich bloss einen Mindestbeitrag in die AHV einzahlen können und deshalb auch eine Minimalrente oder eine verhältnismässig tiefere Rente erhalten. Den Frauen werden in der Schweiz durchschnittlich 37% tiefere Renten ausbezahlt als Männern.(18) Das liegt vor allem daran, dass Frauen viel weniger in die zweite Säule einzahlen können als Männer: Frauen laufen eher Gefahr, den Mindestbetrag (“Koordinationsabzug”) eines Jahreslohnes von circa 22’000 Franken nicht zu erreichen. Teilzeitarbeit, Erwerbsunterbrüche und vergleichsweise tiefer Lohn sind ausschlaggebende Faktoren für die unterschiedlich hohen Renten. Dies führt dazu, dass Frauen in der Schweiz überproportional stark von Altersarmut betroffen sind - auch das ist eine Folge der strukturellen Unterdrückung.
Grundsätzlich liegt der Kern des bürgerlichen Feminismus in der liberalen Doktrin der Selbstverwirklichung. Diese geschieht auf Kosten anderer und ist angeblich nur der harten Arbeit der betreffenden Person zu verdanken.
Der bürgerliche Feminismus fordert Frauen daher auf, die "gläserne Decke" zu durchbrechen und genauso wie Männer in Machtpositionen zu kommen. Frauen werden Beispiele von erfolgreichen Frauen als Inspiration angepriesen, wobei ignoriert wird, dass der Erfolg von Unternehmerinnen beispielsweise auf der Ausbeutung anderer beruht und daher naturgemäß nur einer kleinen Gruppe von privilegierten Personen zugänglich ist. Der bürgerliche Feminismus stellt also keineswegs die bestehenden Machtverhältnisse und -strukturen in Frage, sondern fördert die Gleichstellung von Frauen, die der hegemonialen Norm entsprechen, innerhalb eines Systems, das nach wie vor kapitalistisch, rassistisch, heteronormativ und binär ist.
Perspektiven der Care-Gesellschaft
Um eine gerechte Aufteilung der Care-Arbeit, ohne Doppelbelastung und ohne Auslagerung zu erreichen, braucht es einen Systemwandel. Die Care-Arbeit muss weg von der individuellen Verantwortung und zu einer gesellschaftlichen Aufgabe werden. Die prekären Arbeitsbedingungen in der bezahlten Care-Arbeit müssen massiv verbessert und das Gesundheitswesen, sowie die Betreuungsstrukturen ausgebaut werden. Projekte wie generationenübergreifendes Wohnen können dazu beitragen, Care-Arbeit zu kollektivieren und gerechter zu verteilen. Aber einzelne Strukturen und Projekte reichen nicht. Care-Arbeit, ob bezahlt oder unbezahlt, ist enorm zeitintensiv. Die Optimierungs- und Profitmaximierungslogik des Kapitalismus lässt sich nicht auf die Care-Arbeit anwenden. Care-Arbeit ist zentral für unsere Lebensqualität und darf nicht weiter individualisiert und privatisiert werden, sondern muss gemeinschaftlich getragen werden.
Die Kollektivierung der Care-Arbeit muss durch die Auflösung der Kernfamilie erfolgen. Denn in diesem Familienmodel ist die enorme Arbeitslast, die die Erziehung eines oder mehrerer Kinder mit sich bringt, auf nur ein bis zwei Personen verteilt.
Gleichzeitig ist der familiäre Rahmen, der den Eltern absolute Macht über die Kinder verleiht, ein günstigter Ort für Missbrauch. Die Familie ist ein geschlossener Raum, in dem Gewalt legitimiert wird, die von angeblich "gewöhnlicher" erzieherischer Gewalt bis hin zu schwerstem Missbrauch reicht.
Eine Care-Gesellschaft muss die Kindererziehung kollektivieren, um Eltern eine tragbarere Belastung zu ermöglichen und Kindern die Möglichkeit zu geben, sich in einem offenen und wohlwollenden Raum zu entwickeln und vielfältigen Erwachsenenmodellen ausgesetzt zu sein.
Damit die unbezahlte Care-Arbeit in Zukunft allerdings gleichmässig auf den Schultern aller Geschlechter verteilt werden kann, braucht es für einen grundlegenden, feministischen Wandel unserer Gesellschaft auch einen radikalen wirtschaftlichen Wandel. Denn die Massnahmen, die wir dafür brauchen, richten sich gegen das Interesse der kapitalistischen herrschenden Klasse. Für eine Verwirklichung dieser Vision brauchen wir also eine sozialistische Wirtschaftsordnung, welche im Interesse der Gesamtbevölkerung funktioniert. Gleichzeitig kämpfen wir innerhalb des aktuellen Systems für diese Verbesserungen, auch wenn dies kleinere Fortschritte bedeutet, als wir mit einer demokratischen Wirtschaft umsetzen könnten. Dazu gehören Massnahmen wie die Arbeitszeitverkürzung bei gleichbleibendem Lohn, eine genügend lange und vollständig vergütete Elternzeit für alle Elternteile, ein Mindestlohn und die Durchsetzung von Lohngleichheit. [8]
Die Gewaltexzesse des Patriarchats
Das Patriarchat äussert sich in verschiedensten Formen von Unterdrückung und Diskriminierung, wobei physische und psychische Gewalt zu den unmittelbarsten Auswirkungen gehören. Im patriarchalen Kapitalismus ergibt sich die Vormachtstellung der Männer traditionell aus dem Lohnpatriarchat. Das bedeutet, dass nur der Mann einer bezahlten Arbeit nachgeht und der Rest der Familie folglich finanziell von ihm abhängig ist. Wenn dieses Abhängigkeitsverhältnis jedoch nicht ausreicht, um die Dominanz des Mannes innerhalb der Familie zu festigen, kann dieser stattdessen auf Gewalt zurückgreifen. Die zunehmende Eingliederung von Frauen in den Arbeitsmarkt in den letzten Jahrzehnten in Verbindung mit den Wirtschaftskrisen, die wir durchlebt haben, hat zu einem Zusammenbruch des Lohnpatriarchats geführt. Das ist mit ein Grund dafür, warum diese Gewalt heute so präsent ist.
