Ohne Bewegungen keinen Sozialismus

25.11.2021

Positionspapier der JUSO Schweiz verabschiedet an der Delegiertenversammlung vom 14. November 2021 (Sissach, Baselland)


1. Einführung

Die Welt steht in Flammen, Menschen werden unterdrückt und der Grossteil der Gesellschaft scheint nichts am Status Quo ändern zu wollen. Als Sozialist*innen müssen wir uns damit befassen, wer diese kapitalistische und patriarchale System wie überwinden kann. Denn erst das Handeln der Masse verändert den gesellschaftlichen Zustand, in welchem man sich befindet, und nicht selten geschehen diese Handlungen in Form von politischen und sozialen Bewegungen. Kurz gesagt: Bewegungen sind essenziell für den Fortbestand und die Weiterentwicklung von Demokratien[1]. Dieses Positionspapier setzt sich deshalb mit der Geschichte, der Form, der Notwendigkeit und den Handlungsmöglichkeiten von Bewegungen auseinander. Um dieses Papier einigermassen kompakt zu halten und aufgrund des politischen Handlungsspielraums der JUSO Schweiz werden v.a. Schweizer Bewegungen, deren Ursprünge und deren Auswirkungen thematisiert.

2. Eine kurze Geschichte der Schweizer Bewegungen

Gerade im 19., 20. und im 21. Jahrhundert prägten soziale Bewegungen die Schweizer Politik massgebend. In den 1840er-Jahren formierte sich auch hierzulande die Arbeiter*innenbewegung aufgrund des neu gewonnenen Klassenverständnisses der Handwerksgesellen und schnell gewannen auch Intellektuelle beträchtlichen Einfluss in der Bewegung. Genauso früh begann die internationale Vernetzung dieser Bewegung. Als Mittel setzten die Arbeiter*innen immer wieder auf Streiks, um ihre Ziele zu erreichen. In dieser Bewegung agierten verschiedenste Strömungen, von kommunistischen, sozialistischen, über anarchistischen bis hin zu christlich-sozialen. So lässt sich auch erklären, dass daraus verschiedenste Organisationsformen, Verbände und Vereine entstanden. Nennenswert sind die Zusammenschlüsse 1834 unter dem zunächst Genfer Grütliverein, 1880 jene des Schweizerischen Gewerkschaftbunds (SGB) und 1888 die Gründung der SP.[2] Als einer der prägendsten Momente dieser Bewegung ist der Landesstreik 1918 zu nennen. Die dadurch erwirkte massive Arbeitszeitverkürzung auf 48h pro Woche, sowie die Einführung von Gesamtarbeitsverträgen und die spätere Schaffung der AHV/IV und damit die sozialpolitische Wende in der Schweiz können als grösste Errungenschaften dieses Streiks gezählt werden.[3]

Die Friedensbewegung

Eine weitere prägende Bewegung war die Friedensbewegung in der Schweiz. Auch sie blickt auf eine lange Tradition zurück und auch Teile dieser pazifistischen Strömung suchten bereits in den 1880er-Jahren internationalen Anschluss. Im ersten Weltkrieg wurde die Bewegung mit ihrer Dienstverweigerungsausrichtung als Bedrohung der Landesverteidigung wahrgenommen. Auch hier entstanden unentwegt Vereine und Gesellschaften, die diese Bestrebungen unterstützten. Darunter 1895 die Société de la paix suisse und die Schweizer Sektion der Internationalen Frauenliga 1915. Nach dem Zweiten Weltkrieg und aufgrund der atomaren Bedrohung erlebte die Friedensbewegung einen weiteren Aufschwung und Initiativen zur Begrenzung der Militärausgaben wurden lanciert.[4] 1958 diskutierte die politische Schweiz über eine atomare Aufrüstung, was die pazifistische und die neue Friedensbewegung vereinte und in der Antiatombewegung mündete. Deren Mittel waren vor allem Aktionen und Initiativen. Ab 1972 beschäftigte sich die Friedensbewegung vermehrt mit Themen der Umwelt und deren Verschmutzung, auch wenn der Kampf gegen Atomwaffen besonders in den 80er-Jahren immer noch präsent war. 1982 gründete sich denn auch u.a. aus der JUSO heraus die «Gruppe Schweiz ohne Armee» (GSoA).[5]