Neben FLINTA-Personen sind auch homosexuelle, bisexuelle oder queere Männer von Formen patriarchaler Gewalt betroffen. Tatsächlich beruht der patriarchale Kapitalismus auch auf einer starren binären Kategorisierung der Geschlechter und Heteronormativität. Diese Geschlechter werden naturalisiert, d.h. sie werden als natürlich dargestellt, obwohl sie einer historischen und sozialen Konstruktion entspringen.
Geschlechtssubversive Praktiken, die diese Natürlichkeit in Frage stellen, wie etwa Homosexualität, werden daher stark sanktioniert, da sie die Legitimität des hegemonialen Diskurses gefährden. Trans Frauen und transfeminine Menschen sind besonders stark von patriarchaler Gewalt betroffen. Wie andere Frauen werden sie von Männern als Ware betrachtet, die ihnen zur Verfügung steht. Das kommt jedoch besonders stark zum Ausdruck, weil trans Frauen und transfeminine Personen stark marginalisiert sind und über weniger Unterstützungsnetzwerke verfügen als cis Frauen, so dass Männer wissen, dass sie mit wenig Konsequenzen rechnen müssen, wenn sie Gewalt gegen sie ausüben. Gleichzeitig werden sie analog zu Homosexuellen bestraft, weil ihre bloße Existenz die unveränderliche Zugehörigkeit zu einem Geschlecht (insbesondere zum dominanten Geschlecht, den Männern) in Frage stellt.
Praktisch alle FLINTA-Personen erfahren in ihrem Leben Formen von sexualisierter Gewalt. Dazu gehören unter anderem sexuelle Belästigung, geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt. In einer Studie von Amnesty Schweiz gaben zwei Drittel aller befragten Frauen an, schon einmal eine Art von sexueller Belästigung erlebt zu haben.(19) Sogenannte Schlupfhäuser (auch Frauenhäuser genannt) agieren als Zufluchtsorte und bieten Betroffenen von körperlicher, psychischer und/oder sexualisierter Gewalt Schutz und Beratung und sind damit ein wichtiges Kriseninterventionsangebot. Heute müssen in Frauen- und Schlupfhäusern regelmässig Personen mangels Platz und Ressourcen weggewiesen werden, denn in der Schweiz stehen gerade einmal 300 Plätze zur Verfügung. Dieser Zustand ist unhaltbar und verstösst zudem gegen die Istanbul-Konvention. Die Expert*innengruppe des Europarats für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt fordert eine massiv höhere Finanzierung der Institutionen und die Schaffung von mindestens 860 Plätzen in Schlupfhäusern.(20) Zudem ist es zentral, dass die Schutzunterkünfte für alle patriarchal unterdrückten Personen zugänglich sind, neben cis Frauen also insbesondere auch für TINA (trans, inter, nonbinäre und agender) Personen. Das ist heute in vielen Schutzunterkünften nicht der Fall und TINA Personen, welche besonders stark von patriarchaler Gewalt betroffen sind, haben mangelhafte Unterstützungsmöglichkeiten, welche sie in Anspruch nehmen können. Des Weiteren ist gerade mal ein Schlupfhaus in der Schweiz barrierefrei, was sich unbedingt ändern muss.
Patriarchale und sexualisierte Gewalt ist zwar in vielen Formen strafrechtlich relevant, doch nur ein Bruchteil aller Sexualstraftäter*innen wird je für ihre Tat verurteilt oder überhaupt angezeigt. Die Reform des veralteten Sexualstrafrechts ist ein wichtiger Schritt. Denn das bisherige Gesetz setzte für den Tatbestand der Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung voraus, dass Betroffene widerstandsunfähig gemacht wurden, mit Gewalt bedroht werden oder sich aktiv körperlich zur Wehr setzen. Das ist für Betroffene allerdings oft nicht möglich, u.a. wegen dem sogenannten “Freezing-Effekt” [9]. Ausserdem basiert das schon längst überholte Gesetz auf veralteten, patriarchalen Vorstellungen davon, was unter einer Vergewaltigung und Sexualdelikten verstanden werden sollte. Dabei ist es eigentlich einfach: Sexuelle Handlungen ohne Zustimmung aller Beteiligten sind Gewalt, denn "nur Ja, heisst Ja"! Es ist wichtig, dass dieser Grundsatz im Gesetz verankert wird. Anzufügen ist, dass mit dem bisher geltenden Gesetz nur Personen mit Vulven eine Vergewaltigung strafrechtlich verfolgen konnten. Gemäss der neuen Gesetzesvorlage werden alle Formen der sexuellen Penetration gegen den Willen einer Person als Vergewaltigung anerkannt.