Die ökologische Bewegung

Der Beschäftigung mit ökologischen Themen entsprang die ökologische Bewegung, die zunächst Naturschutzbewegung genannt wurde. Ihre politische Ausrichtung reichte von patriotischer Naturerhaltungsfragen, über Skepsis gegenüber Modernisierung wie z.B. Wasserwerken und Massenkultur bis hin zu ersten Ansätzen der ökologischen Wachstumskritik. Auch grosse Teile dieser Bewegung mündeten aufgrund der Ölkrisen und der wirtschaftlichen Rezession der 70er Jahren in der Antiatombewegung (auch Anti-AKW-Bewegung). Diese besetzte 1975 das Gelände des geplanten AKWs in Kaiseraugst und lancierten zudem diverse ökologisch orientierte Initiativen.[6] Aus diesen ökologischen Bewegungen, sowie weiteren Impulsen gründete sich 1983 die Föderation der Grünen Parteien in der Schweiz, die 1986 in Grüne Partei Schweiz umbenannt wurde.[7]

Weitere Bewegungen

Zu nennen seien auch die Demokratische Bewegungen, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis anfangs des 20. Jahrhunderts dafür sorgten, dass auf kantonaler Ebene das fakultative Referendum und das Initiativrecht eingeführt wurde und auf eidgenössischer Ebene die repräsentative Demokratie in eine halbdirekte umgewandelt wurde.[8] Ebenfalls prägende Bewegungen der schweizerischen Politlandschaft waren die Autonomenbewegung der 1980er-Jahre, sowie die Frauenbewegung, die sich kurz vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts formierte.

Feministische Bewegungen

Unter Letzterer wird der organisatorische Zusammenschluss von Frauen verstanden, die zunächst für einen gleichberechtigten Bildungszugang sowie ein demokratisches Mitbestimmungsrecht kämpften. Ebenso früh wurde in diversen Frauenvereinigungen diverser politischer Ausrichtung gegen Prostitution, Armut und Alkoholkonsum angekämpft. Zudem setzten sie sich für die Professionalisierung von Frauenberufen wie beispielsweise Pflegerin ein. 1890 gründete sich der Schweizerische Arbeiterinnenverband (SAV), die 1911 zum ersten Mal den internationalistischen Frauentag[9] feierten. Ziel war das Frauenstimmrecht, sowie Wöchnerinnenschutz, Verbesserung der Arbeitsbedingungen, sowie Aufnahme in die Krankenkassen. Bald schloss sich der Verband dem SGB und der SP an. In der Folgezeit gab es in den urbanen Zentren, Berufsgruppen sowie aufgrund geteilter Interessen wie dem Frauenstimmrecht mehrere Verbände und Vereinigungen, die für ihre Sache kämpften. Dieses jahrzehntelange beharrliche Kämpfen trug viele Früchte: Nicht zuletzt die Einführung des Frauenstimmrechts 1971.

Die 68er-Bewegung veränderte die Frauenbewegung grundlegend. Eine der grossen Neuerungen war der Kampf gegen eine repressive Sexualmoral und der Einsatz für Abtreibungsrechte. Die zweite feministische Welle hatte auch die Schweiz erreicht. 1981 wurde die Gleichstellung von Frau und Mann in der Verfassung verankert. Der erste Frauenstreik 1991 kritisierte die mangelnde Umsetzung dieses Artikels auf zivilrechtlicher, politischer und gesellschaftlicher Ebene.[10] Langfristige Auswirkungen dieses massiven Streiks waren unter anderem die Sichtbarmachung der unbezahlten oder schlechtbezahlten Carearbeit, die Einführung der Mutterschaftsversicherung, sowie eine emanzipierte Masse an Frauen, die sich gegen die Nicht-Wahl von Christiane Brunner in den Bundesrat 1993 zu wehren wusste. Nicht erfüllt wurde die Forderung nach Lohngleichheit, weshalb diese auch eine der zentralen Forderungen des Frauenstreiks 2019 war.[11]

Gerade die Frauenbewegung hat durch den Frauenstreik 2019 und den damit zusammenhängenden Aktivitäten immens an Relevanz für den heutigen hegemonialen politischen Diskurs gewonnen. Genauso diskursverschiebend agiert seit Ende 2018 der Klimastreik für die Bekämpfung der Klimakatastrophe. Der Klimastreik, sowie der Frauenstreik (mittlerweile öfters feministischer Streik genannt) sind jeweils Teil globaler Bewegungen. Ebenso formierte sich in der Schweiz im Sommer 2020 eine Black-Lives-Matter-Bewegung, ausgelöst durch die entsprechenden Proteste nach einem erneuten Polizeimord an dem Schwarzen US-Amerikaner George Floyd im gleichen Sommer in den USA.

Zwischenfazit

Die JUSO Schweiz und ihre Mitglieder waren und sind prägende Kräfte in den zuletzt genannten, zeitgenössischen Bewegungen. Besonders beim Klimastreik, sowie beim Frauenstreik fliessen seit Beginn Know-How, Arbeitsstunden, Organisationsstrukturen und Inhalte in die Bewegungen. Nicht zuletzt waren es Impulse von JUSOs, die dazu beigetragen haben, dass sich diese Bewegungen zu diesem Zeitpunkt mit einer solchen Schlagkraft entwickeln konnten. Die JUSO hat begriffen, dass (linke) Bewegungen und damit der Druck von der Strasse auf die Institutionen essenziell ist für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Demokratie. Es ist deshalb wichtig, die Entstehungsgründe und die Entwicklungen von Bewegungen zu verstehen und eine klare Position zu ihnen zu fassen. Aus diesen Gründen widmet die JUSO Schweiz den Bewegungen ein Positionspapier.

3. Wie soziale Bewegungen entstehen: Krisen und Unzufriedenheit

Die bürgerliche Demokratie kann viele wirtschaftliche und soziale Probleme nicht lösen, da Demokratie und Kapitalismus im Kern nicht miteinander vereinbar sind. Während demokratische Prinzipien allen Betroffenen ein Mitspracherecht einräumen wollen, zielt das Privateigentum an Produktionsmitteln, welches den Kapitalismus ausmacht, auf das Gegenteil: Einzelpersonen erhalten die alleinige Entscheidungsmacht über Güter, die uns alle betreffen.
In bürgerlichen Demokratien wird die Welt in zwei Sphären aufgeteilt: Jene der Politik, in der demokratische Prinzipien gelten und jene der Privatwirtschaft, die nach kapitalistischen Mechanismen organisiert ist. Diese Trennung muss grundsätzlich bekämpft werden und verursacht zudem schwerwiegende Probleme, da das zunehmende Machtungleichgewicht in der Privatwirtschaft in die Sphäre der Politik überschwappt.
Mit zunehmender Macht des Kapitals wäre eine immer umfassendere Regulierung aller Gesellschaftsbereiche nötig geworden um das Kapital im Zaum zu halten, diese wurde von Bewegungen auch immer wieder eingefordert.

Mit dem Neoliberalismus hat sich aber ein anderer Weg durchgesetzt: Das Kapital und die freie Wirtschaft sollten mit aller Kraft von der Demokratie geschützt werden, und zwar möglichst unabhängig von den jeweiligen Regierungen und wenn nötig auch mit autoritären Mitteln.
Entgegen gängigen Behauptungen steht der Neoliberalismus nicht für einen Abbau des Staates, sondern für einen starken Staat im Dienste einer angeblich freien Wirtschaft. Ein Klima der Alternativlosigkeit wurde geschaffen, in dem viele politische Forderungen im Staat gar keinen Adressaten mehr finden. In der Konsequenz entlädt sich die Frustration und Unzufriedenheit auf der Strasse statt in Parlamentssälen.