Doch mit Gesetzesreformen allein lassen sich grundlegende Probleme im Bereich der sexualisierten Gewalt nicht lösen. Bei Sexualdelikten handelt es sich oftmals um sogenannte “Vier-Augen-Delikte”. Entsprechend können Betroffene vor Gericht kaum beweisen, was geschehen ist und Strafverfahren sind für Betroffene oft aussichtslos. Ausserdem ist auch der Prozess und das Verfahren bei Sexualdelikten für Betroffene meist sehr belastend und potentiell retraumatisierend. Staatliche Institutionen wie Polizei und Justiz reproduzieren sexistische und patriarchale Strukturen. Bei Verfahren zu Sexualprozessen müssen sich Betroffene oft langen Befragungen aussetzen. Dabei kommt es im Prozess oft zu sogenanntem Victim Blaming [10], die Erfahrungen der Betroffenen werden angezweifelt und die Schuld wird in ihrem Verhalten gesucht. Es braucht einen grundlegend anderen Umgang der Behörden und Justiz im Bereich der Prozesse um sexualisierte Gewalt. Die Bekämpfung genau dieser Gewalt muss allerdings in erster Linie gesellschaftlich geführt werden. Diese Problematik ist systematisch. Durch das einfache Wegsperren von Täter*innen wird das Problem fälschlicherweise auf eine individuelle Ebene gestellt. Diese Täter*innen sind jedoch Kinder dieser Gesellschaft und das Problem muss entsprechend auch gesamtgesellschaftlich angegangen werden. Die grundlegenden Probleme im Bereich der sexualisierten und geschlechtsspezifischen Gewalt können also nicht durch strafrechtliche Mechanismen gelöst werden. Unsere Kritik am Strafsystem bleibt deshalb wichtig und kann vertieft in den entsprechenden Positionspapieren nachgelesen werden.
→ Gefängnissystem: Solidarität und Unterstützung statt Vergeltung
→ Rassismus erkennen und bekämpfen – in der Gesellschaft und der Linken
NI UNA MENOS - nicht eine weniger!
In der Schweiz wird alle zwei Wochen eine weiblich gelesene Person durch ihren Ehemann, Lebensgefährten, Ex-Partner, Bruder oder Sohn getötet. Jede Woche überlebt eine Frau einen versuchten Femizid. Weiblich gelesene Personen werden aber auch ausserhalb von Beziehungen Opfer von Femiziden. Statistiken beleuchten dazu auch nur das «Hellfeld» [11] der bekannt gewordenen Fälle von Gewalt und Tod, die Dunkelziffer ist also unbekannt. In der Schweiz gibt es keine offizielle Stelle, die Femizide aufzeichnet und eine Statistik über Tötungen aufgrund des Geschlechts führt.(21) Femizide sind keine Einzelfälle, sondern das Resultat und die Spitze des Eisbergs von struktureller patriarchaler Gewalt in unserer Gesellschaft. Die Folgen dieser patriarchalen und misogynen [12] Gesellschaftsstrukturen äussern sich auch in Form von organisierter patriarchaler Gewalt. Dies zeigt sich beispielsweise in der sogenannten “Incel-Community”, einer globalen und hochgefährlichen Ideologie, die sich aus einer international vernetzten Online-Gemeinschaft entwickelt hat und Teil einer breiteren reaktionären Bewegung ist. Diese Gemeinschaft zelebriert offen Gewalttaten an FLINTA-Personen. Darüber hinaus, gab es diverse Femizide und Attentate, die durch Anhänger der Incel-Community verübt wurden.(22)
Extreme Gruppierungen wie die “Incels” [13] verbreiten die Idee, dass Feminismus zu weit gegangen wäre und nun cis Männer darunter leiden würden. Ihrer Auffassung nach haben Männer ihre (verdiente) dominante Stellung in der Gesellschaft verloren. Konsequenz von diesem Statusverlust seien Dekadenz, “verweiblichte” cis Männer und eine Zerstörung der natürlichen Ordnung der Geschlechter. Incels sehen sich dabei als die grössten Verlierer und Frauen als boshafte Unterdrückerinnen, die den Männern durch den Feminismus den Zugang zu Sexualität, Liebe und Zuneigung verwehren. Incels orientieren sich an einem äusserst toxischen Männerbild, das im Widerspruch zu feministischen Fortschritten steht und streben dieses aktiv an.
Toxische Männlichkeit kann als männliches Verhalten beschrieben werden, das alle Mitglieder der Gesellschaft direkt oder indirekt schädigt. Darunter fallen Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Dominanz und eine erhöhte Gewaltbereitschaft, Queerfeindlichkeit und Mysogynie. Dieses Verhalten wird anerzogen und sozialisiert. Männlich sozialisierte Personen lernen so beispielsweise, dass Schwäche, Emotionen zeigen oder Hilfesuchen unmännlich wäre.(23)
Oftmals stammt “toxisch männliches” Verhalten auch aus Unsicherheit und dem Versuch, patriarchalen Männlichkeitsidealen zu entsprechen. Insbesondere heterosexuelle cis Männer sind anfällig für toxisch maskulines Verhalten. Auch queere Männer können toxisch männliche Verhaltensweisen aufzeigen, allerdings bestehen bei ihnen meist weniger extreme Tendenzen, da sie durch ihre Sexualität bereits mit dem klassisch patriarchalen Männerideal brechen. Unter den Folgen von toxischer Männlichkeit leiden nicht nur FLINTA-Personen, sondern auch cis Männer selbst. Denn die bestehenden Männlichkeitsideale und patriarchalen sozialen Normen führen oft auch zur Vernachlässigung von gesundheitlichen oder psychischen Erkrankungen, zu destruktiven Copingmechanismen und zu erhöhter Risiko- und Gewaltbereitschaft. Es ist also im Sinne von uns allen, patriarchale Rollenbilder zu hinterfragen, toxisch männliches Verhalten zu reflektieren und das ganze Konstrukt der sozialen Geschlechter zu überwinden.