Der Kapitalismus steckt heute in einer organischen Krise. Darunter verstehen wir eine tiefgreifende systemische Krise, die sich in Form von verschiedenen Krisen äussert, die alle miteinander verknüpft sind. Eine solche Krise bringt immer auch einen Legitimitätsverlust der politischen Machthaber*innen und Institutionen mit sich.

Wir leben heute in besonderen Zeiten: Die Nachwehen der Wirtschaftskrise von 2008 sind noch nicht vorbei und schon gleiten wir in die nächste wirtschaftliche Krise, die durch die Corona-Pandemie ausgelöst wurde. Dazu kommt die durch den Kapitalismus verursachte Carekrise, die Krise der Demokratie in vielen Ländern oder die Klimakrise, die als die grösste Herausforderung unserer Zeit betrachtet werden muss und eine Dringlichkeit des Handelns mit sich bringt.

Dieser Kontext erklärt, wieso es auch in der Schweiz seit einigen Jahren wieder vermehrt soziale Bewegungen gibt. Wie bereits erwähnt, setzen Bewegungen an diesen ungelösten Problemen – oft durch Krisen verschärft – und an der Unzufriedenheit und Lust nach Änderungen an, die daraus resultieren, an.

Die Entwicklung einer neuen sozialen Bewegung verläuft dabei immer etwa nach demselben Muster: Ein Gefühl der Unzufriedenheit oder ein materielles Problem baut sich zum Teil über Jahre auf. Irgendwann folgt darauf ein Kristallisationspunkt, welcher bei vielen Menschen das Fass zum Überlaufen bringt und dazu führt, dass sich Menschen organisieren. Dieser Kristallisationspunkt kann ein schwerwiegender Einschnitt sein, oder auch ein vergleichsweise unbedeutendes Ereignis, welches eine starke symbolische Dynamik entfacht. So zum Beispiel der Schulstreik von Greta Thunberg, welcher zum Kristallisationspunkt für zahlreiche Klimabewegungen auf der ganzen Welt wurde.

Dieser Ablauf kann durch bestehende Institutionen gefördert werden, z.B. durch handwerkliche und inhaltliche Bildung in Parteien oder durch die Verfügbarkeit von bestehenden Kommunikationskanälen, durch die sich Verbündete zusammenschliessen können, um zu ändern, was sie stört.

Wie bereits der historische Abriss oben zeigt, setzen sich in Bewegungen Aktivist*innen gemeinsam für definierte Anliegen ein und setzen diverse Druckmittel wie Aktionen, Streiks etc. zur Realisierung dieser Forderungen ein. In Bewegungen verläuft vieles auf niederschwellige Art und Weise, allem voran die Kommunikation. Nicht selten bilden heutzutage grosse Chatstrukturen, einfache Mailverteiler sowie häufige Versammlungen die Grundpfeiler der internen Kommunikation. Genauere Strukturen der Bewegung werden erst in diesen offen gehaltenen Plenen definiert, falls überhaupt.