Backlash und "Anti-Woke"-Bewegung
Wie bereits erwähnt, erleben wir derzeit einen massiven reaktionären Backlash. Dieses politisch organisierte Phänomen gewann Mitte der 2010er Jahre an Bedeutung. Es hat viele verschiedene Namen getragen, bezeichnet sich aber heute selbst als "Anti-Woke"-Bewegung. Diese Bewegung möchte einen früheren Zustand der gesellschaftlichen Machtverhältnisse gegen emanzipatorische Bewegungen verteidigen, die angeblich "zu weit" gegangen seien. Auch wenn die Anti-Woke-Bewegung in erster Linie eine rassistische Bewegung ist, laufen ihre Ziele der "Rassenreinheit" über die Notwendigkeit, den Körper von Frauen zu kontrollieren und die starre binäre Kategorisierung der Geschlechter zu erhalten. Sie zeigt sich darum zum Beispiel in Form von Initiativen gegen freiwillige Schwangerschaftsabbrüche, aber auch durch Angriffe auf das Recht auf medizinische Transitionen von trans Personen. Die gewalttätigste Erscheinungsform sind Terroristische Anschläge.
Kämpfe verbinden
Was die lesbische Schwarze Autorin und Marxistin Audre Lorde 1983 festhielt, gilt auch heute noch: “Ich bin nicht frei, solange noch eine einzige Frau unfrei ist, auch wenn sie ganz andere Fesseln trägt als ich.” Als Linke gilt es, diesen Satz in seiner Gesamtheit zu begreifen. Und das beginnt beim Verständnis der Verknüpfung des Kapitalismus mit Unterdrückungsstrukturen wie Rassismus, Ableismus, Seximus und Queerfeindlichkeit. Kimberlé Crenshaw vergleicht diese Verknüpfung in ihrem bekanntesten Essay (1989)(24) mit einer Kreuzung (intersection). Dabei soll aufgezeigt werden, dass sich diese Diskriminierungsformen nicht einfach addieren, sondern dass beim Aufeinandertreffen zweier oder mehrerer Formen eine neue Diskriminierungserfahrung entsteht. [14]
Häufig enden die linken queerfeministischen Analysen an diesem Punkt, wo sie eigentlich erst anfangen sollten. Denn der Ansatz der Intersektionalität ist keine fixfertige sozialistische Analyse, im Gegenteil: Intersektionalität erkennt lediglich, dass es verschiedene Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen gibt und dass diese sich überlagern und somit zu einer anderen Dimension an Unterdrückung führen können. Das Konzept lädt entsprechend leider auch zu einem neoliberalen und individualistischen Fazit ein. Spätestens seit neoliberale Regierungen wie die in Deutschland, “Intersektionalität” als go- to Begriff verwenden, müssen wir uns als sozialistische Kräfte hintersinnen.(25) Wir müssen den Unterschied zwischen Ausbeutung und Unterdrückung verstehen und folglich erkennen, dass race und Gender allein keine Diskriminierung verursacht, sondern historisch als Unterdrückungsmerkmale etabliert wurden. Klasse hingegen ist im marxistischen Sinne ein gesellschaftliches Verhältnis, das Produktion und Kapitalakkumulation gewährleistet.(26) Die Eigentumslosigkeit von Arbeiter*innen ist nicht nur Resultat der kapitalistischen Ausbeutung, sondern dessen Grundlage, historisch bedingt durch die ursprüngliche Kapitalakkumulation. Da die Arbeiter*innenklasse den gesellschaftlichen Reichtum produziert, könnten sie diese Produktion auch zusammen stoppen. Diese Macht des Kollektivs wird bei einer eindimensionalen Intersektionalitätsanalyse verschleiert, unter anderem da alle Arten der Ausbeutung, Diskriminierung und Unterdrückung fälschlicherweise gleichgesetzt werden. Beispielsweise werden Kategorien wie race und Gender als unbeweglich wahrgenommen und Klasse als Unterdrückungsgrund definiert. Ausbeutung und Unterdrückung werden somit fälschlicherweise gleichgesetzt. Gender muss jedoch genau so wie race als Instrument kapitalistischer Ausbeutung verstanden werden. Entsprechend müssen Klassenbewusstsein geschaffen und Kämpfe verbunden werden.
Für das Verständnis der Komplexität von Machtstrukturen ist es daher essentiell, dass wir Diskriminierungunsstrukturen wie Rassismus in eine feministische Analyse inkludieren. Rassifizierte FLINTA-Personen sind mehrdimensionalen Diskriminierungsformen ausgesetzt, die sich nicht selten stark unterscheiden. Dabei passiert ein Othering des Sexismus, was bedeutet, dass sich Sexismus, zusammen mit der Art und Weise, wie eine FLINTA-Person von Rassismus betroffen ist, unterscheidet.(27) Die agressiv-rassistischen und sexistischen Kampagnen der SVP, allen voran die “Burka-Debatte”, zeigen dies unter anderem auf. Kopftuchtragende Frauen werden als Opfer einer “Kultur” und deren Männer dargestellt.(28) Ziel sei es lediglich, sie “zu retten”, rassistischer Sexismus wird also als Charity-Projekt verkauft und auch als Legitimierung für (neo)koloniale und imperialistische Ausbeutung verwendet. Dabei passieren verschiedene Dinge: Nikabtragende Frauen werden entmündigt und als subjektlose Opfer dargestellt. Patriarchale Strukturen werden als Problem der “anderen” inszeniert. Das einzige Ziel dabei ist es, die komplette Macht und Kontrolle über den weiblichen Körper zu erlangen. Dies ist nur eines von vielen Beispielen eines Symptoms von spezifisch antimuslimischem rassistischem Sexismus. Auch gewisse weisse Feminist*innen verfallen noch immer dem White-Saviour-Komplex. Die postkoloniale sozialistische Feministin Chandra Talpade Mohanty beschreibt dies in ihrem berühmten Essay Under Western Eyes: Feminist Scholarship and Colonial Discourses (1984) als ein “Projekt” von westlichen Feminist*innen. Diese erschufen eine Kategorie der “Dritte-Welt-Frauen” als homogene Gruppe, für welche sie sprechen und sie somit auch retten könnten.(29) Dieser universalfeministische Anspruch ist exkludierend, diskriminierend und zu verurteilen.