Was danach geschieht ist je nach Art der Bewegung unterschiedlich. Basisdemokratische Bewegungen oder auch Graswurzelbewegungen kommen zusammen und definieren in Plenen oder Delegiertenversammlungen die Art des öffentlichen Auftretens (z.B. gewaltfrei, in Form von Demonstrationen), die Gewinnung neuer Mitglieder, die Kommunikationskanäle und gemeinsame Mindestforderungen. Längerfristig sind es auch diese Orte, wo Grundsteine für die Ausarbeitung einer gemeinsamen Vision sowie eines Bildungsprogrammes festgelegt werden. Die Gruppen, die sich jeweils mit der Ausarbeitung dieser Strukturen beschäftigen, sind nicht fix. Es ist praktisch zu jedem Zeitpunkt möglich einzutreten und mitzumachen. Hierarchische Strukturen werden gemieden, nicht zuletzt auch um den Zulauf an Menschen zu bewältigen. Allerdings ist es eine Realität, dass bestimmte Bewegungsmitglieder durch starkes Engagement und Präsenz an Einfluss und Macht gewinnen können und somit zwangsläufig versteckte Hierarchien innerhalb von Bewegungen entstehen. Dieses Umstands muss sich die Bewegung bewusst sein und offen mit dieser Situation umgehen. Es ist jedoch naiv, zu denken, dass diese Hierarchien ganz und gar vermieden werden können. In gewissen Fällen kann ihre Bekämpfung sogar dazu führen, dass sehr präsente Aktivist*innen eine Bewegung verlassen, was die Bewegung lähmen kann. Zudem können informelle Hierarchien dazu führen, dass vor allem jene Menschen Macht erhalten, welchen unsere Gesellschaft traditionell viel Autorität zuspricht, etwa weisse heterosexuelle cis Männer aus einer privilegierten Situationen in Bezug auf finanzielle Mittel oder Bildung. Das ist zwar auch in gewählten Strukturen ein Problem, aber angebliches ngebliches fehlen von Hierarchien kann auch die explizite Förderung von diskriminierten Gruppen verhindern, die sonst z.B. durch Quoten erreicht wird.

In hierarchisch aufgebauten Bewegungen, wie beispielsweise jene der Coronaskeptiker*innen, sind viele dieser Aspekte bereits vordefiniert. Von Anfang an treten mehr oder minder charismatische und nicht selten autoritär angehauchte Anführer*innen auf und definieren die Ausrichtung der Bewegung. Dies geschieht gleich auf mehreren Ebenen. Einerseits wird der Rahmen der Bildung klar vorgegeben: Einschlägige Artikel und Videos werden geteilt und die Köpfe der Bewegung richten ihre Worte an die Masse. Andererseits präsentieren sich diese Anführer*innen quasi von Beginn an als offizielle Wortführer*innen einer Bewegung und definieren so die Ziele und die erlaubten Mittel dieser im öffentlichen Diskurs. Es ist aber auch in hierarchischen Bewegungen durchaus möglich, dass diese Köpfe wechseln, dass sich Inhalte verändern und dass neuen Mitglieder Möglichkeiten der Partizipation offenstehen.

Vielen Bewegungen gemein ist, dass sie generell weniger klare Strukturen, und selbstständiger agierende Teilnehmende aufweisen und dynamischer und weniger träge sind als Parteien. Dies fusst einerseits in den weniger klaren Organisationsstrukturen und damit auch unklarerem Rahmen des Möglichen und Erlaubten. Andererseits zeigt sich da der viel tiefere Verpflichtungsgrad der Aktivist*innen. Sie können ausserdem jederzeit wieder aus Bewegungen verschwinden oder neu einsteigen. Bei Parteien braucht es dazu einen offiziellen Ein- oder Austritt und Organisationsstrukturen werden generell von bezahlten und/oder mandatsverpflichteten Personen aufrechterhalten.

Diese genannten Eigenschaften machen Bewegungen sowohl agil als auch aktuell und bedeuten in der Kehrtwende oft ihr Verschwinden. Wie bereits der historische Abriss eingangs des Papiers aufgezeigt hat, geschieht es deshalb nicht selten, dass Bewegungen in Vereinen, Parteien, Gewerkschaften oder anderen Organisationsstrukturen aufgehen. Gerade deshalb kann die JUSO nicht als Bewegung betitelt werden, auch wenn sie im Vergleich zur SP um einiges schneller zu agieren vermag, einen niederschwelligeren Zugang bietet und über ein breiteres Spektrum an Aktionsformaten verfügt.

Zum Schluss dieses Abschnittes bleibt anzufügen, dass zeitgenössische Bewegungen wie der Klimastreik, der feministische Streik wie aber auch die Coronaskeptiker*innenszene kaum mehr isoliert in einem Land vorkommen, sondern jeweils Teil einer globalen Massenbewegung unterschiedlichen Ausmasses und Verbreitung sind. Diese Superstruktur weist durchaus eine bestimmte Vernetzung, sowie den Willen dazu auf, generell findet der internationale Austausch nur punktuell statt und bestimmende Organisationsstrukturen sind quasi nicht vorhanden.