Knüpfen wir an dieser Stelle an Audre Lordes Aussage an: “It is not our differences that divide us. It is our inability to recognize, accept, and celebrate those differences.”(30) Wir müssen folglich die verschiedenen Lebensrealitäten anerkennen und ihnen entsprechend Raum geben – also Kämpfe erbinden. Wir dürfen nicht für andere sprechen, alle FLINTA-Personen sollen in unseren Bewegungen Platz erhalten – Differenzen zwischen unseren Lebensrealitäten bestehen, doch sie trennen uns nicht. Nur so können wir die verschiedenen und in sich verknüpften Machtkonstrukte bekämpfen und überwinden.
Feministische Utopien zur Realität machen!
Wir kämpfen für eine Welt ohne kapitalistische und patriarchale Unterdrückung. Eine Welt, in der wir uns unabhängig von unserer Geschlechtsidentität, Sexualität, Hautfarbe und Herkunft frei entfalten können. Eine Welt, die solidarisch, antirassistisch, inklusiv und intersektional feministisch ist. Die Bekämpfung aller Formen von Unterdrückung, Diskriminierung und struktureller Gewalt sind für unsere feministischen Visionen unabdingbar. Von dieser Vision ist unsere Gesellschaft noch weit entfernt.
Unsere feministische Utopie ist eine Welt, in der die Geschlechterbinarität überwunden ist und in der sich jeder Mensch, frei von Ausbeutung, entfalten kann. Das erfordert eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft in mehreren Bereichen. Erstens wollen wir eine Gesellschaft, in der jeder Mensch die Freiheit hat, über seinen Körper zu verfügen. Darunter verstehen wir die Freiheit, den eigenen Körper nach Belieben, auf sichere und informierte Weise zu verändern. Wir verstehen darunter auch die Freiheit, konsensuelle Beziehungen mit Partner*innen unserer Wahl zu führen, ohne verurteilt zu werden, und eine informierte Sexualität zu leben, die auf Zustimmung und Kommunikation basiert. Genauso muss es aber auch die Freiheit geben, keine sexuellen Beziehungen zu haben, ohne dabei unter Druck gesetzt zu werden. Dazu braucht es Schutz, wenn diese Freiheiten nicht respektiert werden. Zu guter Letzt bedeutet die Freiheit, über den eigenen Körper zu verfügen, die Freiheit zu gebären und zu stillen, aber auch, dies nicht zu tun, einschließlich der Freiheit, eine Schwangerschaft jederzeit abzubrechen.
Ausserdem erfordert unsere Utopie die Überwindung der Geschlechterkategorien. Wie feministische Aktivisti*nnen spätestens seit Simone de Beauvoir ("Man wird nicht als Frau geboren") klargestellt haben, sind diese Kategorien nicht natürlich, sondern willkürlich: Sie dienen dazu, eine geschlechtliche Arbeitsteilung zu rechtfertigen. Unser sozialistisches Projekt will eine gerechte Arbeitsteilung zwischen allen Menschen, ohne sie einer Geschlechterkategorie zuordnen zu müssen.
Zu unsere Utopie gehört auch die Abschaffung der Institutionen Ehe und Familie und die Befreiung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Denn die Ehe ist, trotz Fortschritten in der Gesetzgebung, von Natur aus die staatliche Absicherung der Allmacht des Ehemannes über seine Ehefrau. Diese Institution ist unvereinbar mit einem emanzipatorischen Gesellschaftsprojekt. Die Abschaffung der Familie muss mit einer Kollektivierung der Kindererziehung einhergehen.
Doch auch innerhalb der JUSO und der gesamten feministischen Linken gibt es noch blinde Flecken und patriarchale Strukturen. Wir sind nicht immun gegen internalisierten Sexismus, Vorurteile und das Reproduzieren von Diskriminierungsstrukturen. Auch in linken Bewegungen gibt es Sexismus, Transmisogynie, Rassismus, Ableismus. Wir als Linke müssen uns auch intern aktiv mit diesen Themen auseinandersetzen, Betroffenen zuhören, sie unterstützen und ihre Stimmen verstärken. Nur so können wir effektive Präventionsarbeit leisten und Lernprozesse anstossen. Auch in der Linken gibt es Vorfälle von Diskriminierung oder sexualisierter Gewalt. Es ist unsere Pflicht, hinzuschauen und Strukturen zu schaffen, welche Betroffene statt Täter*innen schützen.
Eine faire Verteilung der Aufgaben ist auch in linken Strukturen leider nicht selbstverständlich. Wer übernimmt in Kollektiven und Vorständen welche Aufgaben- Wer schreibt Protokolle, organisiert Events, räumt nach Anlässen auf, wer kümmert sich um andere? Wer übernimmt die unsichtbare Arbeit, wer steht in der Öffentlichkeit? Wie viel Raum nehmen verschiedene Personen innerhalb der eigenen Strukturen ein? Wenn wir uns in der Linken ehrlich mit diesen Fragen auseinandersetzen, merken wir, dass auch bei uns oftmals Care-Arbeit und “unsichtbare” Aufgaben von FLINTA-Personen übernommen werden, cis Männer in Debatten tendenziell mehr Raum einnehmen. Nur indem wir diese Tendenzen benennen und selbstkritisch analysieren, können wir die Strukturen, welche sie verstärken und zementieren, durchbrechen.