4. Progressive vs. reaktionäre Bewegungen

Neben den unterschiedlichen Organisationsstrukturen weisen zeitgenössische Bewegungen auch unterschiedliche Motivationsgründe auf. Grob können sie deshalb in progressive oder reaktionäre Bewegungen unterteilt werden. Gleich zu Beginn sei hier erwähnt, dass progressive Bewegungen nicht gezwungenermassen basisdemokratisch sein müssen und umgekehrt. Allerdings ist dies in der Mehrheit der Bewegungen der Fall.

Progressive Bewegungen streben Veränderungen an, die über Unterdrückungssysteme wie den Kapitalismus oder das Patriarchat hinaus weisen oder zumindest einen Schritt in diese Richtung machen, indem Symptome dieser Systeme bekämpft werden. Zum Beispiel fordert jetzt den Klimastreik einen «System Change». Beim feministischen Streik stellen Forderungen wie das Ende der Lohnungleichheit oder die Anerkennung der Care-Arbeit vielleicht nicht direkt das Patriarchat oder den Kapitalismus in Frage, doch diese Probleme sind klar Konsequenzen dieser Systeme und ihre Bekämpfung und das Bewusstsein, das sich daraus ergibt, sind wichtige Schritte in Richtung der Vernichtung dieser Systeme.

Reaktionäre Bewegungen ziehen in die Gegenrichtung. Wie progressive Bewegungen sind auch sie mit der heutigen Gesellschaft unzufrieden, doch sie wollen zurück zu einer oft idealisierten Vergangenheit oder kämpfen gegen Veränderungen, die für sie als unmittelbar bevorstehend erscheinen. Dies bedeutet der Erhalt von Machtverteilung und damit von Privilegien weniger – oder sogar ihre Stärkung. Breiter gesehen bedeutet das den Erhalt des Kapitalismus und anderen Unterdrückungssystemen. Als Beispiel kann man hier die französische Bewegung «Manif pour tous» erwähnen, die sich gegen die Ehe für alle, Fortpflanzungsmedizin und andere queere Forderungen stellt. Wie bei den progressiven Bewegungen deckt diese Kategorie von Bewegungen auch ein breites Spektrum ab, das bis zum tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft geht, in diesem Fall durch faschistische Bewegungen verkörpert.

Die Aktualität bietet auch ein gutes Beispiel einer reaktionären Bewegung: jene der Coronamassnahmengegner*innen. Die Akteur*innen verweigern Schutzmassnahmen und Impfungen und wollen sich Zugang zu allen Orten bewahren, obschon sie mit ihrem Handeln Menschenleben gefährden. Denn durch ihr reaktives Agieren steigt das Risiko das tödliche Virus zu übertragen massiv. Als Bewegung, welche Privilegien auf Kosten von anderen erhalten will, kann man bedeutende Teile dieser Coronaskeptiker*innenbewegung, als reaktionär kategorisieren. Diese Kategorisierung hilft uns zu verstehen, weshalb Antisemit*innen und Rechtsextreme in Bewegungen toleriert werden, welche auch eine Besserstellung und einen Erhalt der Privilegien der eigenen Gruppe fordern und anderen dabei massiven Schaden zufügen, oder diesen zumindest in Kauf nehmen.