Banden bilden
Zur kritischen Auseinandersetzung mit Diskriminierungsstrukturen in feministischen Räumen und Bewegungen gehört auch die Reflektion über deren Zugänglichkeit für marginalisierte Gruppen. Feministische Räume sind auch heute oft noch dominiert von weissen, privilegierten cis Frauen. In der feministischen Bewegung ist es zentral, dass die Anliegen von marginalisierten Gruppen, von TINA-Personen, People of Color und Menschen mit Behinderungen priorisiert werden und die Betroffenen selbst zu Wort kommen. Die Kämpfe von trans Personen in Bereichen wie dem Diskriminierungsschutz oder dem Kampf für körperliche Selbstbestimmung müssen Raum bekommen und solidarisch unterstützt werden – das muss über die Anpassung von Begriffen wie „Frauenstreik“ zu „feministischer Streik“ hinausgehen.
Um den Wandel in der Gesamtgesellschaft vorantreiben zu können, müssen Bündnisse zwischen feministisch-linken Strukturen entstehen. Eine Verzettelung dieser Strukturen bedeutet immer eine Schwächung unserer Schlagkraft. Spalterische Tendenzen müssen überwunden werden, denn unsere Stärke würde in der eigentlichen Grösse dieser Bewegung liegen. Nur eine geeinte feministische Linke kann die Massen auf die Strassen und zum Streiken mobilisieren.
Die feministischen Kämpfe, der Handlungsbedarf in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen und die damit einhergehenden Forderungen sind enorm umfangreich und können unmöglich in einem Positionspapier abgehandelt werden. Die untenstehenden Bereiche und Forderungen gehören zu den feministischen Kämpfen, die wir als JUSO aktuell im feministischen Diskurs priorisieren möchten.
Feministische Offensive, jetzt!
Uns bleibt nur Eines: wir müssen in die Offensive! Keine Bewegung in der Schweiz ist momentan so mobilisierungsfähig wie die feministische Bewegung. Das Streikjahr 2023 ist daher weichenstellend für die Zukunft. Die JUSO sieht sich als aktiver Teil dieser Bewegung und vertritt entsprechend folgende Forderungen.
Die effektive Bekämpfung von sexualisierter Gewalt und Diskriminierung
Praktisch alle FLINTA-Personen erleben in ihrem Leben sexualisierte Gewalt. Dazu gehören unter anderem sexuelle Belästigung, geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt. Es braucht strukturelle Massnahmen zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt:
- Feministische Aufklärungs- und Bildungsarbeit in den Schulen und Bildungseinrichtungen sowie antisexistische Weiterbildungen und Sensibilisierungsmassnahmen in Unternehmen aller Branchen, begleitet von schweizweiten feministischen Sensibilisierungskampagnen
- Einen massiven Ausbau von Schutz-, Beratungs- und Unterstützungsangeboten für Menschen aller Geschlechtsidentitäten durch Weiterbildung in bestehenden Institutionen und Bereitstellung von mehr finanziellen Ressourcen
- Den Ausbau von Plätzen und Ressourcen der Schutzunterkünfte für Personen, die von patriarchaler Gewalt betroffen sind
- Erhöhte Ressourcen und die Errichtung von Schutzunterkünften in allen Regionen, die spezifisch auf den Schutz und die Bedürfnisse von TINA-Personen ausgerichtet sind
- Präventionsmassnahmen zur Bekämpfung von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz und einen konsequenten Diskriminierungsschutz, welcher FLINTA-Personen und insbesondere trans Personen vor Diskriminierung und willkürlicher Kündigung am Arbeitsplatz schützt
- Die Erweiterung der Strafnorm gegen Rassismus (StGB Art. 261) um das Kriterium der Geschlechtsidentität und die Berücksichtigung systemischer Machtstrukturen als Voraussetzung für den Tatbestand der Diskriminierung
- "Nur Ja heisst Ja" - Regel im Sexualstrafrecht & Berücksichtigung deR Dynamik von “Freezing”
- Stärkung von Präventions- und “Täterarbeit”, also Verpflichtung zu Reflexion, Bildung bei Straftaten und Übergriffen
- Vollständige Umsetzung der Istanbul-Konvention in der Schweiz
Care-Arbeit gesellschaftlich neu organisieren
Nur, wenn alle mehr Zeit haben, Care-Arbeit zu leisten – und die Gesellschaft nicht mehr länger nur die Frauen in die Teilzeitarbeit drängt – können auch Männer endlich ihren gerechten Anteil an unbezahlter Sorgearbeit leisten. Die Arbeitszeitverkürzung ist eine feministische Forderung, eine der wichtigsten unserer Zeit: Zeit für Care-Arbeit und die nötige Wertschätzung dafür zu schaffen, das funktioniert in unserem heutigen System nicht. Es braucht dringend eine Aufwertung und Sichtbarmachung von bezahlter und unbezahlter Care-Arbeit, sowie einen Ausbau von gesellschaftlichen Care-Strukturen. Mittelfristig bedeutet das nichts weniger als einen radikalen Umbau sämtlicher Gesellschafts- und Wirtschaftsbereiche hin zu einer Care-Gesellschaft:
- Massive Investitionen in das Gesundheitswesen, Betreuungsstrukturen und die Ausbildung von Fachkräften für eine strukturelle Aufwertung von Care-Arbeit im formellen Arbeitssektor mit besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen
- Öffentlich-gesellschaftlich organisierte Care-Arbeit
- Senkung der Arbeitszeit auf 25 Stunden pro Woche bei gleichbleibendem Lohn - um mehr Zeit für Care-Arbeit, wie Hausarbeit und Kinderbetreuung, zu haben und diese gerechter verteilen zu können