5. Vereinnahmung von Bewegungen durch den Neoliberalismus und Astroturfing

Eine der definierenden Eigenschaften des neoliberalen Kapitalismus ist die Vereinnahmung jegliches «Ausserhalbs». Sobald eine Bewegung an Bedeutung und damit Zuspruch gewinnt, wird diese ausgehöhlt und den Menschen auf dem Präsentierteller serviert. Besonders prominent sind die Beispiele des Greenwashings oder im Zuge der queer-feministischen Bewegung des Pinkwashings. Inhalte von Bewegungen werden nicht nur als Verkaufsargumente gebraucht aber werden auch durch bürgerliche Institutionen instrumentalisiert. So versucht zum Beispiel die Armee mit einer pseudo-feministischen Argumentation mehr Frauen ins Militär zu locken und missbraucht den Feminismus so für eigene Zwecke, um den Rückgang von männlichen Rekruten und den drohenden Legitimitätsverlust auszugleichen. Diese Instrumentalisierung kann sogar weiter gehen, indem scheinbare Bewegungsstrukturen kreiert werden. Diese Erscheinung nennt sich Astroturfing. Das Astroturfing verwenden Konzerne, Think-Tanks und PR-Agenturen um gegen aussen eine Graswurzelbewegung zu simulieren. Dabei werden von diversen kontrollierten Quellen definierte Inhalte in Form von Social-Media-Posts, Leser*innenbriefen, Mails oder Blogeinträgen in die Welt gesetzt um beispielsweise die Beliebtheit eines Produkts oder die Meinung bezüglich einer Firma zu prägen. Diese Simulation einer Bewegung zeigt die Perfidität des neoliberalen Systems. Bewegungen führen politische und gesellschaftliche Kämpfe. Die Verschiebung eines Themas in die angebliche Sphäre des Privaten höhlt nicht nur politische Forderungen aus, sondern stärkt auch das schädliche neoliberale Dogma der Eigenverantwortung, welches zukünftige politische Kämpfe erschwert. Genau deswegen müssen Astroturfingversuche transparent gemacht und kritisiert werden.

6. Schlussfolgerungen der JUSO Schweiz in Bezug auf Bewegungen

Als Sozialist*innen sind wir uns bewusst, dass wir den Kapitalismus nicht mit Volksinitiativen und Vorstössen im Parlament überwinden können. Der Weg zum Sozialismus führt über die Strasse und Bewegungen sind ein unerlässlicher und zentraler Teil davon. Grosse gesellschaftliche Veränderungen geschehen nicht nur graduell, sondern oft sprunghaft, wenn Unzufriedenheiten einen Kristallisationspunkt finden und ein Klima der Hoffnung entsteht, in dem plötzlich alles möglich scheint. Als JUSO ist es unsere Aufgabe (junge) Menschen inhaltlich und handwerklich zu bilden und vorzubereiten, damit diese “Zeitfenster der Möglichkeiten” erkannt werden und nicht ungenutzt verstreichen. Deswegen müssen wir jungen Menschen eine stetige politische Heimat bieten und gleichzeitig unsere Offenheit für Aktivist*innen von Bewegungen stärken.

Basierend auf diese Analysen muss die JUSO mit Bewegungen folgendermassen umgehen:

  • Die JUSO anerkennt, dass sie keine Bewegung ist:
    • Als vergleichsweise wenig institutionalisierte Partei kann sie jedoch Verbindungen zwischen Strasse und Institutionen anbieten, indem sie an Plenen, Diskussionsabenden, Demos, Aktionen und Bildungsanlässen teilnimmt und die Forderungen auch informell weiterträgt.
    • Die JUSO Schweiz ist sich bewusst, dass sie aus der Arbeiter*innenbewegung entstanden ist und durch die feministische und ökologische Bewegung, sowie weiteren gewachsen ist. Die einzelnen Mitglieder können sich weiterhin als Teil von Bewegungen sehen und sollen diese mitprägen.
    • Die JUSO anerkennt die Vorteile, die sich aus einer Parteistruktur ergeben. Das meint klare und transparente Organisationsstrukturen, Finanzierung etc., sowie die Möglichkeit, sich parlamentarisch einbringen zu können. Gerade die Machttransparenz ist auch ein Wert, den sie über die Bildung der Mitglieder in die Bewegungen reinträgt.
  • Die JUSO analysiert regelmässig die Bewegungen und deren Dynamiken:
    • Die JUSO betreibt intern in hoher Regelmässigkeit Zeitanalysen und beobachtet bereits bestehende Bewegungen.
    • Die JUSO bekämpft die Aushöhlung von progressiven Bewegungen durch den Kapitalismus sowie reaktionäre Bewegungen. Dazu gehört auch antifaschistische Arbeit.
  • Die JUSO bildet Brücken von progressiven Bewegungen zur SP:
    • Die JUSO trägt Forderungen sowie Analysen aus ausgewählten Bewegungen in die Strukturen und Inhalte der SP.
  • Die JUSO anerkennt die Unabhängigkeit der Bewegungen:
    • Dank der unklaren parteipolitischen Zuordnung von Bewegungen sind sie auch für noch wenig politisierte Menschen zugänglich. Erst durch ihr Engagement werden sie politisiert. Diese Unabhängigkeit möchte die JUSO bewahren
    • Gleichzeitig ist es der JUSO bewusst, dass die Inhalte von Bewegungen jederzeit durch diverse Strömungen geprägt werden. Sie sieht sich als konsequent sozialistische Kraft innerhalb dieser Strukturen, die ihre antikapitalistischen Inhalte durch Diskussionen mit Aktivist*innen, Stellungnahmen in Plenen usw. in die Bewegung trägt. Dabei werden Abspaltungen rechterer Strömungen in Kauf genommen.
  • Die JUSO öffnet sich mehr gegenüber progressiven Bewegungen:
    • Die JUSO kann sich entscheiden Bewegungsgruppierungen Hilfe in Form von Bildungsmodulen, Infrastruktur oder Verbindungen anzubieten
    • Die JUSO betreibt auch intern Bildung in Bezug auf Bewegungen, deren Gründe, Inhalte, Organisationsformen und Wichtigkeit.
    • Die JUSO sucht aktiv den Austausch mit ausgewählten Bewegungen und beschränkt sich dabei nicht bloss auf die Existenz der Mitglieder, die sowieso schon in der entsprechenden Bewegung aktiv sind.
    • Die JUSO betreibt eine permanente Analyse im Vergleich zu ausgewählten Bewegungen der eigenen Geschwindigkeit, Hierarchisierung, Mobilisierungsgrad, Aktionsformen, sowie weiteren Mitteln und Formalität. Die JUSO muss von Bewegungen lernen und selbst bewegt bleiben.
    • Die JUSO betreibt eine ständige Analyse der eigenen feministischen, antirassistischen, antikapitalistischen Bildung und Inhalten.

[1] Heute leben wir in einer bürgerlichen Demokratie, in welcher viele Lebensbereiche von Mitbestimmung ausgenommen sind, insbesondere die Wirtschaft. Wenn wir von Demokratie schreiben, meinen wir damit eine radikale Demokratie, die alle Lebensbereiche umfasst. In dieser müssen alle Menschen das Recht haben mitzubestimmen bei Entscheidungen, die sie betreffen.

Wenn wir uns auf die bürgerliche Demokratie beziehen, werden wir dies explizit so benennen.

[2]Vgl. HLS: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016479/2014-02-24/ (abgerufen am 25.09.2021).

[3]Vgl. HLS: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016533/2012-08-09/ (abgerufen am 25.09.2021).

[4] Notabene alles Initiativen, die vor dem Urnengang entweder zurückgezogen wurden oder als nicht-rechtskräftig eingestuft wurden.

[5]Vgl. HSL: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027157/2010-12-21/ (abgerufen am 25.09.2021).

[6]Vgl. HSL: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016515/2012-03-27/ (abgerufen am 25.09.2021).

[7]Vgl. HSL: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017413/2017-03-20/ (abgerufen am 28.09.2021).

[8]Vgl. HSL: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017382/2020-01-06/ (abgerufen am 28.09.2021).

[9] Das war ein Vorläufer des heutigen 8. März.

[10] Vgl. HSL: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016497/2021-02-23/ (abgerufen am 29.09.2021).

[11] Vgl. HSL: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/058286/2019-06-12/ (abgerufen am 29.09.2021).