- Care-Fonds mit ausreichend finanziellen Mitteln für einen umfassenden feministischen Umbau der Gesellschaft und einen massiven Ausbau der gesellschaftlichen Care-Strukturen
Kompromisslose körperliche und persönliche Selbstbestimmung
Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung ist eine der zentralen feministischen Forderungen und Errungenschaften. Dazu gehört neben dem Recht auf Abtreibung auch das Recht auf körperliche und medizinische Selbstbestimmung von trans und intergeschlechtlichen Personen. Diese elementaren Selbstbestimmungsrechte gilt es zu sichern:
- Zugang zu ergebnisoffenen Beratungs- und Unterstützungsangeboten für Schwangere und die garantierte Option sicherer, selbstbestimmter Schwangerschaftsabbrüche
- Kostenlose Verhütungsmittel und Tests auf sexuell übertragbare Krankheiten
- Die Verankerung des Rechts auf körperliche Selbstbestimmung - insbesondere des Rechts auf kostenlose selbstbestimmte Schwagerschaftsabbrüche - in der Bundesverfassung und die Streichung von Schwangerschaftsabbrüchen aus dem Strafgesetzbuch
- Den Zugang zu selbstbestimmter medizinischer und psychologischer Beratung und komplett durch die Krankenkasse finanzierte Behandlungen für trans Personen
- Das Verbot von medizinisch unnötigen Eingriffen an intergeschlechtlichen Babies
- Den Zugang zu professioneller und neutraler Beratung sowie Leistungen im Bereich der sexuellen Gesundheit, die Weiterentwicklung der Ausbildung für bestehendes und zukünftiges Personal sowie eine höhere Finanzierung der sexuellen Gesundheit
- Kurzfristig die Einführung der Möglichkeit eines dritten amtlichen Geschlechtseintrags und mittelfristig die Abschaffung des amtlichen Geschlechtseintrags
Feministische Offensive in der Berufswelt
Wir müssen in die Offensive bei der Situation der Arbeiter*innen am Arbeitsplatz. Die nötigen Massnahmen werden nicht vom Markt geregelt, wie sich manche bürgerliche Feminist*innen wünschen würden, denn Verbesserungen der Arbeitsrechte sind gegen das Interesse des Kapitals. Wir fordern vom Staat deswegen sofort folgende Massnahmen:
- Ausgebauten Schutz und Unterstützung von schwangeren Personen im Berufsleben während und nach der Schwangerschaft
- Effektive Bekämpfung von Lohndiskriminierung: Lohntransparenz in allen Bereichen und verpflichtende staatliche Lohndiskriminierungskontrollen in Unternehmen
- Eine intersektionale Untersuchung der Lohndiskriminierung, die z.B. die Lohnunterschiede bei People of Color, queeren Personen oder Menschen mit Behinderungen untersucht
- Die flächendeckende Einführung eines Mindestlohns von 5000 CHF, der an die Teuerung gekoppelt ist
- Ausbau der arbeitsrechtlichen Schutzmassnahmen von Menschen, die in oft prekären und schlecht regulierten Arbeitsverhältnissen wie der Reinigung und der Pflege in Privathaushalten tätig sind
- Längere Lohnfortzahlungen bei Krankheit und bei medizinischen Eingriffen, wo heute insbesondere trans Menschen in einigen Kantonen zu wenig geschützt sind
- Eine zweijährige Elternzeit für alle Elternteile mit einer Vergütung, die dem gesamten Einkommen entspricht
- Abschaffung der zweiten und dritten Säule und Einführung einer solidarisch finanzierten Volkspension
- Regularisierung aller Sans-Papiers und Gewährleistung gleicher Arbeits- und Aufenthaltsbedingungen für alle Menschen
Fussnoten:
[1] An dieser Stelle muss beachtet werden, dass wir im Rahmen eines Positionspapiers der Grösse und Vielfalt dieser Thematik niemals gerecht werden können.
[2] Als Suffragetten bezeichnet man im 20. Jh. organisierte Frauenrechtlerinnen aus Grossbritannien und den USA.
[3] z.B: Bund Schweizerischer Frauenvereine, Schweizerischer Verband für Frauenstimmrecht.
[4] Darunter der Verband deutschschweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, der 1912 zum grössten schweizerischen Frauenverband wurde; Elisabeth Joris: "Sittlichkeitsbewegung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 24.01.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016444/2013-01-24/, konsultiert am 18.04.2023.
[5] Das Gleichstellungsgesetz ist erst im Jahr 1996 in Kraft getreten.
[6] Cisgender Personen identifizieren sich mit dem Geschlecht, dass ihnen bei Geburt zugeteilt worden ist.
[7] In unserem Grundlagenpapier Care-Arbeit führen wir die Thematik und unsere konkreten Forderungen dazu weiter aus: https://juso.ch/de/standpunkte/feminismus/grundlagenpapier-care-arbeit/
[8] Zur weiteren Ausführung der Care-Gesellschaft, siehe: Denknetz, Perspektive Care-Gesellschaft: Plädoyer für eine Erneuerung des Gesellschaftsvertrags – lokal und global. Online unter: https://www.denknetz.ch/care-gesellschaft/
[9] Freezing bezeichnet das Erstarren von Betroffenen während ihnen sexualisierte Gewalt widerfährt.
[10] Victim Blaming bei sexualisierter Gewalt beschreibt das Phänomen, bei welchem die Verantwortung für einen Übergriff dem Opfer anstatt der Tatperson zugeschrieben wird.
[11] Das in den amtlichen Polizeistatistiken dargestellte, offiziell bekannt gewordene und registrierte Kriminalitätsgeschehen wird als Hellfeld bezeichnet. Dies sind alle Straftaten, die der Polizei durch eigene Ermittlungen oder Anzeige bekannt werden und die in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) auftauchen. Der Anteil der gesamten Kriminalität, der nicht registriert wird, wird als Dunkelfeld bezeichnet.
[12] Unter Misogynie versteht man die Abwertung und den Hass von Frauen und/oder weiblich gelesenen Personen.
[13] Incel ist die Selbstbezeichnung einer in den USA entstandenen Internet- Subkultur von heterosexuellen Männern, die nach Eigenaussage unfreiwillig keinen Geschlechtsverkehr bzw. keine romantische Beziehung haben und der Ideologie einer hegemonialen Männlichkeit anhängen.
[14] Crenshaw zeigt dies mit einem Gerichtsfall auf: bei einer Massenentlassung in einer GM-Fabrik wurden fast ausschliesslich Schwarze Frauen entlassen. Das Gericht erachtete dies als weder rassistisch noch sexistisch, da Schwarze Männer und weisse Frauen von den Entlassungen verschont blieben.
[15] In diesem Positionspapier werden viele Studien zitiert, die nur Männer und Frauen erfassen und TINA-Personen völlig ausblenden. Als Folge davon, wird häufig nur von Frauen gesprochen, weil unklar ist, inwiefern TINA-Personen von statistisch erfassbaren Ungleichheiten, beispielsweise bei der Aufteilung der Care-Arbeit, betroffen sind. Uns ist aber bewusst, dass nicht nur Frauen von diesen Ungleichheiten betroffen sind.
Quellen:
(1) Bundesamt für Statistik (BFS): Lohnstrukturerhebung LSE 2020, Bern 2022.
(2) https://www.ebg.admin.ch/ebg/de/home/themen/haeusliche-gewalt/statistik.html
(3) Saadia Zahidi, WEF: Global Gender Gap Report 2021. Insight Report, Genf 2021.
(4) Eva Cyba: Patriarchat. Wandel und Aktualität, in: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methode, Empirie 2., erweiterte und aktualisierte Auflage, Ruth Becker (et al.), [Hrsg], Wiesbaden 2008, S. 17
(5) Sylvia Walby: Theorizing Patriarchy, Cambridge 1991, S. 20.
(6) Bundesamt für Statistik (BFS): Gesamter geschlechtsspezifischer Erwerbs- einkommensunterschied (GOEG), Bern 2023. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/gleichstellung-frau-mann/einkommen/goeg.html
(7) Olympe de Gouges - Die Rechte der Frau, 1791.
(8) Elisabeth Joris: "Frauenbewegung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 06.12.2022. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016497/2022-12-06/, konsultiert am 18.04.2023.
(9) Elisabeth Joris: Stimmrecht, Kochtopf, gleiche Löhne, in: Widerspruch 37 (2018), S. 1.
(10) https://www.landesmuseum.ch/landesmuseum/ihr-besuch/schulen/2018/der-landesstreik-1918.pdf
(11) Brigitte Studer: "Frauenstreik (1991)", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 12.06.2019. Online: https://hls-dhs- dss.ch/de/articles/058286/2019-06-12/, konsultiert am 24.04.2023.
(12) Walby, Sylvia (1990): Theorizing Patriarchy. New Jersey: Wiley-Blackwell.
(13) Madörin, Mascha: Neoliberalismus und die Reorganisation der Care-Arbeit. Eine Forschungsskizze, in: Denknetz Jahrbuch 2007.
(14) Sarah Schilliger, Who Cares?: Care-Arbeit im neoliberalen Geschlechterregime, in: Widerspruch Vol. 56, S. 100.
(15) Bea Schwager, Prekäres Arbeiten als Sans-Papiers im Privathaushalt, 2013, S. 166.
(16) Sarah Schilliger, Who Cares?: Care-Arbeit im neoliberalen Geschlechterregime, in: Widerspruch Vol. 56, S. 93.
(17) https://www.ebg.admin.ch/ebg/de/home/themen/arbeit/lohngleichheit/grundlagen-/zahlen-und-fakten.html
(18) Eidgenössisches Departement des Innern: Gender Pension Gap in der Schweiz, Bern 2015.
(19) https://www.amnesty.ch/fr/themes/droits-des-femmes/violence-sexuelle/docs/2019/violences-sexuelles-en-suisse/sexuelle_gewalt_amnesty_international_gfs-bericht.pdf
(20) https://www.coe.int/t/dg2/equality/domesticviolencecampaign/Source/Final_Act-ivity_Report.pdf
(21) https://www.stopfemizid.ch/deutsch#de1
(22) Michael Vallerga, Eileen L. Zurbriggen, Hegemonic masculinities in the ‘Manosphere’: A thematic analysis of beliefs about men and women on The Red Pill and Incel
(23) Urwin, J. (2017). Boys don't cry. Identität, Gefühl und Männlichkeit. Hamburg: Edition Nautilus GmbH.
(24) Kimberlé W. Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, in: Chicago Legal Forum (no 1 / 1989), Chicago 1989, S. 139-167.
(25) Eleonora Roldán Mendívil/ Bafta Sabo: Intersektionalität, Identität und Marxismus, in: Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus, Berlin2 (2022), S. 102.
(26) Ebd. 108-120.
(27) Ina Kerner: XX, S. 44.
(28) Andreas Tunger-Zanetti: Verhüllung. Die Burka-Debatte in der Schweiz, Zürich 2021.
(29) Chandra Talpade Mohanty: Under Western Eyes. Feminist Scholarship and Colonial Discourses, in: Chandra Talpade Mohanty (et al.) [Hrsg.]: Third World Women and the Politics of Feminism, Bloomington, S. 51-80.
(30) Audre Lorde: Sister Outsider
Hier das ganze Papier zum herunterladen: